Herr Augstein, vor gut einem Jahr haben Sie die Wochenzeitung „Freitag“ übernommen, vor sieben Wochen den Online-Auftritt relauncht – wie fällt Ihre bisherige Bilanz aus? Ist der anfängliche Optimismus noch da?
Augstein: Ja, wir haben in den Monaten seit dem Kauf eine steile technische Lernkurve gehabt, weil wir den Freitag online sozusagen von Null aufgebaut haben. Und wir haben in den Wochen seit dem Relaunch eine sehr steile publizistische Lernkurve gehabt, weil wir in die Auseinandersetzung mit der Community eingetreten sind. Das war für uns alle neu und läuft jetzt noch besser, als wir es uns erhofft hatten.
Was konkret meinen Sie?
Augstein: Die Leute haben relativ schnell begriffen, worum es hier geht, nämlich in Kontakt mit der Redaktion zu treten und sich über relevante gesellschaftspolitische Themen auseinanderzusetzen. Wir haben in dieser Community praktisch keinen Bedarf an ordnenden Maßnahmen. Es gibt keinen Stress, es gibt kaum Äußerungen, die rechtlich oder moralisch nicht gehen, wir müssen nichts herausfiltern – was ich verblüffend finde. Das zeigt auch, dass das Netz inzwischen ein zivilisierter Ort ist, wo Leute ganz normal zusammenkommen und anständig miteinander reden. Natürlich fetzen die sich manchmal oder wir fetzen uns mit denen. Das finde ich dann aber auch gut, weil ich Streit mag und diesen geradezu suche.
Günter Gaus, einer der Gründungsväter des Freitag und Journalistenlegende, begriff die Zeitung als ein „Dagegen-Sein“, gegen den wachsenden Einfluss neoliberaler oder gar deutschnationaler gesellschaftlicher Strömungen im wiedervereinigten Deutschland. Ist das auch der Antrieb für Ihr Engagement beim Freitag?
Augstein: „Dagegen-Sein“, ja. Meiner Meinung nach sollten Journalisten sowieso immer grundsätzlich dagegen sein. Und für den Freitag gilt das ganz besonders, weil die deutsche Medienlandschaft heute von einer großen Einheitlichkeit geprägt ist. Die Medien haben sich sehr stark im Ton angeglichen, in der Themenwahl, auch in der Temperatur, wie sie ihren Lesern begegnen, was sie ihnen noch zumuten wollen und was lieber nicht mehr.
Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für diese Vereinheitlichungstendenz?
Augstein: Das hängt sicher damit zusammen, dass in der Mitte der Gesellschaft und auch der Lesergesellschaft die größten Potentiale sitzen. Wenn Sie Auflagen von 500.000 oder einer Million haben wollen, dann können Sie nicht zu radikal, provokant oder zu experimentierfreudig sein. Deshalb ist es vielleicht auch normal, dass „Die Zeit“ oder „Der Spiegel“ seit geraumer Zeit relativ zentristische Medienprojekte sind. Wir sind das nicht, wir werden aber auch keine Million Exemplare verkaufen. Das wollen wir auch gar nicht, weil wir eben provokanter, experimentierfreudiger, beweglicher, auch unberechenbarer sein wollen und uns bewusst gegen diesen ganzen medialen Mainstream wenden.
Was Sie als Mainstream kritisieren, könnte man das nicht auch im positiven Sinne als gesellschaftlichen Grundkonsens betrachten, wie man heutzutage über bestimmte Dinge berichtet?
Augstein: Sicher liegt in meiner Wortwahl eine gewisse Kritik, da haben Sie Recht. Mein Impuls ist aber der: Wenn alle Leute die gleiche Meinung haben, wenn alle Zeitungen das Gleiche schreiben oder die gleiche Temperatur haben, dann muss irgendjemand anderer Meinung sein, sonst läuft etwas schief. Das betrifft den Inhalt, aber vor allem auch, wie die Inhalte transportiert werden.
Und was zeichnet das Anderssein des Freitags dabei aus? Auf den ersten Blick fehlt zum Beispiel ein Wirtschaftsteil…
Augstein: Naja, wenn Sie so wollen, fehlt ganz viel, auch der Sportteil.
