Jan Henrik, wann hast du dich das letzte Mal so richtig über die Gesellschaft aufgeregt?
Stahlberg: Das letzte Mal habe ich mich über Roland Koch und seine Erfindung der jüdischen Vermächtnisse aufgeregt. Das fand ich sehr problematisch und deshalb haben wir ihn auch namentlich in unserem Film erwähnt.
Neben Roland Koch findet auch Dieter Bohlen und die "Verdieterbohlisierung der Gesellschaft" ihren Platz in "Muxmäuschenstill"…
Stahlberg: Ja, Dieter Bohlen mit seiner übermäßigen Fernsehpräsenz ist einfach unerträglich und ich denke, wir kritisieren ihn alle, aber in "Muxmäuschenstill" auf eine ganz besondere und wesentlich schärfere Weise, als es sonst der Fall ist.
Was macht die Schärfe dieser Kritik aus?
Stahlberg: Ich denke man merkt, dass wir es mit der Kritik sehr, sehr ernst meinen und dass sie erklärt: wenn Dieter Bohlen bereit ist zu sagen "Ich bin stolz ein Arschloch zu sein", dann lasst ihn uns auch so behandeln.
Weiß Dieter Bohlen denn bereits von eurer Schelte? Gab es erste Reaktionen von seiner Seite?
Stahlberg: Ich denke mal, dass er das irgendwann mitkriegen wird, aber ich weiß ja nicht, ob der gute Bohlen gerne ins Kino geht. Ich denke, da müssen wir einfach abwarten …
Er könnte euch ja wegen Beleidigung anzeigen …
Stahlberg: Wenn er uns anzeigt, kann uns das nur helfen. Juristisch sind wir da auf jeden Fall auf der sicheren Seite und ich persönlich habe auch keine besondere Angst vor Herrn Bohlen!
Du bist Drehbuchautor und Hauptdarsteller in "Muxmäuschenstill" und hast mit "Mux" einen selbsternannten Weltverbesserer geschaffen, der, unterstützt durch den Ex-Langzeitarbeitslosen Gerd, seiner Umwelt wieder Ideale und Verantwortungsgefühl anerziehen möchte und in einen beispiellosen Kampf gegen Schwarzfahrer, Graffity-Sprayer und Ladendiebe zieht, dabei aber schließlich selber zum Gesetzesbrecher wird. Inwiefern kann man Mux, zumindest vom Ansatz her, als eine Art Prototyp für den rebellierenden, mobilmachenden und dennoch gesellschaftsverdrossenen Bürger der heutigen Gesellschaft sehen?
Stahlberg: Ich sehe in unserer Gesellschaft nichts Aufstehendes und Rebellierendes, deswegen ist "Mux" da eher die Ausnahme. "Mux" wendet sich einer Problematik zu, die wir alle sehen und teilen können, nämlich die Ideenlosigkeit und Utopielosigkeit unserer Zeit. Aber die Art und Weise wie "Mux" dagegen vorgeht ist in keiner Art und Weise legitim und deswegen ist er auch ein Psychopath und soll auch insofern nicht problematisiert werden, als würden wir den Leuten raten, sich so wie "Mux" zu verhalten. Davon sind wir weit entfernt!
Aber der Ansatz von "Mux" ist schon wünschenswert, oder?
Stahlberg: Dieser Film ist insofern aufgebaut, dass es da eine Meinung der Filmemacher und die Meinung von "Mux" gibt und dazwischen eine Schnittmenge. Das interessante ist, dass wir "Mux" im Film weder beurteilen noch verurteilen und deshalb ist es eine große Herausforderung an den Zuschauer, sich sein eigenes Bild zu machen. Ich denke aber, dass sie gerne angenommen wird, weil eben die Message, das Einkneifen des Zeitgeistnervs, der Punkt ist, an dem sich "Mux" und die Filmemacher treffen und der Film so eine große aktuelle Brisanz bekommt.
Wie sahen die bisherigen Reaktionen der Zuschauer auf den jeweiligen Filmfestivals aus?
Stahlberg: Es gab sehr viele Reaktionen und darunter auch viele positive. Viele Zuschauer fühlten sich von "Muxmäuschenstill" angesprochen und diskutierten nach der Vorstellung über den Sinn dieses Films und darüber, ob "Mux" nun Recht hat oder nicht. Genau das wollten wir erreichen und wir freuen uns über dieses bisherige positive Feedback.
Gegen Ende seines moralischen Feldzuges sprüht "Mux" einem Graffity-Sprayer Farbe ins Gesicht, zwingt eine Kaufhaus-Diebin dazu sich einen gestohlenen BH vor seinen Augen anzuziehen … Warum lässt du "Mux", dessen Intention ja verständlich ist, so ins Extreme abdriften?
