Joachim Gauck

Die Werbung ist oft stärker als der politische Diskurs.

Joachim Gauck über seine Biografie, Theologie und politisches Bewusstsein in der Konsumgesellschaft

Joachim Gauck

© Siedler Verlag

Herr Gauck, Sie haben Ende 2009 Ihre ‚Erinnerungen’ mit dem Titel „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ veröffentlicht. Wie war es für Sie, Ihre Erlebnisse schriftlich festzuhalten?
Es war sehr schwierig. Ich habe das Projekt über zehn Jahre vor mir hergeschoben und mich immer herausgeredet, wenn Verlage angefragt haben, und gesagt: Ich bin ein Redner, ich kann gar nicht schreiben. Ab und zu habe ich einen kleinen Essay veröffentlicht. Aufgrund eines solchen Artikels schrieb der Chef des Siedler Verlages, dass er das doch auch in Buchform noch einmal weiterlesen möchte. Irgendwann habe ich dann einen Vertrag unterschrieben, weil ich selbst spürte, dass ich Bilanz ziehen möchte.

Mehrfach kommt in Ihrer Biografie zur Sprache, wie politische und historische Wirklichkeit private wird. Das erste Mal als Sie elf Jahre alt waren. Was ist da geschehen?
Als ich elf war, kam mein Vater von einer Geburtstagsfeier seiner Mutter, also meiner Großmutter, nicht zurück. Meine Mutter, kam weinend mit dem jüngsten Kind auf dem Arm zurück und sagte: „Sie haben Vater abgeholt.“ Abholen, dass hieß damals, man verschwindet. Es gab keine Instanz, die darüber Auskunft gegeben hat, wo der Mann ist. Er war nicht von der Volkspolizei oder von der Stasi abgeholt worden, sondern von den Russen. Die waren damals als Besatzungsmacht, obwohl die DDR schon gegründet war, immer noch aktiv in geheimen Gerichtsverfahren. Sowjetische Militärtribunale setzten ihre Arbeit aus der Kriegszeit einfach fort. Jetzt ging es aber gar nicht mehr um Kriegsverbrechen, sondern es standen Oberschüler, die einen großen Mund hatten, Oppositionelle, Studenten und auch mein Vater vor diesen Tribunalen.

Warum wurde Ihr Vater abgeholt?
Mein Vater war Seemann. Er kannte einen, der in den Westen abgehauen war. Der hatte ihn und ein paar Kollegen eingeladen. Deswegen haben die Russen alle Leute, die eine Einladung bekommen haben, hochgenommen. Nun wussten wir aber nicht, wo er war, wir wussten nicht, dass er bei den Russen ist. Meine Mutter und meine Großmutter gingen von Pontius zu Pilatus, von Wilhelm Pieck bis zur Stasi. Keiner sagte irgendetwas. Zweieinhalb Jahre lang wussten wir nichts.
Ich erzähle diese Episode erlebnisorientiert, um den Menschen, die diese Zeit nicht erlebt haben, auch einen emotionalen Zugang zu eröffnen. Man kann über Geschichte in politischen Thesen sprechen, aber man kann auch in Lebensgeschichten sprechen. Diesen Weg bin ich gegangen. Damit wird auch ganz klar, ein solcher Junge geht später nicht zu den Jungen Pionieren oder zur FDJ. Ich habe alle Lieder vom Sozialismus gelernt und gleichzeitig gewusst, dass das alles Lüge ist.

Kann man sagen, dass die Abholung Ihres Vaters die Geburtsstunde Ihres politischen und gesellschaftlichen Bewusstseins war?
Ja, so ist es. Da ist es einfach über mich gekommen.