Ich sehe das Anderssein des Freitag vor allem bei der medialen Form. Wir sind keine reine Zeitung mehr, sondern ein Medium, das versucht, Online und Print komplett ineinander zu verschränken. Das ist tatsächlich etwas anderes, das können Häuser wie Die Zeit oder Der Spiegel auch gar nicht, weil sie dafür zu groß sind. Sie haben zu lange Traditionen und die Hierarchien sind zu vielschichtig.
Das Anderssein liegt auch darin, dass wir die Community integrieren, dass wir die User ernst nehmen und das mit ihnen gemeinsam machen. Und ich meine, wenn wir hier so viel Geld und Arbeit investieren, hat das nur Aussicht auf Erfolg, wenn wir am Ende tatsächlich anders sind.
Und wie anders ist der Freitag inhaltlich?
Augstein: Wir versuchen natürlich schon ein linksliberales Medium zu machen und in der politischen Berichterstattung andere Akzente zu setzen, andere Haltungen zu vertreten als das in den Zeitungen sonst möglich wäre. Viele Sachen, die wir über Außenpolitik, über Russland, über die Bewertung der israelischen Politik oder über die Ursachen der Krise schreiben, wären wahrscheinlich in anderen relevanten Zeitungen nicht druckbar, weil es im redaktionspolitischen Kontext nicht durchkäme. Weil da immer ein Ressortleiter oder Chefredakteur wäre, der sagt: „So was wollen wir bei uns nicht haben.“
Sie meinen, in anderen Blättern wird zu wenig Haltung gezeigt?
Augstein: Es gibt eine Reihe von Zeitungen, die heute in der Tat sehr viel haltungsärmer sind als früher. Weil sie festgestellt haben, dass man mehr Leser gewinnt, wenn man weniger Profil zeigt. Das Phänomen teilen sie übrigens mit den politischen Parteien. Warum scheuen sich denn Politiker, klare Aussagen zu machen? Weil jede klare Aussage polarisiert und sie damit die Hälfte ihrer Zuhörerschaft verlieren.
Wird sich dieser Trend auch wieder umkehren? Werden sich die Leute wieder vermehrt Medien zuwenden, die die von Ihnen geforderte Haltung zeigen?
Augstein: Das weiß ich nicht. ich glaube allerdings, dass es in unserer großen Gesellschaft immer Leute geben wird, die eine klare Ansage haben wollen. Nur, wo bekommt man die? Wo ist denn der relevante publizistische Bereich am linken Rand? Der ist komplett leer, da gibt es nichts mehr. Wir haben dort nur noch irrelevante Zeitungen wie das „Neue Deutschland“ oder die „Junge Welt“, mit denen wir uns aber nicht vergleichen, weil sie anders funktionieren und ideologisch sind. Wir sind keine Ideologen.
Aber wie wichtig ist heute die politische Orientierung nach links oder rechts für eine Zeitung? Spielt die noch eine Rolle?
Augstein: Ich glaube, dass sich diese Grenzen zwischen links und rechts in Wahrheit nicht vermischen. Sie werden nur in der Darstellung vermischt, weil die großen Institutionen zu große Potentiale in der Mitte abfischen wollen. Aber die Wirklichkeit ist anders, da gibt es diese Gegensätze ja. Da ist auf der einen Seite der Arbeiter, der seinen Job verliert und auf der anderen Seite der Banker, der seinen Millionenbonus einkassiert, egal, ob der gute Arbeit geleistet hat oder nicht. Dieser Gegensatz ist real, wie Sie dazu stehen ist eine andere Frage. Wenn Sie zum Beispiel bei der FAZ arbeiten, finden Sie das in Ordnung: Der Mann bei Opel hat halt Pech und muss dann eben umschulen und der Banker muss seinen Bonus bekommen, weil der internationale Finanzmarkt so eng ist. Aber auch da werden diese Gegensätze aufgezeigt und darum geht es mir. Weil es viele Zeitungen, Parteien und mediale Diskussionen gibt, die versuchen, diese Gegensätze zu verwischen. Wo es dann heißt: „Was soll’s, ist doch alles gar nicht so schlimm.“
Der Springer-Konzern gilt publizistisch als konservativ bis rechts. Wenn Sie nun im Freitag für die Springer-Zeitung „Welt am Sonntag“ werben, überschreiten Sie da nicht eine Grenze?
