Jakob Hein

Tierfilme und Wiener Schnitzel

Jakob Hein über Genuss mit und ohne Nachdenken, Massentierhaltung, Vegetarismus, Männlichkeit und wie er seine Arzt-und Autorentätigkeit miteinander verbindet

Jakob Hein

© Katharina Behling

Herr Hein, der Namensgeber Ihres Verlags, Ferdinando Galiani, hat einmal gesagt: „Der Mensch ist da, um zu genießen und zu leiden: Wir wollen also genießen, und wenn möglich, nicht leiden. Das ist unser Los.“ – Wie wichtig ist Ihnen Genuss?
Hein: Ich bin nicht der klassische Genussmensch, würde aber diesem Zitat insofern zustimmen, dass ohne Genuss dass Menschliche am Leben total sinnlos ist. Wenn wir uns selber nur noch als Tiere betrachten, die ihre eigene Existenz möglichst marktoptimiert verwerten, kommt uns das Menschliche abhanden. Ich bin sehr für Genuss, aber eher wie so ein preußischer Beamter, der ganz akribisch einen Stempel auf eine Genussgenehmigung setzt. Ich genieße oft zu wenig, halte es aber trotzdem für wichtig und schön.

Ihre Satire „Wurst und Wahn“ spielt in einer Zeit, in der „ständig über die Spuren gesprochen wird, die man auf dem Planeten hinterlässt“ – kann man in so einer Welt eigentlich noch genießen?
Hein: Ich finde es eine interessante Frage, inwieweit Genuss ohne Nachdenken echter Genuss ist. Für mich ist es das wenig. Natürlich kann man zum Beispiel ein Steak von Panda-Embryos, vollendet mit Zwiebeln und Koriander, genießen, sich diesem Geschmack einfach mal hingeben. Aber ich bin sehr für Genuss mit Nachdenken, weil es mir sonst sehr falsch erscheint. Man kann sich auch ein unheimlich schönes Leben mit einer Vielzahl von tollen Frauen machen, während man seine Ehefrau und die Kinder vernachlässigt, das kann man genießen. Man kann es aber auch hinterfragen.

Sie sehen den Betrug der Ehefrau und das Essen von Fleisch auf einer Ebene?
Hein: Es ist insofern vergleichbar, als dass man sich selbst betrügt, wenn man sagt: „Ich lasse es mir einfach mal gut gehen, nach mir die Sinnflut, ich will nicht so viel drüber nachdenken, denn wenn man drüber nachdenkt ist ja nichts mehr in Ordnung.“ Das ist mir als Denkmodell ein bisschen zu platt, ich finde es gut, wenn man ein bisschen weiterdenkt. Und natürlich kann das Genießen mit Nachdenken viel nachhaltiger und freudvoller sein.
Ich finde zum Beispiel Essen ohne Fleisch viel unanstrengender. Wenn Gemüse mal verdirbt, stinkt es nicht so entsetzlich wie verdorbenes Fleisch und wenn ich es wegschmeiße ist es auch völlig in Ordnung. Wenn mir ein Dal Tarka nicht gelingt weil die Linsen nicht in Ordnung waren, dann muss ich es eben wegschmeißen. Wenn mir aber ein Hühnchen misslingt weil ich zu viel Salz dran habe, finde ich das schon problematisch, das in den Müll zu werfen. Denn für dieses Hühnchen wurden vom Hersteller ja schon vier oder fünf Hühnchen weggeschmissen, und ich reihe mich da jetzt noch ein. Das ist schon etwas komplizierter.

Gibt es noch Produkte oder Lebensmittel die Sie konsumieren, ohne sich über Herkunft und Produktionsumstände Gedanken zu machen?
Hein: Ich achte bei Gemüse nicht so sehr drauf, oder wenn ich manchmal Schokolade kaufe. Das ist mir dann auch zu anstrengend, nachzugucken, ob irgendein Schokoladenproduzent ganz schlimme Dinge macht. Wenn ich in der Zeitung lese, dass es eine deutsche Schokoladenfirma gibt, die ihre Angestellten besonders fair behandelt, klar, dann kaufe ich auch sehr gerne von denen.

Warum wird heute viel mehr über Fleischkonsum diskutiert als, sagen wir, vor 40 Jahren?
Hein: Zum einen war die Küche vor 40 Jahren einfach noch nicht so weit. Es war schwer, Olivenöl zu bekommen, mediterrane Kräuter hatten sich noch nicht so durchgesetzt, frisches Gemüse gab es nur saisonbedingt, Tofu war glaube ich weitgehend unbekannt… Insofern war das auch richtig und konsequent, dass Fleisch mit auf dem Speisezettel stand.
Zum anderen hat sich die Fleischproduktion in den letzten 50-60 Jahren massiv und auf übelste Weise verändert. Die Kühe muhen nicht mehr auf dem Acker und die Schweine, die nach 60 Tagen geschlachtet werden, sind in ihrem Leben nicht einen Schritt gegangen. Selbst wenn man die befreien würde, könnten sie gar keinen Schritt mehr gehen.