Warum ist Ihre Familie nach diesen Erfahrungen nicht in den Westen übergesiedelt?
Das haben wir uns bei meinem Vater auch gefragt. Nach Stalins Tod lockerte sich das ganze Gulag-System. Mein Vater kam zurück und hatte das Gefühl der absoluten Unschuld. Er fragte immer: „Warum soll ich aus meiner Heimat weggehen? – Honecker kann ja ins Saarland gehen.“ Er sagte auch: „Die Kommunisten tun mir nichts mehr.“
Wir waren uns da nicht so sicher und die Familie hat eigentlich erwartet, dass er nach Hamburg ginge, von dort aus war er früher zur See gefahren – aber er blieb. Diese Liebe zur Heimat ist dann irgendwie auf uns übergesprungen. Ich hatte auch keine Lust zu gehen, obwohl ich noch vor dem Mauerbau erwachsen wurde.

Sie entschieden sich also, trotz Ihrer Distanz zum politischen System, zu bleiben?
Das war damals so. Die meisten Menschen waren in Distanz zum politischen System. Das war anders als in der Nazizeit. Da waren die Oppositionellen immer in der Minderheit oder fühlten sich so. Bei uns war es doch so: Wer normal war und vernünftig, der war dagegen. Es ist nicht so, dass die Leute alle begeistert den Sozialismus aufgebaut haben, das ist eine Legende. Es war auch in den Schulklassen nicht so, es waren nicht alle Kinder bei den Pionieren oder in der FDJ.
Vor dem Mauerbau war es leichter, noch einen eigenen Weg zu gehen, obwohl die Unterdrückung brutaler war. Aber es gab mehr Menschen, die offen sprachen, weil man jederzeit abhauen konnte. Da hat man in der Schule auch mal eine Lippe riskiert, weil man wusste, dass man gehen kann, wenn es hart wird. Mein Vater hatte nun die volle Härte erlebt und ist trotzdem geblieben. Ich bin dann ja auf den Weg gekommen, Theologie zu studieren und habe mir gedacht: Wir als Christen können auch nicht alle weggehen. Hier müssen auch welche bleiben, die daran mitwirken, dass es einmal menschlicher, anders wird.

Können Sie ungefähr in Zahlen sagen, wie viele Menschen in Opposition zum DDR-Staatssystem standen?
Es gibt die Zahlen, die habe ich aber gerade nicht parat. Zwei bis drei Millionen sind überhaupt aus der DDR weggegangen, eine oppositionelle Elite und viele Fachleute. Das ist nicht ganz einfach für eine Gesellschaft zu verkraften. Wenn wir sagen würden, dass mehr als die Hälfte der DDR-Bevölkerung erkennbar nicht auf Seiten des Staates waren, dann sind wir vorsichtig. Ich glaube, es waren drei Viertel der Bevölkerung.

Eine weitere schmerzhafte Erfahrung im Zusammenhang mit der DDR war, dass drei Ihrer vier Kinder das Land verließen.
Da sprechen Sie einen Punkt an, von dem aus ich vielleicht besser erklären kann, warum ich so lange das Schreiben dieses Buches von mir hergeschoben habe. Es ist eine Sache, theoretisch die Erfordernisse bei der Aufarbeitung der Vergangenheit zu besprechen. Dafür bin ich Spezialist, das habe ich in hunderten von Vorträgen mit der Öffentlichkeit verhandelt. Eine andere Sache ist es, in die emotionalen Bereiche dieser Zeit noch einmal einzutauchen.

Zitiert

In der DDR war es doch so: Wer normal war und vernünftig, der war dagegen.

Joachim Gauck

Weshalb?
Wenn wir die Aufarbeitung von Vergangenheit wirklich ernst meinen, dann müsste diese existenzielle emotionale Befassung mit der Vergangenheit noch einmal zugelassen werden. Ich denke, jetzt nachdem ich das Buch fertig gestellt habe, dass ich theoretisch und intellektuell lange fertig war mit dem Thema Aufarbeitung. Emotional aber nicht. Ich erlebte beim Schreiben des betreffenden Kapitels, wie meine eigenen Kinder einen Ausreiseantrag stellen und ihren Weg suchen und finden. Ich erlebte diese tiefe Trauer, die ich damals gar nicht zugelassen habe. Ich habe das aufgeschrieben, damit vielleicht Leute angestoßen werden, über ihre damalige Technik zu überleben, nachzudenken. Wir haben uns oft hart gemacht.