Augstein: Nein, damit habe ich überhaupt kein Problem. Wir machen hier ja keine Ideologie sondern Journalismus, das unterscheidet uns vom alten Freitag und von den Zeitungen, die jenseits dieser Grenze liegen. Ich kann mit Springer völlig entspannt umgehen, auch mit irgendwelchen Industrieunternehmen, wenn sie bei uns Anzeigen schalten würden. Ich kämpfe nicht gegen Springer, wir kämpfen auch nicht gegen die Atomindustrie. Das ist nicht unser Job, wir sind Journalisten.
Natürlich sehe ich Interessengegensätze zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber und bei so einem Gegensatz bin ich tendenziell eher auf der Seite des Arbeitnehmers. Trotzdem habe ich nichts dagegen, wenn die Industrie bei uns Werbung macht.
Glauben Sie, die Freitag-Leser sehen das genauso?
Augstein: Wir haben in den letzten Monaten sehr viele Diskussionen mit den alten Freitag-Lesern über die Neugestaltung des Blattes geführt. Und das war – ich will es gar nicht beschönigen – für viele echt schmerzhaft, einige Leser haben uns dann auch den Rücken gekehrt. Doch die überwältigende Mehrheit hat begriffen, was wir hier machen und die ziehen mit, weil sie sehen, dass wir uns politisch nicht wenden.
In Ihrer Community wird allerdings schon kritisiert, Ihre Kapitalismuskritik sei „so flach wie sonst nur die Tagesschau“. Sie sagen zwar ‚Wir wollen kein Mainstream sein’, aber jetzt wird Ihnen verstärkt vorgeworfen, dass Sie genau dorthin steuern.
Augstein: Da haben Sie Recht, aber für mich ist das ist kein Widerspruch. Sondern da gibt es eine Debatte, was ich gut finde. Die Leute sollen ja ihre Meinung äußern, die Community ist ja nicht eine Stimme, sondern eher ein Stimmengewirr. Was Sie als Problem beschreiben heißt für mich: Ich bin erfolgreich. Wir müssen hier nicht alle einer Meinung sein, das wäre ja auch geradezu gespenstisch. Den einen, den behalten Sie und der andere springt ab und sagt: „Ihr seid neoliberale Nasenbären.“ Das ist die Realität und dadurch steuert sich diese Community im Prinzip selbst, sie entwickelt ein eigenes Gleichgewicht und eine eigene Bandbreite. Da gibt es total unpolitische Leute, die sich in die Diskussionen gar nicht einmischen und es gibt Hardliner, die sagen: „Der Kapitalismus muss vernichtet werden, wo man ihn antrifft.“
Und die finden im Freitag jetzt kein Gehör mehr?
Augstein: Also, die Typen, die im Ernst finden, dass der Kapitalismus morgen abgeschafft werden muss, notfalls mit Gewalt, die werden wir verlieren. Weil sie irgendwann merken werden, dass diese Zeitung kein Rote Front-Kämpferverein ist, sondern wir uns hier auch mit Quittenlimonade von Bionade beschäftigen. Die Leute gehen dann wahrscheinlich zur „Roten Fahne“ zurück und das ist ehrlich gesagt auch gut so. Denn nochmal: Wir sind keine politische Partei.
Welche wirtschaftlichen Erwägungen hat es gegeben, als Sie den Freitag übernommen haben?
Augstein: Ich habe mir die Zahlen angesehen und dann überlegt, was ich daraus machen kann. Rein wirtschaftlich betrachtet ist das hier das klassische Verlegermodell. Da ist jemand, der sein Geld in ein publizistisches Produkt investiert und der auch will, dass es wirtschaftlich funktioniert. Ich will mein Geld wieder haben und das muss sich auch irgendwie verzinsen. Wenn Sie es allerdings streng als ökonomische Geldanlage betrachten, da würde man anderswo wahrscheinlich mehr Return auf das Kapital bekommen. Sprich, wenn Sie David Montgomery sind und 20 Prozent wollen, dann sind Sie beim Freitag falsch.
