Frau Žbanic, der Jugoslawien-Krieg ist Bestandteil von vielen Ihrer Film- und Kunstarbeiten: ist das für Sie mehr eine persönliche Verarbeitung der Ereignisse oder ist es Ihr Bedürfnis, die Menschen damit zu konfrontieren?
Žbanic: Ich wollte schon mein ganzes Leben lang Künstlerin werden, das wäre ich also auch geworden, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte. Ich habe dieses innere Bedürfnis, mich irgendwie auszudrücken, bestimmte Dinge anzusprechen, die passiert sind. Und natürlich hat es mich und meine Themen beeinflusst, dass ich während des Krieges in Sarajevo gelebt habe.
Ihr Film „Esmas Geheimnis“ thematisiert die Vielzahl von Vergewaltigungen während des Jugoslawien-Krieges in Bosnien. Hatten Sie Angst, sich diesem Thema anzunähern?
Žbanic: Ja, ich habe das Drehbuch mehrfach zur Seite gelegt, weil ich dachte: Ich kann das nicht – zumal ich in der Zeit selbst Mutter geworden bin. Es war auch sehr schwierig für mich, all diese Berichte über die Vergewaltigungen zu lesen, was Frauen dort ausgesagt haben. Aber ich bin trotzdem immer wieder zum Drehbuch zurückgekehrt, es war mir wichtig, weiter zu machen.
Hatten Sie auch Angst vor den Reaktionen, die Ihr Film in Ihrer Heimat auslösen würde?
Žbanic: Nein, darüber habe ich habe mir keine Gedanken gemacht, auch wenn ich bestimmte Reaktionen natürlich irgendwie erwartet habe.
Wie waren denn bisher die Reaktionen?
Žbanic: Die waren an verschiedenen Orten sehr unterschiedlich. In Bosnien wurde der Film sehr gut angenommen. Aufgrund des Goldenen Bären waren alle Leute sehr gespannt, dank der Auszeichnung hat der Film ein großes Publikum gefunden. Und der Film hat glaube ich auch sehr viele Leute emotional berührt.
In Serbien bekamen wir sehr schlechte Presse, was mit meiner Rede auf der Berlinale zu tun hatte, wo ich gesagt habe, dass noch immer viele Kriegsverbrecher auf freiem Fuß sind und verhaftet werden müssen. Schon bevor der Film gezeigt wurde, gab es viele böse Stimmen, vor allem gegenüber der Hauptdarstellerin Mirjana Karanovic. Deswegen habe ich auch auf Vorführungen in Belgrad bestanden, damit die Leute sehen konnten, dass dies kein anti-serbischer Film ist, wie es in der serbischen Presse dargestellt wurde. Und wir haben bis heute noch das Problem, dass der Film nicht in Banja Luka, in der Republika Srpska gezeigt werden kann, weil der dortige Kinobetreiber befürchtet, dass Radikale sein Kino zerstören oder das Publikum angreifen.
Die Reaktionen zeigen, wie offen die Wunden des Krieges immer noch sind, und wie viele Emotionen mit dem Konflikt nach wie vor verbunden werden. Wie weit ist auf der anderen Seite der Dialog?
Žbanic: Der Dialog zwischen den Menschen hat begonnen, es gibt viele Leute, die gegen den Krieg waren, und für die es auch gar keine Frage war, dass dieser Krieg falsch war. Aber leider werden die Leute durch die offizielle Politik getrennt, der Krieg wurde ja gewissermaßen von außen erzwungen. Das Friedensabkommen von Dayton wurde unter der Aufsicht der USA in einem unfertigen Zustand verabschiedet, die Kriegsverbrecher sind immer noch auf freiem Fuß. Die Republika Srpska ist ja infolge eines Genozids entstanden ist, wo Menschen, die nicht serbisch waren vertrieben und ermordet wurden. Die Verantwortlichen für diesen Genozid sind aber nie bestraft worden. Dies wird aber gebraucht, weil warum sollten sich Generationen dafür schuldig fühlen, was ein paar Idioten getan haben? Deshalb muss gesagt werden, wer diese Gräueltaten begangen hat, und die Menschen, die nichts getan haben, die sollten ihr normales Leben zurückbekommen.
