Mr. Mills, über Pop- und Technomusik wird oft gesagt, sie sei – im Vergleich zur klassischen Musik – sehr kurzlebig. Was denken Sie, wird man in 300 Jahren noch eine Platte von Jeff Mills anhören, so wie wir heute Werke von Bach und Mozart hören?
Jeff Mills: Wenn ich einmal die Möglichkeit habe, ein Stück Musik zu produzieren, das die Menschen auf eine ganz bestimmte Art berührt, dann könnte ich mir das schon vorstellen. Zum Beispiel, wenn im Jahr 2011 ein Krieg ausbricht und ich in der Zeit ein Stück komponiere, welches das Gefühl dieser Zeit beschreibt, mit dem die Leute etwas verbinden, dann besteht die Chance, dass sie sich auch später damit identifizieren. Die Musik, die in Berlin zur Zeit des Mauerfalls entstanden ist, das, was im „Tresor“ gespielt wurde, hat die Musik des darauf folgenden Jahrzehnts sehr stark geprägt.
Aber kann Techno den gleichen Ewigkeitswert erlangen wie eine Beethoven-Sinfonie?
Mills: Ich denke schon. Wenn in der Musik genügend Leidenschaft steckt, so, dass es die Leute berührt, dann hören sie das in einigen Jahren vielleicht auf die gleiche Art und Weise wie wir heute Mozart.
Hören Sie sich heute noch Tracks aus der Ursprungszeit des Detroit-Techno von vor 20 Jahren an?
Mills: Ja, ich spiele die auch in meinen DJ-Sets. Die vermitteln bereits ein ganz anderes Gefühl als die Techno-Tracks von heute. Damals hatte die Musik noch eher eine songartige Struktur. Auch wenn meistens kein Gesang dabei war, gab es so etwas wie Strophen und Refrain. Heute sind die Tracks anders strukturiert, sehr minimal und monoton und das Ende eines Tracks klingt in der Regel genauso wie der Anfang.
Würden Sie sagen, der Techno-Klang hat sich insgesamt verbessert, weg von dem ‚billigen’ Sound der ersten Drumcomputer?
Mills: Heute ist in der elektronischen Musik dieser saubere, leicht piepsige Klang sehr weit verbreitet. Das sehe ich allerdings mehr als eine Rückkehr zu den frühen, trockenen, analogen Sounds. Das ist so eine Art Kreislauf.
Im vergangenen Sommer wurden mehrere Ihrer Produktionen für großes Orchester arrangiert und live aufgeführt. Interessant ist ja: zu Beginn der Techno-Entwicklung haben Maschinen die Menschen imitiert. Wollten Sie dieses Verhältnis einfach umdrehen?
Mills: Ja, als wir die Partitur ausgearbeitet haben, wollte ich, dass sich das Orchester genauso verhält, wie die Elektronik es tut. Das Orchester sollte sehr minimale, monotone Sequenzen über einen langen Zeitraum spielen. Und die Zuhörer sollten sich dabei genauso fühlen, als wenn Sie in einem Club wären, wo es ja erst mal relativ lange dauert, bis die Leute in den Groove reinkommen.
Was allerdings auf der vorliegenden DVD „Blue Potential“ auffällt, sind die etwas gelangweilten Gesichter mancher Orchestermusiker. Einige fühlten sich ob der Monotonie wohl etwas unterfordert.
Mills: Es geht ja auch nicht um die einzelnen Musiker, sondern um die Musik insgesamt. Und wenn das professionelle Musiker sind, dann spielen sie ihren Part. Es ging nicht darum, dass bestimmte Musiker mehr und andere weniger hervortreten sondern es geht um den Aspekt der Aufführung als Ganzes. Und diese Musiker sind eben darauf trainiert, ihren Part zu spielen, ganz einfach.
Und doch sind Orchestermusiker bei einer Beethoven-Sinfonie meist enthusiastischer am Werk.
Mills: Ja, aber das ist auch Musik, die sie schon kennen, seit sie fünf Jahre alt sind. Ich wollte meine Tracks nicht überkomponieren, nur damit die Musiker besonders viel zu tun haben. Was wir gemacht haben, war viel mehr der Versuch, die von mir mit elektronischen Geräten produzierten Tracks für Orchester zu übersetzen. Zu zeigen, dass das möglich ist, dass die elektronische Musik über genug Melodien, über eine Struktur und auch über genügend Emotionen verfügt, um sie in klassische Musik zu verwandeln. Insofern waren mir die einzelnen Gesichtsausdrücke der Musiker nicht so wichtig, um so mehr aber der Gesamteindruck der Aufführung.
Die Computer haben uns konditioniert, in einer Gesellschaft zu leben, in der keine Fehler mehr passieren sollen.