Ist man dann generell im Journalismus falsch?
Augstein: Das weiß ich nicht. Bei der Art von Journalismus, an der ich interessiert bin, sicherlich. Natürlich kann man auch Presseprodukte machen, die 20 Prozent abwerfen, aber das ist nicht mein Beruf, davon verstehe ich nichts.
Wobei auch hier die Lichter ausgehen, wenn wir kein Geld verdienen. Das ist in der momentanen Wirtschaftskrise auch nicht einfach. Andererseits sind wir so klein, dass die Krise gewissermaßen über unseren Kopf hinweg pustet. Wir hatten vorher keine Anzeigen und haben jetzt auch keine verloren. Wir haben allerdings auch keine gewonnen.
Hätten Sie auch eine Tageszeitung übernommen?
Augstein: Wenn ich dafür genügend Geld gehabt hätte und wenn eine zum Verkauf gestanden hätte, natürlich. Nur lässt sich Tageszeitung und Online viel schwieriger miteinander kombinieren, weil die Konkurrenz zu groß ist. Online und Wochenzeitung sind weiter voneinander entfernt, in ihrem Tempo, in ihrer Herangehensweise, das lässt sich sehr schön miteinander in Verbindung bringen.
Glauben Sie persönlich noch an das Medium Tageszeitung?
Augstein: In Wahrheit nicht. Ich lese jeden Tag die FAZ und bin damit sehr glücklich. Ich könnte diese Sachen aber auch online lesen.
Ist online die neue Tageszeitung?
Augstein: Ja, absolut. Dass hier das Netz im Prinzip gewonnen hat, steht für mich außer Frage.
Aber wie wird sich der Markt langfristig entwickeln? Wird im Printbereich auf lange Sicht mehr tiefgründiger Magazin-Journalismus stattfinden, während das Internet schnell und kurz die nötigen Informationshappen liefert?
Augstein: Ich lehne Aussagen über die Zukunft grundsätzlich ab. Aber wenn ich jetzt wetten müsste, würde ich sagen: Ja, es wird genauso laufen. Die Tageszeitungen machen meiner Meinung nach jetzt schon keinen Sinn mehr, weil auf den ersten zwei, drei Seiten nur Nachrichten stehen – das ist völliger Schwachsinn! Ich kenne auch niemanden, der das in Wahrheit für klug hält. Doch die Leute, die das machen, können sich offenbar nicht davon lösen. Weil sie auch kein anderes Konzept haben.
Wochenzeitungen und Magazine betrifft das dagegen überhaupt nicht, für Blätter wie den Spiegel und Die Zeit sehe ich auf absehbare Zeit keine Gefahr, denn das kollidiert überhaupt nicht mit dem Internet. Sie können im Hochglanzdruck super Bilderstrecken machen, wie in „Geo“ oder „Stern“ – das wird es immer geben. Aber ich wüsste nicht, warum es die Süddeutsche in zwanzig Jahren noch geben soll.
Tageszeitungen machen jetzt schon keinen Sinn mehr, weil auf den ersten Seiten nur Nachrichten stehen – das ist völliger Schwachsinn!
Und was ist mit der Bild-Zeitung?
Augstein: Die wird es noch geben. Jeden Tag eine Bild, das macht total Sinn, weil das Boulevard ist, großflächig, flashig, das kriegen Sie nur mit Papier hin. Die kaufen Sie für kleines Geld, blättern sie einmal durch und stecken sie dann in die nächste Mülltonne.
Vom journalistischen Standpunkt her: Muss es die Bild immer geben?
Augstein: Ja, ich bin ein großer Freund von Boulevard. Ich finde das wichtig und richtig und ich bedaure, dass es in Deutschland keine linke Boulevardzeitung gibt. Früher kam die „Münchner Abendzeitung“ dem etwas näher, auch die „Hamburger Morgenpost“. Aber die haben nicht genug Kraft gehabt.
Bräuchte die Bild dann aber nicht wenigstens ein paar ethische Standards? Richtlinien für sauberes journalistisches Arbeiten?