Wenn ich nun fordere, dass die Kriegsverbrecher verhaftet werden müssen, wird das wie eine Attacke auf die Serben interpretiert, was es aber überhaupt nicht ist. Ich habe die Serben auch nie in meinem Film erwähnt. Die Hauptfigur Esma wurde von einem „Tschetnik“ vergewaltigt, was eine offizielle Bezeichnung für Faschisten ist. Mir ging es nicht darum, die Serben zu attackieren.
Gab es eigentlich Männer, die die Vergewaltigungen zugegeben haben, die Reue gezeigt haben?
Žbanic: Es gab Männer, die vom internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag verurteilt wurden, die dies gestanden haben und die zehn oder zwölf Jahre bekommen haben. Aber seit sie verhaftet worden sind, kommt kein Journalist und kein Filmemacher an sie heran. Ich denke, einige von ihnen haben sich schuldig bekannt um eine geringere Strafe zu erreichen. Aber vielleicht gibt es auch welche darunter, die wirklich sagen, dass sie etwas falsches getan haben. Mich interessiert das sehr. Allerdings habe ich so eine Täterfigur nicht in meinen Film eingebracht, weil ich immer dachte: ich muss meine Figuren lieben. Und ich weiß nicht, ob ich genügend Liebe aufbringen könnte gegenüber so einer Person, ich weiß nicht, ob ich so jemanden verstehen könnte.
Im Film trifft Esma auch auf einen ‚guten’ Mann, zu dem sie eine Art Liebesbeziehung entwickelt.
Žbanic: Ja, Esma ist nicht ganz hoffnungslos, was Männer anbelangt. Wobei viele dieser Frauen nicht fähig sind, mit Männern zu kommunizieren. Auch Esma ist da vorsichtig, sie ist sehr verletzbar in einer Beziehung. Sie ist aber in ihrem Kopf immer noch eine Frau und fühlt sich immer noch von Männern angezogen. Für mich bedeutet das, dass es bei ihr noch Bereiche gibt, die der Krieg nicht zerstört hat, die sich noch entwickeln können. Insofern habe ich diese männliche Figur gerne an ihre Seite gestellt habe, weil das sagt viel aus über Esma und ihre Beziehung zur Zukunft.
Wie muss man sich heute die Situation, die Atmosphäre im ehemaligen Jugoslawien vorstellen?
Žbanic: Wir haben ja in Ex-Jugoslawien einen sehr krassen Übergang erlebt, vom Sozialismus zu einem sehr wilden Kapitalismus. In Bosnien ist das besonders offensichtlich, viele staatliche Betriebe wurden plötzlich von Kriegsgewinnlern und von Kriminellen gekauft. Viele Arbeiter in den ehemals staatlichen Betrieben wurden daraufhin von den neuen privaten Eigentümern entlassen – insofern ist es ein schwieriges Leben, es herrscht ein sehr raues Klima. Das sieht man auch in dem Nachtklub, in dem Esma arbeitet, der Symbole dieses wilden Kapitalismus zeigt, diese Manneskraft, Frauen, die wie Puppen benutzt werden, die große Wildheit und primitive Emotionen…
Sehen Sie das auch als Folgen des Krieges?
Žbanic: Für mich besteht da definitiv eine Verbindung zum Krieg. Dieser Krieg wurde ja nicht begonnen aufgrund von Hass zwischen den Menschen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Ich akzeptiere diese Erklärung nicht, dass es 100 Jahre lang Hass in Ex-Jugoslawien gegeben hätte, das stimmt einfach nicht.
Wenn ich über wilden Kapitalismus spreche, dann meine ich die Wirtschaft, die den Krieg hervorgerufen hat und die ihn dann auch verlängert hat. Wenn man heute die Kriegsverbrecher verhaften würde, dann könnte man auch dieses gesamte System der Kriegsgewinnler offen legen. Was auch zur Folge hätte, dass viele Menschen die heute in den Regierungen in der Republika Srpska, in Serbien und in Bosnien sitzen, auch ins Gefängnis gehen müssen. Aus diesem Grund halten uns die Politiker geistig in diesem sehr engem Raum der Nationen. Wir sollen nicht miteinander kommunizieren können und auch nicht herausfinden, dass wir und unsere Emotionen von ihnen benutzt worden sind.