Doch bis vor 15-20 Jahren wurden diese Zustände kaum thematisiert. Wie ist das ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt?
Hein: Ich glaube, dass es den entsprechenden Konzernen lange gelungen ist, das alles geschützt und behutsam im Dunkeln zu halten. Nur verhält es sich damit wie mit der Gülle, die ja tatsächlich dabei entsteht: irgendwann ist so viel Gülle unter der Decke, dass hier und da Blasen hochspritzen. Die Industrieproduktion ist so hemmungslos geworden, dass quasi im Halbjahresrhythmus Skandale produziert werden und die Menschen sich zunehmend fragen: Wo kommt das denn her? Warum gibt es Schweinegrippe? Warum EHEC? Warum gibt es synthetischen Öle in Tierfutter, was sind Tierfuttermischfette? Das Bewusstsein dafür wächst.
Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass wir heute – nach dem angeblichen „Ende der Geschichte“ – stärker konfrontiert sind mit einer Verantwortung für die Welt, in der wir leben. Das zeigt sich an der Debatte um CO2 und Klimaveränderung und nun kommt auch das Thema Fleisch hinzu.

Spielen auch die zunehmenden Forderungen nach Transparenz eine Rolle, die die Gesellschaft an Unternehmen stellt?
Hein: Die Wahrheit ist ja, dass zahlreiche Unternehmen, auch die Tierproduktionsunternehmen, immer intransparenter geworden sind und mit unglaublichen Mitteln dagegen vorgehen, dass ihre Methoden veröffentlicht werden. Dafür bauen die dann einen Potemkinschen Bauernhof, wo man die Kühe muhen sehen kann, ein leckeres Schnitzel und eine Souvenirtasse bekommt – und dahinter stehen diese Massentierställe, wo man heute sagt ‚unter 15.000 Schweine lohnt sich das finanziell nicht mehr’ und wo die vier Mitarbeiter im Grunde genommen nur noch die Computer warten. Da erlebe ich keine stärkere Transparenz. Allerdings sind die Plattformen, auf denen man so etwas diskutieren kann, breiter geworden. Man kann sich mit Leuten vernetzen und man kann Filme über diese Tierhäuser ins Internet stellen.

In der ARD war vor kurzem eine Reportage über die Firma Wiesenhof zu sehen…
Hein: Das ist ein gutes Beispiel, Wiesenhof hat dagegen geklagt und versucht, die Ausstrahlung zu verhindern.

Aber das Unternehmen kündigte nach der Ausstrahlung an, Konsequenzen zu ziehen und Mitarbeiter zu entlassen.
Hein: Die haben irgendeinen über die Klinge springen lassen und behaupten, die 40 Milliarden Hühnchen, die sie im Jahr produzieren, seien in Ordnung, nur hätten die Reporter leider genau den einzigen Subunternehmer erwischt, bei dem es nicht in Ordnung war.

Sie glauben nicht an eine Besserung im System der Massentierhaltung?
Hein: Nein, der Konsumdruck ist einfach zu groß. Solange die Leute ein Kilo Fleisch für 3 Euro kaufen und es noch lieber für 2,50 Euro haben wollen, solange ist der Druck des Marktes und die Verlockung des Profits so groß, dass man da nichts machen kann.

Aber nimmt nicht die Zahl der Bio-Märkte ständig zu?
Hein: Ich glaube, das ist kein wirkliches Flächen-Phänomen. Vielleicht gelingt es den Bio-Märkten irgendwann, fünf Prozent von dem Segment zu bespielen. Das ist dann eine Korrektur, die ganz in Ordnung ist, doch sie beeinflusst nicht die Umsätze von Discountern und den sogenannten Vollsortimentern. Da muss man sich keinen großen Illusionen hingeben.

In „Wurst und Wahn“ gibt es nur noch wenige Fleischesser, Supermärkte bieten Fleisch nur noch in abgetrennten Bereichen an. Nun konnte man Anfang des Jahres im „Spiegel“ eine Prognose des Zukunftsforscher Matthias Horx lesen, der tatsächlich die Zeit kommen sieht, in der Fleisch „nur noch in geheimen Restaurants zu horrenden Preisen verzehrt werden wird“.
Hein: Das halte ich für Unsinn. Aber ich komme ja auch aus der Medizin, ich bin Empiriker, insofern habe ich sehr häufig Probleme mit Zukunftsforschern.