Augstein: Ich glaube, dass es diese Standards sehr wohl gibt. Sie werden immer wieder getestet und gedehnt und manchmal übertreten. Aber, dass es sie gar nicht gibt, kann man so nicht sagen.
Ich bin auch grundsätzlich dafür, dass mehr Radikalität in der Presse stattfindet, dass mehr an Grenzen gegangen wird. Das Sicherheitsdenken, auch das ethische Sicherheitsdenken hat für mich einen extremen Nachteil: Nämlich, dass einem die Füße einschlafen und sich alle dahinter verstecken. Was meinen Sie, wie viel Leute ihre Angst und ihre Trägheit hinter solchen Argumenten verstecken? Ich finde, man sollte bestimmte Sachen auch mal ausreizen.
Aber wenn man sich zum Beispiel die Berichterstattung über den Fall Winnenden anguckt, was dort den Angehörigen der Opfer von Seiten der Presse angetan wurde, das können auch Sie nicht gut heißen, oder?
Augstein: Die Frage ist wahnsinnig schwer zu beantworten. Wenn Sie mich als Mensch fragen, als Bürger, Vater oder Ehemann, dann bin ich Ihrer Meinung, dann heiße ich das nicht gut. Als Leser und auch als Journalist würde ich aber sagen: Das ist unvermeidbar und in Wahrheit auch gar nicht so schlecht, dass es das in unserer Gesellschaft gibt.
Natürlich ist da manches schief gelaufen. Wenn Sie zum Beispiel den Pressekodex verletzen und sich bei Leuten Zutritt verschaffen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, um Informationen zu kriegen, das darf man alles nicht machen.
Das wird doch aber konstant gemacht…
Augstein: Nein, das stimmt so nicht. Ich lese die Bild-Zeitung jeden Tag und ich muss Ihnen sagen, dass die heute ganz anders ist als noch vor zehn Jahren. Sie war früher viel, viel schlimmer. Wir sind doch alle total verweichlicht, wir trauen uns im Grunde gar nichts mehr! Wir sind so verhaftet in diesem Sicherheits- und Versicherungsdenken, in Gesetzen, da wird sofort die Polizei, der Staatsanwalt und der Presserat geholt usw.
Also war die Bild Ihrer Meinung nach früher zwar schlimmer, aber deswegen besser?
Augstein: Ja, das ist tatsächlich meine Meinung. Ich finde härteren Boulevard, so wie er in England praktiziert wird, besser. Dazu stehe ich.
Welchen Nutzen hat die Gesellschaft vom Boulevard?
Augstein: Ich glaube, dass ich über das, was tatsächlich in der Gesellschaft los ist, aus der Bild-Zeitung mehr erfahre als aus der Süddeutschen. Dort erfahre ich vielleicht etwas über Parteien und Verbände, aber in der Bild-Zeitung lese ich dafür etwas über das Arbeitsleben der Leute oder über merkwürdige Beziehungssituationen. Das könnte die Bild sicher auch noch besser machen, der Boulevard müsste generell noch viel besser sein.
Ich bin ein großer Freund vom Boulevard, weil ich glaube, dass er genau dahin geht, wo die ganzen arrivierten Journalisten nicht mehr hingehen. Und im Unterschied zum normalem Journalismus wendet sich der Boulevard wirklich an die Leser. Bei der Süddeutschen und der FAZ sind die ersten Seiten nicht für die Leser geschrieben, sondern nur für Parteien, für Verbände und für andere Journalisten. Das ist ein Hauptproblem des Journalismus, er entfernt sich von den Menschen und bleibt in einem selbstreferentiellen System hängen. Genauso wie das politische Berlin. Die Politiker sind nur an sich selbst interessiert, denen sind die Leute draußen total egal, sie kennen und erleben die auch gar nicht mehr. Sie fahren mit ihren klimatisierten Autos durch die Stadt und kriegen das alles gar nicht mehr mit.
Die Bild ist also näher dran, an der Lebensrealität in Deutschland?