Stahlberg: "Mux" ist immer extrem, hochautoritär und terroristisch und gerade dadurch auch so gefährlich. Jemand der das Gewaltmonopol des Staates aufkündigt und sagt: "Ich kann dich mit der Waffe zwingen, das zu tun, was ich will!" ist geistesgestört und krank. Wir haben mit "Mux" jemanden, der sehr ambivalent und schwer zu fassen ist, eben weil er so verschiedene charakterliche Facetten besetzt und auf den ersten Blick gar nicht mal so unsympathisch wirkt.
Könnten aber die teilweise extrem realistisch dargestellten Szenen nicht auch einen großen Nachahmeffekt haben?
Stahlberg: Ich rechne nicht mit Nachahmungstaten, da wir "Mux", meiner Meinung nach, ganz klar demontieren und uns von ihm distanzieren. Man kann natürlich nie sicher sein, wie der Zuschauer ein Kunstwerk aufnimmt, aber das konnte Martin Scorsese bei "Taxi Driver" auch nicht wissen. Was ich an "Taxi Driver" aber sehr schätze ist, dass ich für meinen Teil erkenne, dass Scorsese mit "Taxi Driver" keine Hommage an die alten Vietnam-Veteranen gefilmt hat und ihnen erklärt: "Leute, ballert alle jemanden um, wenn euch danach ist!" Wir sehen, wie krank dieser Typ ist und wie brutal das gewesen sein muss, was er in Vietnam erlebt hat, aber das rechtfertigt seine späteren Taten in keiner Weise.
Wenn Dieter Bohlen bereit ist zu sagen "Ich bin stolz ein Arschloch zu sein", dann lasst ihn uns auch so behandeln.
Für "Muxmäuschenstill" hast du nicht nur das Drehbuch geschrieben, sondern auch gleich die Hauptrolle übernommen. Wie war es beim Schreiben für dich, sich in die Gedankenwelt eines Psychopathen hinzuversetzen?
Stahlberg: Ich denke, wenn es ein pathologischer Fall wäre, hätte ich sicherlich Sekundärliteratur benutzt, um zu sehen, warum diese und jene Menschen so geworden sind und auf welchem Trauma dieses Verhalten basiert. Da "Mux" aber eine Kunstfigur ist, war es nicht nötig sich psychologisch in ihn hineinzuversetzen, da "Mux" ja nicht aus psychologischen Motiven heraus so handelt, sondern intellektuell merkt: "So geht’s nicht weiter! Ich muss da etwas ändern!" Das finde ich auf der einen Seite nachvollziehbar, auf der anderen Seite aber auch sehr altmodisch und komisch.
Welche Vorteile bringt es mit sich, wenn man sich eine Rolle selber auf den Leib schreiben kann?
Stahlberg: Es hat den konkreten Vorteil, dass man sich den Text selber in den Mund gelegt hat. Soll heißen, die Figur spricht so, wie ich das auch sprechen wollen würde und ich habe vor dem Spielen der Rolle diese Figur schon sehr gut kennen gelernt und bin ihr sehr nahe. Diese Methode lässt, wenn sie denn gewünscht ist, eine große Authentizität zu. Ich bin über ein Jahr mit "Mux" schwanger gewesen und habe sehr viel über ihn gelernt, bin allerdings auch sehr oft von ihm überrascht worden, weil ich eben durch das Spielen Seiten an ihm kennen gelernt habe, die ich vorher nicht kannte. Das war sehr spannend!
Fiel es dir schwer dich nach den Dreharbeiten zu "Muxmäuschenstill" von der Rolle zu verabschieden?
Stahlberg: Nein, obwohl es natürlich sehr viel Spaß gemacht hat und "Mux" eine Rolle war, die ich sehr gerne gespielt habe, ist es jetzt auch okay den "Mux" beiseite zu legen und aufgeschlossen für neue Rollen zu sein.
Die Idee zu "Muxmäuschenstill" kam dir im Jahre 2000, als du in der Berliner S-Bahn einen Langzeitarbeitslosen beobachtet hast, der an jeder Station von seiner Zeitung hochsah, um zu sehen, ob ein Kontrolleur den Zug betreten hatte. In der damaligen Situation kam dir der Gedanke: "Was wäre wenn, wenn man von dem Typen jetzt einfach mal den Fahrschein verlangen würde?" Hast du ihn gefragt?
Stahlberg: Nein, natürlich nicht! Ich beobachte sehr oft verschiedene Menschen und lasse mich dann in Filmen und Theaterstücken oder beim Schreiben eines Drehbuches davon inspirieren. Wir haben aber während den Dreharbeiten zu "Muxmäuschenstill" immer großen Wert darauf gelegt, dass wir niemals echte Menschen überführen, sondern nur mit Laiendarstellern arbeiten und alles täuschend echt inszenieren. Ich habe damals in der S-Bahn nie diesen Fanatismus gespürt, diesen Typen jetzt anzusprechen. Ich bin ja kein Psychopath, sondern ich spiele das nur im Film.