Wenn wir einmal etwas allgemeiner über das Verhältnis Mensch-Maschine nachdenken, würden Sie sagen, unser Leben wird heute zu sehr von Technologie bestimmt?
Mills: Ja, ich denke, wir sind von der Technologie zu abhängig geworden. Das fängt schon da an, wo wir nicht mehr vom Sofa aufstehen müssen, um am Fernseher den Sender umzuschalten. Auch unsere heutige Art zu kommunizieren – wenn der Server down ist, gibt es ja inzwischen fast keine Kommunikation mehr. Physisch machen wir immer weniger und wir erfinden ständig Geräte, die immer mehr Dinge für uns erledigen. Diese Entwicklung wird sich auch nicht stoppen lassen.
Geht das dann Ihrer Ansicht nach auf Kosten der Menschlichkeit?
Mills: Ich glaube, wir verlieren immer öfter den Sinn für menschliches Gefühl, für bestimmte menschliche Bedürfnisse. Die Computer haben uns konditioniert, in einer Gesellschaft zu leben, in der keine Fehler mehr passieren sollen. Und das könnte bald ein Level erreicht haben, wo wir uns gegenüber der Technik nur noch nutzlos fühlen. Aber vielleicht werden wir dann auch zu einer etwas natürlicheren Lebensweise zurückkehren.
Sie haben früher regelmäßig im Berliner „Tresor“ aufgelegt. 2005 wurde der Club geschlossen, an der gleichen Stelle entsteht derzeit ein Bürohauskomplex. Schmerzt Sie das?
Mills: Das sind die Zeichen der Zeit, so etwas passiert ja nicht nur in Berlin sondern in fast jeder großen Stadt. Chicago zum Beispiel sieht heute ganz anders aus als noch vor acht Jahren. Die Technologie ermöglicht es uns, Dinge immer schneller zu produzieren, die Geschwindigkeit nimmt zu und die Zeitspanne, in der Dinge aufgebaut und wieder abgerissen werden, verkürzt sich immer weiter.
Und Sie trauern dem „Tresor“ nicht nach?
Mills: Ich habe mich damit inzwischen angefreundet, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber viel wichtiger ist doch, dass man die Zeit, die man in dem Club verbracht, in der Erinnerung behält. Dimitri Hegemann und Achim Kohlberger haben dort eine ganz eigene Atmosphäre kreiert, woran sich die Leute später noch erinnern werden. Auch wenn jetzt das Gebäude nicht mehr da ist, der Tresor lebt ja noch weiter, sei es in Filmen, Artikeln, Reportagen. Die Leute werden noch sehr lange eine Vorstellung davon haben, wie es dort gewesen ist.
Es gibt in Deutschland immer wieder Diskussionen über eine Lautstärkebegrenzungen in Clubs, von deutschen Behörden wurde bereits eine Begrenzung auf 95 Dezibel gefordert – Ihr Kommentar?
Mills: Oh, da muss ich gerade an meine Tochter denken, wenn die eines Tages in einen Club gehen würde… Also, da stehe ich jetzt als Vater und DJ etwas zwischen den Fronten. Die Lautstärke macht natürlich einen großen Unterschied aus, bei hoher Lautstärke ist auch der Eindruck auf das Publikum entsprechend groß. Aber gleichzeitig kenne ich viele DJs, die Probleme haben mit ihrem Gehör. Auf jeden Fall ist das ein Punkt, wo wir aufpassen sollten. Eine Balance dazwischen finden, zwischen der erträglichen und der notwendigen Lautstärke, das würde Sinn machen. Weil wenn du einmal dein Gehör geschädigt hast, dann war’s das, das lässt sich nicht wieder heilen.
Aber würden DJs denn freiwillig den Regler zurückdrehen?
Mills: Hm… wahrscheinlich nicht, das kenne ich von mir. Während ich auflege, denke ich nicht daran, wie schädigend das für die Ohren der Leute sein kann. Ich glaube auch nicht, dass andere DJs das tun.
Wie wäre es mit großen Anzeigetafeln in Clubs, die über mögliche Gehörschäden informieren, analog zu den Krebs-Warnungen auf Zigarettenschachteln?
Mills: Das könnte sehr hilfreich sein, auf der anderen Seite wäre das auch schon wieder etwas banal. Weil die Leute in den Clubs sind wirklich alt genug, um verantwortungsvoll mit ihrer Gesundheit umzugehen und Ohrstöpsel zu tragen. Aber warum nicht, ja, ich denke, es wäre keine schlechte Idee, die Leute immer wieder daran zu erinnern.
Unsere Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
Mills: Oh… ich war früher ein großer Comic-Sammler, da muss ich jetzt überlegen… Vielleicht wäre ich Galactus, der ja früher den Silversurfer als Diener hatte. Galactus, das ist der Vermittler, der Moderator, der die Bedingungen und Situationen schafft.