Frau Hausner, auf die Frage, welche historische Person er bewundere, hat Rainer Werner Fassbinder einmal geantwortet: Heinrich von Kleist – weil er jemanden gefunden hat, der mit ihm sterben will. Können Sie diese Bewunderung teilen?
Jessica Hausner: Nein. Aber das hat Fassbinder ja auch ironisch gemeint. Es ist eben nicht so leicht, jemanden zu finden, der mit dir sterben will.
In den Zeiten des Internets hätte es Kleist sicher leichter gehabt.
Hausner: Ja, ich hatte ursprünglich auch vor, den Film in der Jetztzeit spielen zu lassen. Es gab vor über zehn Jahren diesen Fall, wo sich eine junge Österreicherin und ein Norweger im Internet verabredet haben, um dann in Norwegen gemeinsam von einer Klippe zu springen. Dazu gab es ein Theaterstück „norway.today“ und ich habe versucht, daraus ein Drehbuch zu machen. Das fand ich aber nicht gut. Das war mir irgendwie zu tragisch.
Trifft das auf den „Fall Heinrich von Kleist“ nicht zu?
Hausner: Ich habe durch Zufall in einer Zeitschrift gelesen, dass Kleist auf der Suche nach einem Partner für den Selbstmord verschiedene Leute gefragt hat. Erst seinen besten Freund, der wollte nicht. Dann seine Cousine Marie, die wollte nicht. Schließlich hat er Henriette Vogel gefunden, die dachte, dass sie sowieso sterben müsse, weil sie krank war. Die hat dann eingewilligt. Ich musste lachen. Ich fand das irgendwie absurd, weil es der Kontrapunkt von dem ist, was man sich so unter einem romantischen „Doppelselbstmord aus Liebe“ vorstellt. Da hat es begonnen mich zu interessieren.
Ihr Film „Amour Fou“ erzählt nun von Kleists schwieriger Suche. Was genau hat Sie daran interessiert?
Hausner: Diese Austauschbarkeit des Liebespartners. Es ist eben nicht die Geschichte, wo ein Mann und eine Frau sich lieben und unzertrennlich sind. Vielmehr hat man bei Kleist das Gefühl, dieser Partner könnte beinahe jeder sein. Ich fand es interessant, diesen Aspekt herauszukitzeln und vielleicht auch ein bisschen auf die Spitze zu treiben. Ich glaube, dass auch im Kern jeder Liebesgeschichte dieser Aspekt vorhanden ist. Es ist auch ein Zufall, warum man jemanden trifft, warum man sich verliebt und mit jemandem zusammenbleibt.
Sie halten also nichts von der Idee, dass Menschen „füreinander bestimmt“ sein könnten?
Hausner: Genau. Diese Vorstellung ist nichts anderes, als ein weiterer Aspekt der „Idee Liebe“. Es ist kein Zufall, dass in meinem Film keine körperliche Liebe vorkommt. Es geht mir wirklich um diesen geistigen Aspekt, der sicherlich ein großer Antrieb ist, um sich überhaupt zu verlieben. Die Fantasie, die man von einem anderen hat, ist stärker als das, was man in dem anderen wirklich sehen könnte. Man hält an dieser Illusion fest, um eine Beziehung nicht durch den Alltag und die Fehler des anderen zerstören zu lassen.
60 Jahre lang eine Person zu lieben, das ist nicht ohne.
In „Amour Fou“ erzählen Sie auch von dem großen kulturellen Einfluss den Frankreich zu Kleists Zeiten auf Preußen hatte. Ist die „Amour Fou“, also die „verrückte Liebe“, so etwas wie ein französischer Kultur-Import?
Hausner: Nein. Der Begriff „Amour Fou“ ist eine deutsche Erfindung, er ist in Preußen entstanden. Es war damals unter den gebildeten Leuten zwar üblich, viel Französisch zu sprechen, aber die ganze Vorstellung einer „romantische Liebe“ ist eine sehr deutsche Vorstellung. Daher lässt sich diese Geschichte eben im Preußen des 19. Jahrhunderts sehr gut erzählen; die philosophische und platonische Liebe hatte damals Hochkonjunktur.