Augstein: Ich will mich jetzt nicht gar nicht so in die Bild-Zeitung verbeißen. Worum es mir geht, ist diese Art von Journalismus, das Boulevardeske. Da ist ein Stück Ehrlichkeit und Authentizität drin, die rough und tough ist, auch riskant ist, die mir aber letztlich immer noch lieber ist als dieser glattpolierte, total überprofessionalisierte, sich nach allen Seiten absichernde Journalismus eines Parlaments-Korrespondenten, der nur in seiner eigenen Welt lebt, nicht mehr rausgeht und nicht mit den Leuten redet. Ich bin ja selbst Reporter gewesen, kein politischer Korrespondent. Und Reporter arbeiten im Prinzip alle so wie Bild-Zeitungsleute.
Sie haben als Reporter zum Beispiel wunderbare Gerichtsreportagen geschrieben, in denen Sie menschliche Schicksale beschreiben, Verbrechen verständlicher machen, niemand vorverurteilen – das ist doch der absolute Gegensatz zu dem, wie die Bild berichtet.
Augstein: Ja, das stimmt. Ich bin ja aber auch nicht bei der Bild-Zeitung. Trotzdem verbindet mich mehr mit einem Bildzeitungs-Reporter als mit einem, der nur an seinem Tisch sitzt, sich Gedanken macht und das dann in einer großen Zeitung erscheint.
Ich habe sehr großen Respekt vor Leuten, die rausgehen und an einer Tür klingeln, wo sie vorher noch nie waren und sagen: „Guten Tag, ich komme von der XY-Zeitung, darf ich Sie mal etwas fragen?“ Das müssen Sie erstmal drauf haben, das ist gar nicht so einfach.
Dann nehmen wir noch mal das Beispiel Winnenden: Zwei Stunden nach dem Amoklauf klingelte ein Boulevard-Reporter an der Haustür des Vaters einer getöteten Schülerin und fragte nach Fotos von ihr. Ist es das, was Sie so erstrebenswert finden?
Augstein: Das ist eine schreckliche Frage, die Sie stellen. Sie ist nur widersprüchlich zu beantworten. Wenn ich der Vater wäre, der Nachbar oder auch nur ein normaler Bürger, wäre ich angeekelt von der Geschichte, so wie Sie offensichtlich davon angeekelt sind. Ich fände es widerlich. Gleichzeitig finde ich es aber von der Zeitung und von den Journalisten her richtig, das zu machen.
Über Fälle wie Winnenden oder Amstetten wurde überall berichtet – welche Themen werden in Deutschland Ihrer Meinung aber noch zu sehr vernachlässigt?
Augstein: Ein Thema, das ich ganz klar für vernachlässigt halte, ist die Arbeitsrealität. Das, was für die meisten Leute 60 oder auch 75 Prozent ihrer wachen Zeit ausmacht, findet in Zeitungen fast gar nicht statt. So, als gäbe es das gar nicht – eine völlig wahnsinnige Situation! Sie wissen alles über die Verbände, über die Parteien, über Barack Obama. Aber Sie wissen nicht, wie es in einer ganz normalen deutschen Maschinenfabrik zugeht. Das weiß kein Mensch, niemand!
Weil es keine Quote macht?
Augstein: Keine Ahnung. Der Betrieb lässt Sie als Journalisten nicht rein, oder der Arbeitnehmer redet nicht mit Ihnen, weil er Angst um seinen Job hat. Diese Recherchen sind sehr mühsam und wenn dann einmal eine Geschichte kommt, wie über „Lidl“ im „Stern“, dann bekommt die sofort Preise, völlig zu Recht, weil das ein riesiger Aufwand ist. Doch so etwas wie bei Lidl passiert natürlich in allen Betrieben immerzu. Nur kriegt das keiner mit, weil niemand es aufschreiben kann. Das können wir vom Freitag auch nicht, denn die investigative Kraft haben wir gar nicht. Das kostet Geld und Zeit, das können wir uns nicht leisten.
Welcher Artikel wurde denn zuletzt am häufigsten geklickt auf freitag.de?
Augstein: Die Frage kann ich momentan nicht beantworten, weil wir die Statistik-Tools noch nicht haben. Ich weiß auch nicht, ob ich sie beantworten würde, weil es eine gefährliche Frage ist. Ich weiß noch nicht, wie wir damit umgehen wollen. Wir können jedenfalls nicht die Gestaltung der Online-Seite nach den Klickzahlen machen, das geht auf keinen Fall.
