Monsieur Jeunet, wie würden Sie Ihren neuen Film „Micmacs“ einordnen, ist es eine Komödie?
Jeunet: Eigentlich ist er für mich ein Action-Cartoon. Eine Art nicht animierter Pixar-Film. Nachdem die Verfilmung von Yann Martels „Life of Pi“ („Schiffbruch mit Tiger“) nach zwei Jahren Vorbereitung scheiterte, da wir leider keine Finanzierungslösung finden konnten, musste ich einen anderen Film machen. Etwas Leichtes, wie eben einen Cartoon.
Das Paris, das Sie im Film präsentieren, scheint zeitlos. Teilweise sehr alt, dann aber auch wieder modern…
Jeunet: Ich kann mich einfach nicht zurückhalten und muss die Realität verändern. Als Regisseur verstehe ich mich da ein wenig wie ein Maler, der die Farben modifiziert, Straßen aufräumt und das Ganze origineller gestaltet. Für einige Menschen ist diese Öffnung nicht nachvollziehbar, aber ich erschaffe so meine Welt in der Realität. Das ist mein Weg.
Ihr letzter Film „Mathilde“ spielte zur Zeit des ersten Weltkriegs, in einem sehr industriellen Umfeld, nun kommen die Bösewichte in „Micmacs“ aus der Waffenindustrie. Gibt es eine Verbindung zwischen den Filmen?
Jeunet: Nein. Diese Menschen haben mich schon immer fasziniert. Sie sind eigentlich ganz normal, haben wahrscheinlich zuhause Kinder, aber den Rest des Tages verbringen sie damit, wirklich böse Dinge zu erschaffen, die Menschen töten. Dinge, die Leid und Schmerzen verursachen. Mit einer solchen Materie muss man sich intensiv auseinandersetzen. Daher haben wir Interviews mit vier Arbeitern einer belgischen Waffenfabrik geführt, alles was im Film dazu gesagt wird, basiert darauf. Aussagen wie „wir arbeiten für das Verteidigungs- und nicht für das Angriffsministerium“ sind genau so gefallen.
Unter welchen Aspekten haben Sie Ihr Schauspieler-Ensemble zusammengestellt?
Jeunet: Für mich sind die Figuren wie die sieben Zwerge von Schneewittchen oder die Spielzeuge in „Toystory“, die alle eigentlich den gleichen Charakter haben. Das war nützlich für die Geschichte des Films, doch die Schauspieler dafür zu finden war sehr schwierig, da in Frankreich nicht viele Darsteller dazu in der Lage sind, solche Rollen zu übernehmen. Also musste ich unheimlich viele Castings machen. Als endlich alle Schauspieler am Set zusammen kamen, waren sie wie ein Orchester, in dem jeder seine Stimme spielt.
Ist diese Schwierigkeit bei der Suche nach Ihren Darstellern der Grund, warum Sie immer wieder auf die zurückgreifen, mit denen Sie schon vorher zusammenarbeiteten?
Jeunet: Es ist nicht leicht gute Schauspieler zu finden. Ich liebe Dominique Pinon und Yolande Moreau. Die werde ich jedes mal wieder engagieren. Aber immer wenn ich einen Neuen entdecke ärgere ich mich und frage meinen Casting-Direktor, warum wir ihn nicht schon bei „Amélie“ kannten.
Ist diese Treue zu Wegbegleitern auch ein roter Faden, der sich durch Ihr gesamtes Schaffen zieht? Schließlich arbeiten Sie auch hinter der Kamera häufig mit vertrautem Personal zusammen, wie mit ihrem Drehbuch-Schreiber Guillaume Laurant.
Jeunet: Der Film ist wie das Leben. In beidem ist es sehr wichtig, den richtigen Partner zu finden. Die Zusammenarbeit von Guillaume und mir funktioniert wie Pingpong. Wir spielen den Ball ständig hin und her. Daher ist es für uns nach jedem Film auch sehr schwierig zu sagen, von wem ursprünglich welche Idee kam. Er schreibt in der Regel die Dialoge und ich den Rest.
Der Film ist wie das Leben. In beidem ist es sehr wichtig, den richtigen Partner zu finden.
Sie spielen viel mit der Sprache – drehen Sie deshalb auch lieber in Ihrer Muttersprache Französisch?
Jeunet: Ich liebe es in meiner Sprache mit meinen Schauspielern zu drehen. Obwohl ich weiß, dass wegen der Übersetzung immer einiges von meinem Humor in anderen Ländern verloren geht, bin ich glücklich, dass sie überall gesehen werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie schwierig es ist meine Filme zu übersetzen oder zu untertiteln. Aber das ist mir egal.
Sie betrachten in Ihren Filmen die Welt oft wie durch Kinderaugen? Woher kommt das?
Jeunet: In Frankreich sagt man: Jeder wird als Dichter geboren, aber nur wenige bleiben dabei. Ich empfinde es als ein Privileg, mir diesen Geist erhalten zu können. Letztlich ist das aber nur ein Teil in mir, neben einem anderen, der sehr erwachsen ist. Der kümmert sich verantwortungsbewusst um das Budget von 22 Millionen Euro und um die Crew von 800 Leuten.
In Ihren Geschichten verfügen gesellschaftliche Außenseiter über ganz spezielle Eigenschaften, etwas in dem sie viel besser sind als andere. Wünschen Sie sich so etwas für sich auch?
Jeunet: Beim Filmdreh ist das doch genauso. Jeder bringt ein spezielles Talent ein, um einen Film zu machen. Bei mir ist das die Vorstellungskraft!
Aber verfügt nicht jeder über Vorstellungskraft? Bzw. warum nutzt sie nicht jeder so, wie Sie das tun?
Jeunet: Das weiß ich nicht. Ich für meinen Teil entwickle etwas Eigenes. Gerade in Kombination mit Guillaume Laurant läuft es so, dass wir am Anfang ein Konzept haben und anschließend um dieses herum eine Kiste mit Ideen ansammeln. Erst wenn die voll ist, beginnen wir mit dem Schreiben und ergänzen Details. Wenn die ganze Geschichte steht gehen wir an die visuellen Dinge und die Dialoge. Das ist dann ein pures Vergnügen!
Den Soundtrack zu „Micmacs“ hat zum großen Teil der bislang unbekannte Raphael Beau geschrieben. Wie kam es dazu.
Jeunet: Er hat mir einmal in einem Restaurant eine CD von sich gegeben. Ich habe ihm zwar gesagt, dass ich ihn nicht engagieren würde, weil er kein Profi ist. Aber ich wollte ihm eine Chance geben und sagte deswegen zu ihm: Versuch dein Glück und schreib mir 22 Musikstücke. Raphael Beau hatte vorher noch nie etwas mit Musik zu tun. Er ist Lehrer in einer Pariser Vorstadt, diese Musik ist seine erste CD und „Micmacs“ sein erster Film.
Sie haben vor fünf Jahren ein Angebot abgelehnt, die Regie des fünften „Harry Potter“-Films zu übernehmen. Haben Sie Ihre Entscheidung im Nachhinein bereut?
Jeunet: So etwas abzusagen fällt natürlich schwer. Aber ich will mit allen Facetten der Story spielen können, mit dem Design, den Kostümen, der Musik oder dem Casting. Bei „Harry Potter“ ist all das schon von vornherein festgelegt, für den Regisseur bleibt nur die erfolgreiche Abwicklung und das war’s. Da war keine Kreativität gefragt, also habe ich abgesagt. Damals sprach ich auch noch kein Englisch. Ich hätte keinen der Witze verstanden und immer erst nach Lesen der Untertitel gelacht.