Warum hat Kleist den Wunsch gehabt, sich zu zweit das Leben zu nehmen? Würden Sie das als pathologisch bezeichnen?
Hausner: Ich habe mir darüber schon Gedanken gemacht, aber während der Arbeit am Drehbuch habe ich an einem gewissen Punkt gemerkt: Der Film wird lustiger, wenn ich mich das nicht frage. Genauso wie jemand, der zu guter Recht sagt: Ich suche jemanden zum heiraten, sucht dieser Mann eben jemandem zum sterben. Je weniger ich das motiviere, desto absurder und witziger ist dieser Ansatz. Was ich privat über Heinrich von Kleist denke, ist eine andere Sache. Pathologisch ist auch ein weiter Begriff und inwiefern der auf Kleist zutraf, kann ich gar nicht sagen. Man hat damals die Leute ja auch noch nicht in dem Sinne analysiert.
Könnte man sagen: Auch Kleist hat nur jemanden gesucht, der zu ihm „Ja“ sagt, bis „der Tod uns scheidet“; er wollte nur nicht warten, bis diese „Scheidung“ von alleine kommt?
Hausner: (Lacht) Genau. Es geht zwischendurch auch um diese Unfähigkeit, Alltag zu leben. Dieser Heinrich schafft es irgendwie nicht auszuhalten, dass aus einer tollen Idee, mit der Zeit manchmal nur eine halb so tolle Idee wird. Und diese Henriette Vogel ist ihm da durchaus ähnlich. Ich glaube, dass Heinrich sehr Recht hat, wenn er an einer Stelle zu ihr sagt, dass sie ein Zaungast in ihrem eigenen Leben sei, dass sie niemanden liebt und vielleicht sogar, dass niemand sie liebt. Sie ist wie ein Schlafwandler, der durch das Leben wandelt.
Entgegen der historischen Überlieferung inszenieren Sie den Tod der beiden allerdings weniger als einen gemeinsames Akt, sondern als Mord an Henriette Vogel mit anschließendem Suizid des Mörders Kleist.
Hausner: Das ist der Clou der Geschichte, das war für mich der Grund, diesen Film zu machen. Im Moment des Sterbens sterben beide eben doch nicht gemeinsam. Das wäre auch so gewesen, wenn die Geschichte in der Jetztzeit gespielt hätte. Ich habe immer gedacht: Der Plan, gemeinsam zu sterben, kann nicht funktionieren. Das ist eine philosophische Fragestellung. Es kann nur jeder alleine sterben. Du bist in deinem Körper drin und in dem Moment, wo man stirbt, ist man getrennt für immer.
Das wiederum ist eine Glaubenssache. Manche sterben, weil sie glauben, im Tod wieder mit anderen vereint zu sein.
Hausner: Daran glaube ich aber persönlich nicht. Und deswegen ist mir von Anfang an klar gewesen, dass in dieser Szene eine Asynchronität herrscht.
Sie wirkt noch verstärkt dadurch, dass Heinrich Henriette wiederholt das Wort abschneidet.
Hausner: Das macht das ganze nur noch schlimmer. Vielleicht hätte sie ihm ja auch noch absagen wollen. Insofern hat er sie vielleicht gerade noch rechtzeitig erschossen, bevor er sich die Niederlage des ganzen Plans hätte eingestehen müssen. Aber, ich wiederhole das immer wieder: Mein Film ist eben kein Biopic. Mir ist es daher bis zu einem gewissen Grad auch wurscht, was irgendwer über Kleist sagt. Ich habe mich gern von seiner Geschichte inspirieren lassen und dan Details seiner Biografie genutzt, um meine Geschichte zu erzählen. Es ist eher eine Parabel, ein Märchen, in dem verschiedene Arten von Liebe durch verschiedene Menschen verkörpert werden.
Trotzdem könnte man „Amour Fou“ als feministische Neudeutung einer historischen Überlieferung bezeichnen.