Sind Klickzahlen eine Gefahr für den Journalismus?
Augstein: Ja, klar, unbedingt. Sie sind auf jeden Fall gefährlich, weil Sie damit einen täglichen Copytest haben. Als ich noch bei der Süddeutschen Zeitung war, wurde immer geflüstert: „Wenn es nach dem Copytest ginge, müsste man das Feuilleton einstellen, weil das eh keiner liest.“ Glücklicherweise wurde das aber immer weiter erhalten, es ist für die Zeitung meiner Meinung nach auch total wichtig.
Wobei Sie vorhin noch so für den Bild-Journalismus schwärmten, der sich am Leser, also auch an der Quote orientiert.
Augstein: Ja, da erwischen Sie mich jetzt in meiner Gespaltenheit. Natürlich habe ich als Angehöriger einer Bildungsschicht auch Partikularinteressen, die ich sozusagen nur in einem Blumenbeet befriedigt sehe, wo nicht der kalte Wind des Marktes drüberwehen darf, weil sonst alle Blumen sofort vertrocknen. Deshalb ist die klassische Zeitung auch etwas Schönes, weil sie im Feuilleton solche kleinen Inseln des Irrsinns bereithält.
Werden diese Inseln so auch im Internet existieren können?
Augstein: Da die Onlinemedien nicht über den gleichen ökonomischen Hintergrund verfügen wie die Printmedien wird es mit diesen Partikularinteressen schwierig. Die alte Zeitung, wie wir sie kennen, basierte ja auf einer Art Solidarmodell, wo ein Ressort das andere mitfinanziert hat. Das bricht im Internet auseinander, wenn die eine Seite keine Lust mehr hat, auf die Wirtschaftsseite zu gehen und die andere Seite glücklich ist, sich nicht mehr die Feuilletonartikel angucken zu müssen – das gesamte System funktioniert plötzlich nicht mehr. Und dafür hat bisher niemand eine Lösung.
Auch nicht der Freitag?
Augstein: Unsere Lösung ist, dass wir eine Abo-Zeitung sein wollen und mit dem Print-Produkt versuchen, Geld zu verdienen. Dafür brauchen wir aber das Internet und die Community. Wir brauchen das Netz, dort werden wir bekannt und attraktiv, damit die Leute die Zeitung überhaupt kaufen. Das ist im Moment die einzige Idee, die ich zu dem Thema habe.
Zeitungen, so sagen Sie, gründen ihren Einfluss auf ihre Größe, finanzielle Kraft, ihre Tradition und Reputation, weil sie Institutionen sind. Wie schafft man Institutionen im Netz?
Augstein: Sie müssen im Print noch versuchen, das Geld zu verdienen, gleichzeitig müssen Sie aber das Netz schon genauso ernst nehmen wie Print. Denn das Netz wird ökonomisch immer wichtiger, irgendwann ist die Zeitung auch nur noch ein Anhängsel des Netzes.
Aber allein im Netz lässt sich noch keine Institution schaffen?
Augstein: Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Weil Sie im Netz die Relevanz nicht haben, es nimmt Sie buchstäblich keiner ernst. Sie kriegen zum Beispiel bei keinem Politiker einen Interview-Termin, wenn es nur im Netz erscheint. Wenn Sie dagegen sagen: Hier, das ist unsere Zeitung, das ist unser tolles Layout, das gibt es jetzt übrigens auch an 15.000 Verkaufsstellen im Land und kostet 2,90 Euro, dann sieht die Lage schon ganz anders aus.
Sind diese Leute Ihrer Meinung nach also noch ein wenig hinterm Mond?
Augstein: Nein, ich finde es richtig, dass das so ist, ich verstehe es auch. Das ist ja eine Entwicklung, diese Leute sind noch anders sozialisiert. Ich weiß nicht, wie das mit meinen Kindern sein wird, vielleicht brauchen die später kein Papier mehr, um Relevanz zu spüren. Sie können den Leuten ja nicht sagen: „Das ist jetzt relevant“, sondern das ist eine Frage der Empfindung. Und da muss man reinwachsen.
Stichwort Relevanz: Welche Rolle kommt zukünftig den Bloggern zu?