Sie glauben nicht daran, dass irgendwann weniger Fleisch konsumiert wird, die Leute zum Beispiel nur noch sonntags Fleisch essen?
Hein: Nee. Ehrlich gesagt glaube ich das nicht. Solange es möglich ist, so billig Fleisch zu produzieren, solange die Leute das kaufen und haben wollen und sich weiter in diesem Nichthingucken wohlfühlen, wird das nicht passieren.

Würden Sie sich beim Thema Massentierhaltung ein größeres Engagement der Politik wünschen?
Hein: Es gibt bereits viele Gesetze, aber es gibt auch Anlass zu der Vermutung, dass diese häufig umgangen oder ausgehölt werden. Dass man zum Beispiel in einen Hühnerstall eine winzige Klappe reinbaut, durch welche die Tiere dann theoretisch ins Freie gehen könnten, um dann von „Freilandhühnern“ zu sprechen. Da sollte man schon drauf gucken.
Prinzipiell glaube ich nicht an das Potential des Gesetzgebers, zur Änderung der moralischen Verfasstheit der Gesellschaft beizutragen, da bin ich sehr skeptisch. Ich glaube nicht, dass der Gesetzgeber den Leuten vorschreiben sollte oder kann, was sie zu denken haben oder wie sie es für sich entscheiden sollen.

Doch in Bezug auf die Massentierhaltung…
Hein: Auch an der Stelle sehe ich den einzelnen Bürger in der Pflicht. Jedem, der schon mal auf dem Land war, muss klar sein, dass man nicht sinnvoll ein Kilo Fleisch für 2,50 Euro produzieren kann. Das ist einfach evident. Und da soll jeder für sich entscheiden, ob er das weiterhin möchte. Wenn die Bürger es so wollen, dann kann man nicht einfach nach dem Gesetzgeber rufen und sagen: „Verbietet die Billigtierproduktion!“ Der Gesetzgeber ist an der Massentierhaltung an sich ja nicht schuld, sondern der einzelne Bürger, der sagt, ich möchte noch billigeres Fleisch haben, und das drei Mal täglich.

Also werden die Zustände in der Massentierhaltung noch lange Bestand haben, weil der Bewusstseinswandel in der Bevölkerung noch lange brauchen wird.
Hein: Ich fürchte ja. Wobei ich gar nicht glaube, dass die Menschheit diesen Wandel ihres Denkens noch selbst überleben wird.
Diese neue Tierethik, wie sie zum Beispiel Peter Singer prononciert – das ist schon richtig so. Doch davon sind wir heute ganz weit weg und wir bewegen uns mit sehr hoher Geschwindigkeit in eine völlig andere Richtung. Nicht nur was die Tiere, sondern auch was uns Menschen betrifft.

Zitiert

Die Tierproduktionsunternehmen sind immer intransparenter geworden und sie gehen mit unglaublichen Mitteln dagegen vor, dass ihre Methoden veröffentlicht werden.

Jakob Hein

Wie meinen Sie das?
Hein: Nehmen Sie die Drohnen-Technologie, die gerne zur Kriegsführung eingesetzt wird, die berühmten „chirurgischen Schläge“ im zweiten Irakkrieg, oder auch das anonyme Sterben im Krankenhaus, dass niemand mehr Tote sieht. Der Umgang mit Behinderung, mit von Behinderung gefährdeten Kindern, wo man versucht, das ganz früh rauszufinden, um es wegzumachen. Oder dass manche Leute schon davon abkommen zu glauben, dass jemand, der in Arabien geboren ist, ein ebenso umfassendes Lebensrecht hat wie jemand, der in Westeuropa geboren ist.
Wenn ich mir all das angucke halte ich es für so wahnsinnig unwahrscheinlich, dass die Leute irgendwann mal ein Bewusstsein dafür bekommen, dass ein Huhn auch ein Lebensrecht hat. Ich bin ja dafür – aber ich glaube nicht daran.