Hausner: Für mich ist die feministischste Position in dem Film, dass Heinrich am Ende, obwohl er Henriette erschießt, nicht das bekommen hat, was er wollte: nämlich sie. Ich glaube, er weiß innerlich genau, dass sie dabei ist, sich abzuwenden. Genau das ist interessant: Obwohl sie so passiv oder schwach wirkt, ist sie die Person, die von keinem dieser Männer besessen wird. Ich habe mal mit einem Kleist-Forscher gesprochen, der hat behauptet, Henriette Vogel war eine freie Frau, die einen starken Willen hatte und freiwillig mit Kleist gestorben ist. Dieses Bild finde ich zum Beispiel reaktionär, das finde ich antifeministisch. Meine Variante der Geschichte ist sozusagen vordergründig frei, aber auch interessanter, viel realistischer und menschlicher.
Was wäre die feministische Variante eines geglückten Doppelselbstmords? Die Geschichte von „Thelma & Louise“? Die wollten ja am Ende beide über die Klippe fahren…
Hausner: Ja, die haben sich sogar noch an den Händen gehalten. Der Film hat mir auch gut gefallen, den fand ich sehr klug. Der hat nicht diese unangenehme Liebesdudelei, wie so manche Filme.
Warum hat gerade zu Kleists Zeiten die romantische Liebe so eine große Rolle gespielt?
Hausner: Man beschreibt es immer so: Der Ursprung der bürgerlichen Liebe war, dass man die Ehe nicht mehr nur aus einem gesellschaftlichen Kalkül betrieben, sondern plötzlich aus Liebe heraus geheiratet hat. Das ergab sich durch die Stärkung des Bürgertums durch eine Reihe von Handelserleichterungen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Leute konnten freier wählen, was sie arbeiten möchten und erkämpften sich, im Gegensatz zum Adel, auch eine andere Haltung zur Liebe und Heirat. Und heutzutage scheint mir die Idee der romantischen Liebe stärker denn je. Sie ist eben ein Erbe, an dem wir immer noch knabbern, umso mehr, weil man heute im Schnitt ja zwanzig, dreißig Jahre länger lebt, als damals. 60 Jahre lang eine Person zu lieben, das ist nicht ohne.
Wird Ihnen schlecht, wenn in Talkshows ein betagterer Gast erzählt, wie viele Jahrzehnte er schon verheiratet sei und dafür einen großen Applaus bekommt, als wäre das eine sportliche Leistung?
Hausner: (Lacht) Ich hab ja nichts dagegen. Ich ergreife nicht Partei für irgendwas. Ich beobachte nur die Umstände, die Verhältnisse einer Gesellschaft.
Sind Sie religiös?
Hausner: Ich bin religiös geprägt, aber ich bin nicht gläubig. Ich war an einer katholischen Schule und früher auch gläubig. Aber wie die meisten habe ich das später im Teenageralter hinterfragt und dann auch meinen Glauben verloren. Trotzdem blieb ich weiter an einer katholischen Schule bis ich 18 war. Österreich ist ja auch sehr katholisch geprägt.
In Deutschland läuft eine Debatte über eine Neuregelung der Sterbehilfe. Ergreifen Sie da Partei? Hätte Heinrich von Kleist Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen?
Hausner: Ich kann gar nicht verstehen, warum jemand nicht frei darüber entscheiden können sollte, ob er leben will oder sterben. Das soll mir erstmal jemand erklären. Ich versteh schon, für die Gesellschaft ist es wichtig, dass sie fortbesteht, dass die Arbeitskräfte erhalten bleiben. Angeblich sind die meisten Lebewesen ja auch darauf programmiert zu leben, zu überleben. Ich finde es aber auch sehr menschlich und nachvollziehbar, nicht leben zu wollen; es gibt genug Gründe. Insofern, ja, ich hätte nichts gegen Sterbehilfe.
Wie verhält sich „Amour Fou“ zu Ihrem Kinodebüt „Lovely Rita“, in dem ein pubertierendes Mädchen auf der Suche nach einem Leben ist, das ihr gefallen könnte?
Hausner: Es gibt sicher eine Verbindung zwischen den beiden Filmen. Die Tatsache, dass man auch hier die Hauptperson nicht ganz nachvollziehen kann, ist eine Gemeinsamkeit. Die Erzählhaltung, die bis zu einem gewissen Grad eine Nachvollziehbarkeit oder Identifikation verweigert, die ist mir ganz wichtig. (lacht) Ich glaube eben nicht daran, dass man sich mit jemand anderen identifizieren kann. Man kann etwas in eine Person hineinlegen, was in einem selber vorhanden ist. Mich interessiert es einfach, da ein Stopp-Schild aufzustellen wenn ich einen Film mache. Ich nehme da eine desillusionistische Haltung ein.