Augstein: Also, ich war vor kurzem auf der „Re:publica“, wo ich mich auch mit einigen unterhalten habe. Das war ganz merkwürdig, denn die sollten doch eigentlich in ihrem Denken ganz vorne sein, aber die haben so geredet, als wären sie noch ganz hinten. Ich habe dort im Podium gesessen und die Leute gefragt: „Angenommen, ihr tragt bald das ganze Gewicht der vierten Gewalt, wenn jetzt die gesamte klassische Presse den Bach runter gehen sollte, wie von manchem prophezeit – seid ihr darauf vorbereitet? Habt ihr die Disziplin, habt ihr die Reife und die Professionalität dazu, könnt ihr das?“ Darauf bekomme ich keine befriedigende Antwort, weshalb ich denke: Oh Gott, bitte gib uns noch ein bisschen Zeit und lass die Zeitungen nicht so schnell sterben, weil sonst das Feld brach liegt. Wenn Don Alphonso und Sascha Lobo diejenigen sind, die diese Lücke in Zukunft ausfüllen sollen, dann kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch!
Wie ist das bei Ihnen mit dem Verantwortungsgefühl, das Sie als Medienmacher haben, kommt das ein Stückweit auch von Ihrem Vater?
Augstein: Nein, glaube ich nicht.
Gibt es nicht bestimmte Ideale Ihres Vaters, die Sie versuchen weiterzutragen?
Augstein: Nein, da gibt es nichts, außer bestimmte Allgemeinplätze: Dass wir hier einen Job machen, der in der Gesellschaft eine wichtige Funktion hat, dass wir unabhängigen und kritischen Journalismus brauchen.
Anders gefragt: Was glauben Sie, welchen Rat würde Ihnen Ihr Vater heute geben?
Augstein: Das weiß ich nicht. Er war am Ende auch schon sehr alt und die Entwicklung mit dem Netz hat er nicht mehr so wahrgenommen.
Ich denke, dass die Leute seiner Generation die Aufgabe des Journalismus sehr gut verstanden und ausgefüllt haben. Und seit es freie Presse gibt hat sich an dieser Aufgabe ja nichts geändert. Nur die Art und Weise, wie man den Job macht, verändert sich.
Hat Ihr Vater Ihnen früher denn viele Ratschläge gegeben? Haben Sie viel von ihm gelernt?
Augstein: Nein. Ich habe damals andere Sachen gemacht, ich war bei der Süddeutschen Zeitung in München, das ist von Hamburg weit weg, auch kulturell – da gab es wenig Berührungspunkte.
Zum Schluss: Wo steht der Freitag in fünf Jahren?
Augstein: Ich habe mir dafür jetzt noch keine Formel zurechtgelegt. Aber wir wollen auf jeden Fall relevant sein. Wir wollen das modernste Medium sein, was die Verbindung von Online und Print angeht und wir wollen im publizistischen Spektrum den linksliberalen Rand besetzen. Und natürlich wollen wir auch wirtschaftlich erfolgreich sein. Denn das hier ist für mich kein Goodwill-Projekt. Es gab Leute, die mir geschrieben haben: „Danke, dass Sie den Freitag unterstützen“. Denen habe ich geantwortet: Entschuldigung, aber das ist ein Missverständnis. Ich unterstütze den Freitag nicht. Ich investiere!
Ein Schwätzer vor dem Herrn!
Is klar: „Kein Mensch weiß, wie es in Betrieben zugeht“, aber dass es total viele Fälle wie bei Lidl gibt, das weiß der Knabe. Und, dass „Banker“ ihre „Millionen-Boni“ ohne Leistung bekommen, weiß er auch. Woher denn? Das wäre dann wie in der UdSSR, da kam es auch nicht auf Ergebnisse, sondern auf Linientreue an und dafür wurde man von der Partei belohnt. So etwas gibt es in der Freien Wirtschaft eher weniger, denn da muss ein Unternehmen Geld verdienen, auch eine Bank. Wenn einer leistungslos Millionen kassiert, dann ja wohl der Springer-Erbe, der ein Viertel an der Illustrierten „Der Spiegel“ hält.
Er ist halt ein seichter Schwätzer!