Sie sind Facharzt für Psychiatrie. Ist das Verhältnis der Fleischesser zum Tier schizophren?
Hein: Nein, nicht nach psychiatrischer Definition, es ist nicht getrieben von einem wahnhaften Gedanken. Emil Kraepelin hat einmal den Begriff des „Spaltungsirreseins“ eingeführt und der Begriff der Schizophrenie entstand aus der Idee, dass das Zwerchfell gespalten aussieht, es hat zwei Kuppeln mit Muskeln und in der Mitte ist ein Bandapparat.  „Schizo“ heißt geteilt und „phren“ atmen. Aber niemals meinten Psychiater – die ihre Patienten ja früher noch viel besser kannten als heute – damit diesen ganzen Jekyll-und-Hyde-Quatsch. Man meinte, dass die an der Realität sich befindende Wahrnehmung des Patienten sich auflöst und einer wahnhaften psychiatrischen Realität Platz macht.
Aber dieser Begriff des Schizophrenen hat eine schlimme Inflation erlebt, in der Psychiatrie spricht man daher immer häufiger von Psychosen, weil man mit diesem Begriff fast nicht mehr arbeiten will.

Ich meinte mit schizophren den einfachen Umstand, dass wir Hunde streicheln, aber Schweine essen.
Hein: Das ist eine klassische Abspaltung, dass man sozusagen verschiedene Lebenswelten abspaltet. Das ist normalerweise etwas Gesundes, dass man sich auf der Arbeit nicht so benimmt wie im Umgang mit seinen Kindern, dass man immer auch Teile der eigenen Realität woanders hintun kann, wenn sie an dem Ort, wo man sich gerade befindet, nichts zu suchen haben. Wenn jemand Tiere liebt, aber auch pausenlos Tiere isst, ist das allerdings schon eine sehr umfassende Abspaltung.

War das einer der Punkte, die Sie zum Fleischverzicht bewegt haben?
Hein: Ja, wenn mich jemand fragt, warum ich kein Fleisch esse, antworte ich: Weil ich gerne Tierfilme sehe. Und ich gucke wirklich gerne Tierfilme. Letztendlich geht das ja nicht zusammen: Wenn man es so irre findet, wie irgendwelche Vögel sich ihre Hütten bauen oder wie Schweine im Sozialverhalten miteinander sind, dann lässt sich ein Wiener Schnitzel damit nur schwer unter einen Hut bringen.

Halten Sie bei Diskussionen zu diesem Thema Ihren Freunden auch dieses Argument vor?
Hein: Ich halte niemandem Argumente vor, nie. Das ist ja meine persönliche Entscheidung. Aber ich erzähle schon, dass ich das für widersprüchlich halte, klar.

Jonathan Safran Foer, Autor des Buches „Tiere Essen“, sagte kürzlich in einem Interview, Fleischverzicht sei sexy. Finden Sie das auch?
Hein: Keine Ahnung. Ist Bauchatmen dann auch sexy? Das sind verschiedene Grundfunktionen, das eine ist Essen, das andere ist Sex.
Ich kann das jetzt nur umgekehrt betrachten und mich fragen, ob das Essen von totem Muskelfleisch so wahnsinnig sexy ist. Ich war bei der Lesung von Karen Duve und Jonathan Foer und ich war schon sehr angetan davon, wie unglaublich gut viele der dort zuhörenden Menschen aussahen. Das hatte nichts mehr mit dem schluffigen Öko-Image zu tun, wie es jahrelang gepflegt wurde.

Dennoch schreiben Sie in „Wust und Wahn“ – gewiss überzeichnet – dass der Fleischverzicht mit Potenzverlust einhergeht.
Hein: Genau, das ist ein Vorurteil, dem man begegnet, dass das Nicht-Essen von Fleisch irgendwie unmännlich sei. Man kann jetzt nicht so genau sagen, warum, aber das wird immer so angedeutet.

Von wem?
Hein: Mir ist das oft begegnet, vor allem wenn man mit Männern essen geht, Fleischessen gilt als wahnsinnig männlich. Es gibt sogar ein ganzes Magazin für männliches Essen, das heißt „Beef“, da sind dann Kochrezepte für Männer drin. Da ist Fleisch so das „Richtige“. Ich finde das lustig. Mir hat das auch geholfen, auf die Frage, warum die Vegetarismus nicht so cool finden, lustige Antworten zu finden und Phantasien darüber zu entwickeln.

Aber Sie als Mediziner und Empiriker wüssten wahrscheinlich, wenn es für dieses Vorurteil ernstzunehmende Gründe gäbe.
Hein: Ja, aber das ist alles Unsinn. Um ihr Fleischessen zu rechtfertigen sind die Leute halt sehr aktiv, das kann man ja auch verstehen. Auch die Industrie wird sicherlich Einiges von ihren Millionenprofiten da reinstecken. Die gehen dann über die Studien der verschiedenen Ernährungsgewohnheiten hinweg und greifen sich von der veganen, der frutarischen oder sonst wie-Ernährung immer die negativen Fakten heraus, um am Ende zu sagen: „Passt bloß auf, wenn ihr auf Fleisch verzichtet, kann dies und das passieren, wir haben hier die Ergebnisse.“ Aber dann verschweigen sie oft, dass hier diese und dort jene Ernährungsfehler gemacht wurden. Ich persönlich erlebe meine fleischfreie Ernährung jedenfalls als völlig reichhaltig und unbeschwert.