Stell dir einmal vor, du würdest beim Schwarzfahren von "Mux" erwischt werden. Wie würdest du reagieren?
Stahlberg: Ich würde tun was er will, da ich weiß, dass er eine Waffe hat. Ich hoffe aber, dass es ihn nie geben wird, da ich selber sehr oft schwarzgefahren bin in meinem Leben und immer froh war, dass ich dabei nie einem Menschen wie "Mux" begegnet bin.
Unter der Regie von Marcus Mittermeier und Produzent Martin Lehwald wurde "Muxmäuschenstill" an 25 Drehtagen komplett auf DV-Band gefilmt, für nur 40000 Euro produziert und ab dem 8.Juli 2004 läuft er nun bundesweit in den Kinos – klingt wie Traum, der wahr geworden ist, oder?
Stahlberg: Ja, es kommen seit den ersten Vorstellungen auch viele Filmemacher zu mir und sagen, unser Film hätte ihnen Mut gemacht und ihnen gezeigt, dass man eben auch noch mit wenig Geld gute Filme machen kann. Wir haben anscheinend das Glück, den Zeitgeist getroffen zu haben und viele Menschen finden sich in dem Film wieder, eben weil er so "political uncorrect" und provozierend ist.
Während der Produktion gab es diverse Pannen, so türmte wenige Tage vor Drehbeginn euer Ausstatter mit seinem kompletten Material, da er Probleme mit der Steuerfahndung hatte. Habt ihr ihn je wiedergesehen?
Stahlberg: Nein, aber das ist auch nicht so schlimm, weil wir ihn gar nicht richtig kannten und auch kein freundschaftliches Verhältnis zu ihm aufgebaut hatten. Viel schlimmer war, dass er einen Tag vor Drehbeginn abgehauen war und wir ab diesem Zeitpunkt große Angst um unseren Film hatten.
Wie habt ihr das Problem gelöst?
Stahlberg: Wir haben dann ziemlich schnell einen neuen Ausstatter gefunden und alles konnte in geregelten Bahnen weiterlaufen. Ein viel größeres Problem hätten wir allerdings gehabt, wenn unsere Castingfrau Astrid Rosenfeld abgesprungen wäre. Sie hat ganz fantastische Arbeit geleistet und innerhalb kürzester Zeit über 500 Komparsen gecastet und für die Dreharbeiten vorbereitet. Das war einfach unglaublich!
Gab es einen weiteren Moment an dem ihr, aufgrund der höchst unsicheren Produktionsumständen, kurz davor wart das Projekt abzubrechen?
Stahlberg: Nein, aber es gab Momente an denen alle Beteiligten am Rande der Belastbarkeit waren, da wir eben wenig Geld zur Verfügung hatten und uns somit auch keine lange Drehzeit erlauben konnten. Neben dem ganzen Stress hat es aber natürlich auch sehr viel Spaß gebracht!
Würdet ihr aufgrund der jetzt gemachten Erfahrung noch einmal einen Film auf diese Weise produzieren?
Stahlberg: Definitiv ja, denn ich denke, jeder Film sollte so gedreht werden wie er von der Geschichte her am besten erzählt werden kann. Wenn ich zum Beispiel eine Geschichte habe, die 16mm erfordert, hoffe ich, dass ich dann auch die Möglichkeit bekomme, diesen Film mit dieser Technik zu produzieren.
"Muxmäuschenstill" war die Sensation beim Max-Ophüls Filmfestival und ihr wurdet gleich mit vier Auszeichnungen (u.a. Publikumspreis) bedacht. Darüber hinaus seid ihr nun in der Kategorien "Bester Film" und "Bester Nebendarsteller" (Fritz Roth) für den Deutschen Filmpreis 2004 nominiert gewesen. Da wird jetzt wahrscheinlich eine große Popularität auf euch niederregnen, oder?
Stahlberg: Ich hoffe es sehr! Ich bin aber zum Beispiel auch sehr gespannt, wie die Leute, die dieses Interview im Internet lesen, reagieren werden und ob sie Lust bekommen, sich den Film im Kino anzusehen. Das ist alles eine ganz spannende Sache, aber was die Zuschauerzahlen angeht sind wir auf jeden Fall sehr optimistisch. Wir haben einen Publikumspreis gewonnen und Publikumspreise sind für mich sowieso immer am wertvollsten. Letztendlich wird die Frage aber erst nach dem Kinostart beantwortet werden können.
Was ist an neuen Projekten in der Zukunft geplant?
Stahlberg: Das neue Projekt von Marcus Mittermeier und mir heißt "Shortcut to Hollywood" und wir werden wohl nächstes Jahr mit den Dreharbeiten beginnen. Ich habe bei diesem Projekt, dass sichtlich an die Tradition von "Muxmäuschenstill" anknüpfen wird, sogar Drehbuchförderung bekommen und insofern hat sich da schon vieles zum Positiven verändert.