1999 haben Sie mit drei weiteren Filmschaffenden eine eigene Produktionsfirma gegründet, Coop99. War das auch eine Reaktion auf die Einsicht, dass Sie mit Ihrer desillusionistischen Haltung in der Filmlandschaft sonst nicht sehr weit kommen würden?
Hausner: Ja. Ganz sicher. Und ein weiterer Grund war, dass die österreichischen Produzenten damals vor allem Filme für Österreich produziert haben, das hieß in der Regel: Kabarett-Komödien. Wir wollten Filme machen, die international sind, die eine eigene Handschrift tragen, die genau so sind, wie wir das gut finden. Deswegen haben wir diese Firma gegründet und das Konzept ist gut aufgegangen. Ich bin nach wie vor froh, dass ich eigenverantwortlich Filme machen kann und mich nicht nach dem Geschmack von jemand anderem richten muss.
Hat sich durch den Erfolg von Coop99 auch generell im Filmland Österreich etwas geändert?
Hausner: Ja, es gibt jetzt einige Firmen, die lustigerweise auch so Künstlerkonglomerate sind: Die Geyrhalter Film, dann gibt’s noch die FreibeuterFilm, die Golden Girls Production und ein paar andere, wo sich drei, vier Leute mit einem ähnlichen Konzept zusammengeschlossen haben. Da hat sich echt was getan. Das sind auch Leute, mit denen wir teilweise zusammen arbeiten, wir zeigen uns gegenseitig unsere Filme. Das finde ich wirklich gut.
Zur letzten Frage: Die Berlinale steht vor der Tür. Von den ersten sieben bekannt gewordenen Wettbewerbsfilmen wurde nur einer von einer Frau inszeniert, von Isabel Coixet. Wie viele weibliche Regisseure müssten es Ihrer Meinung nach am Ende sein?
Hausner: Jede Art von Auswahl ist ungerecht, auch bei Festivals. Das ist so ein eigener Apparat, da wage ich nicht, eine Empfehlung abzugeben. Ich bin auch weit davon entfernt zu sagen, die Männer agieren da ungerecht und die Frauen werden ausgeschlossen. Das ist nicht der Fall. Jede Jury ist subjektiv und ihre Auswahl entspricht dem Geschmack der jeweiligen Personen. Ich persönlich finde aber, dass die Geschlechterverteilung bei so einer Auswahl ein ganz wesentlicher Aspekt sein sollte. Ich würde mir aber auch andere Quoten wünschen: Eine Quote für Filme mit offenem Ende, oder für Filme ohne Musik, zum Beispiel. (lacht) Aber dafür bekäme ich wahrscheinlich kein Mehrheit.
In Deutschland haben sich im letzten Jahr Regisseurinnen zur Initiative: Pro Quote Regie zusammengeschlossen, um eine gerechte Verteilung von Filmfördermitteln zu erreichen.
Hausner: Ich habe Gott sei Dank (klopft auf Holz) noch keine Probleme bei der Finanzierung meiner Filme gehabt. Aber zu sagen 50% oder eine bestimmte Quote von Projekten weiblicher Regisseure soll gefördert werden, finde ich total korrekt. Es ist eine relevante Forderung denn die Frauen machen eben die Hälfte der Bevölkerung aus. In Österreich wurde eine Empfehlung ausgesprochen, dass das Verhältnis bei 40/60 landen sollte, aber bei uns gibt es eh relativ viele Regisseurinnen.
Woran könnte das liegen? Im Gegensatz zu den deutschen Filmhochschulen ist die Filmakademie Wien Teil der Universität für Musik und darstellende Kunst…
Hausner: Das weiß ich nicht, keine Ahnung. Aber an der Filmakademie Wien haben wir trotzdem keine einzige Professorin. Das sind alles Männer. Das finde ich relativ verheerend.