Wie viel von Ihrer Arbeit als Arzt haben Sie eigentlich bisher für Ihre Bücher genutzt?
Hein: Ganz wenig. Das sind zwei verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Meine Patienten haben das Recht, dass sie nicht zu Subjekten meiner literarischen Ambitionen werden und ich will in meiner Literatur nicht meinen Arbeitstag fortsetzen.

Gibt es trotzdem Schnittstellen zwischen Publizieren und Therapieren?
Hein: Die einzige Schnittstelle, die mir einfällt, ist mein Gehirn. Das hängt alles mit mir zusammen, aber wie und wo genau kann ich ganz schwer sagen.

Beschäftigt man sich – als jemand der in der Psychiatrie arbeitet – auch besonders viel mit der eigenen Psyche?
Hein: Ja, ich glaube, das ist schon so. Wenn man Facharzt für Psychiatrie oder Kinderpsychiatrie werden möchte, muss man eine Psychotherapie-Ausbildung machen. Und in dieser Ausbildung ist eine Selbsterfahrung verpflichtend.
Ich glaube aber auch, dass man sich als Autor noch viel mehr mit seiner eigenen Biografie beschäftigt als man das als Psychotherapeut mindestens machen muss, durch den Schreibprozess und die Suche nach den eigenen Unzulänglichkeiten.

Wie kriegen Sie die Arbeit in Ihrer Praxis mit dem Schriftstellerdasein unter einen Hut?
Hein: Ich schreibe halt am Wochenende oder im Urlaub, so einfach ist das.

Und den Gedanken, eines von beidem aufzugeben, gab es bislang nicht.
Hein: Nein, ich schreibe und arbeite als Arzt seit 1998. Wenn jetzt irgendwann ein böse Fee kommt und mich zwingt, mich für eins zu entscheiden, dann wird es eng. So wie es im Moment ist, fühle ich mich sehr wohl.

Sie bloggen momentan auch sehr häufig.
Hein: Ja, ab und zu…

Sind Sie jetzt auch Journalist?
Hein: Nein. Wobei, so wie ich das betreibe, lerne ich immer mehr über Journalismus, das ist auch sehr spannend. Aber ich weiß nicht, ob ich mich jetzt als Journalist bezeichnen würde. Die IG Medien sagt ja, ich selber bin da noch sehr skeptisch.

Sie sind als Arzt auch Suchtexperte – was ist Ihre Droge?
Hein: Gute Frage… Ich trinke häufiger Alkohol. Und wenn es gesundheitsneutral wäre würde ich tonnenweise rauchen.

Muss man als Suchtexperte eigentlich die Wirkungen von Drogen selbst erlebt haben?
Hein: Meiner Meinung nach ist das völlig unwichtig. Man sollte natürlich wissen, wo man steht in Bezug auf Drogen und Abhängigkeiten. Aber ich halte es für völlig unwichtig, die Wirkung von all den Drogen ausprobiert zu haben. Ich kenne diese Idee, dass man auch alle Psychopharmaka mal genommen haben soll, aber das lehne ich ab. Man verlangt von einem Chirurgen ja auch nicht, dass er sich mal die Gallenblase rausnehmen lässt, damit er weiß, wie sich das anfühlt.

Gibt es noch andere Süchte, Dinge, von denen Sie abhängig sind?
Hein: Emotional brauche ich auf jeden Fall meine Familie. Von ihr fühle ich mich abhängig, auf eine positive Art. Das ist das, worauf ich stehe.

Sind bei Ihnen zuhause inzwischen alle Vegetarier?
Hein: Nein, mein großer Sohn probiert im Moment, nur einmal pro Woche Fleisch zu essen. Und mein jüngerer versucht, so viel Fleisch wie möglich zu essen. Das ist aber ok für mich.

Letzte Frage: Ihr Lieblingswort aus Ihrem Album alter Jugendsprache?
Hein: „Bordsteinschwalbe“ finde ich sehr lustig. Aber ich mag eigentlich alle Wörter darin, deswegen habe ich die ja gesammelt.

Jakob Hein (*1971 in Leipzig) studierte Medizin in Berlin, Wien, Stockholm und Boston. Von 1998 bis 2011 arbeitete er in der psychiatrischen Klinik der Berliner Charité, bevor er eine eigene Praxis eröffnete. 2001 erschien sein literarisches Debüt mehr

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