Der Hass unter den verschiedenen Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien war Ihrer Ansicht also etwas künstlich hervorgerufenes?
Žbanic: Ich denke, es kommt beim Hass immer darauf an, ob man ihn provozieren will oder nicht. Man kann die Leute immer manipulieren, ihnen einreden, Angst zu haben vor anderen Nationen. Und diese Manipulation war bei uns sehr stark.
Wir hatten den Sozialismus, mit dem Ein-Parteien-System, mit einem einzigen Führer über viele Jahre, da wurden in der Bevölkerung keine kritischen Geister erzogen. Die Leute wurden dazu erzogen, alles zu akzeptieren, was ihnen im Fernsehen erzählt wurde. Und so wurde es auch lange Zeit vorbereitet, dass die Serben Angst haben sollten vor den Kroaten und umgekehrt. Das wurde vorbereitet für die Trennung von Jugoslawien, da wurden Ängste geschürt und Hass provoziert. Dieser Ansicht bin ich auch deswegen, weil ich selbst ja immer mit Serben zusammenarbeite und mit Kroaten. Und wir hassen uns gegenseitig überhaupt nicht.
Wie gestaltet sich heute die Situation für Filmemacher in Ihrer Heimat?
Žbanic: Sehr schwierig. Wir haben in Bosnien zum Beispiel keine 35mm-Kameras, keine Labore und es ist – wie soll ich sagen – fast absurd, überhaupt einen Film zu machen. Aber wir machen es.
Die Zukunft liegt dabei vor allem in Koproduktionen, wie es auch bei „Grabavica“ der Fall war. Es gibt ein Labor in Zagreb, eine 35mm-Kamera in Serbien … – insofern ist es schon möglich, einen Film zu drehen. Und mit jedem Film-Erfolg verbessert sich die Situation. Als Danis Tanovic den Oscar für „No Man’s Land“ gewann, hat das die Bosnischen Politiker dazu bewegt hat, einen Film-Fond einzurichten, was wir Filmemacher vorher schon lange gefordert hatten.
Was würden Sie mit „Esmas Geheimnis“ dem Publikum gerne vermitteln?
Žbanic: Ich bin eigentlich nicht so sehr für Botschaften, weil ich denke, dass ein Film immer eine ganze Welt kreiert, in die du hineingehst. Also nicht nur Botschaften, weil das könnte dann wieder manipulativ sein – sie sehen, ich habe große Angst vor Manipulation.
Ich hoffe einfach, dass die Leute fühlen, dass wir diesen Film aus ganzem Herzen gemacht haben, mit der besten Energie, die wir haben konnten.
Wie sehr fühlen Sie sich inzwischen der Kriegsthematik verbunden, auch für zukünftige Projekte?
Žbanic: Also, wenn ich anfange, etwas zu schreiben, dann ist es nicht so, dass ich mir vorher sage: es wird etwas mit dem Krieg zu tun haben, oder nicht. Ich fühle mich auch nicht verpflichtet, über den Krieg zu sprechen, sondern es geht mir zuerst darum, Dinge anzusprechen, die mir wichtig sind. Und für einen Film müssen mir die Dinge sehr wichtig sein, weil ich mich dann sehr lange mit ihnen beschäftige und auch die ein oder andere Hürde überwinden muss.
Ich will die Welt ausdrücken, wie ich sie fühle. Und wenn Geschichten, die wirklich passiert sind, mir dabei helfen, eine Formel für diese Gefühle zu finden, dann werde ich diese auch benutzen.
Haben Sie heute, nach den Diskussionen um „Esmas Geheimnis“, Angst, in Ihrer Heimat auf die Straße zu gehen?
Žbanic: In Sarajevo nicht, aber man hat mir geraten, nicht nach Banja Luka zu gehen. Man hatte mir auch geraten, nicht nach Belgrad zu gehen, was wir dann aber trotzdem gemacht haben, im Rahmen eines Film-Festivals. Die Vorführung wurde allerdings von der Polizei geschützt.
Wird das in zehn Jahren anders sein?
Žbanic: Das muss es einfach. Es muss einfach besser werden.