Die Theologie war für Sie ein Ersatzstudium. Ursprünglich wollten Sie Germanistik studieren bzw. Journalist werden. Nach eigener Aussage war Ihnen Glaubensfestigkeit nicht von Anbeginn beschieden – wie fanden Sie sich dennoch in der Theologie und im Glauben zurecht?
Das ist eigentlich ganz einfach. Nur wusste ich nicht, dass es einfach ist. Ich dachte immer, dass wer am Reich Gottes mit baut so etwas wie ein Heiliger oder ein Engel sein muss. So sah ich mich nicht. Ich liebte das Leben, die Mädchen, den Sport und heiße Musik. Ich kam mir also nicht wie ein Geistlicher vor. Aber in der Heiligen Schrift steht es so, dass Jesus ganz normale Menschen und auch Sünder beruft. Irgendwann habe ich dann begriffen, dass ich doch damit gemeint sein könnte. Wenn man dann drin ist in der Kirche, merkt man, dass die Leute weniger an den Zweifeln, die man hat, interessiert sind. Sie stützen einen sogar mit ihrem Glauben. Dann überlebt sich auch eine Phase des Zweifels leichter. Oder sagen wir so: die Elemente des Glaubens werden stärker als die Elemente des Zweifels. Bei intellektuellen Menschen gibt es Glauben sowieso nie in Reinkultur. Der Zweifel ist immer ein Geschwisterkind des Glaubens.

Wie bedeutsam war es für Sie, dass die Kirche einen Raum für das freie Denken geöffnet hat?
Ohne dies wäre ich gar nicht eingetreten. Wenn man in einer Situation der politischen Distanz zum System lebt, ist es für jeden, der einem eine Alternative anbietet, relativ leicht. Man kann sich leicht unterscheiden. Heute in der freiheitlichen Gesellschaft ist diese Unterscheidung schwerer. Es gibt heute viele positive Sinnanbieter. Auch unsere viel gescholtenen Parteien sind im Grunde genommen organisierte Versuche, eine Gesellschaft zu formen und zu gestalten. Früher warst du als Kirche, als einzelner oppositioneller Autor oder Maler in einer ganz wunderbaren Situation. Du warst die Alternative. Heute sind wir in Konkurrenz mit anderen positiven Sinnanbietern.

Wie haben Sie diesen Freiraum erlebt und später gestaltet?
Ich bin als Jugendlicher in der jungen Gemeinde Leuten begegnet, die Mut hatten, die andere Themen gesetzt haben als in der Schule, die andere Bücher, andere Lieder angeboten haben. Vor allem waren sie anständig und haben uns nicht verraten, wenn wir unsere Meinung gesagt haben. Dies war ein ganz elementares Erlebnis. Ohne dieses Erlebnis, anständige Pfarrer, Diakone erlebt zu haben, wäre ich nie auf die Idee gekommen Theologie zu studieren. Das war meine Brücke. Und das hat sich später fortgesetzt. Als ich Pfarrer war, habe ich auch immer Jugendarbeit gemacht und in unseren Jugendgruppen wurde natürlich auch offen gesprochen. Dann kamen auch andere Jugendliche hinzu, die gar nicht in der Kirche waren, die kamen weil unter uns ein anderer Ton herrschte als in der FDJ. Insofern haben sich manche Pfarrer und kirchliche Bedienstete nach dem Zusammenbruch der Diktatur erst einmal die Augen gerieben: Der Gegner war weg, sind wir noch eine Alternative?

Während der Wendezeit wechselten Sie vom kirchlichen ins politische Fach. Wie kam es konkret dazu?
Aus meiner relativ oppositionellen Tätigkeit in der Kirche ging die Tätigkeit für das Neue Forum hervor, daraus meine Abgeordnetentätigkeit und daraus später meine Tätigkeit als Bundesbeauftragter. Mit dem Eintritt in den Dienst der Bundesregierung musste ich dann meine Ordinationsurkunde aus juristischen Gründen abgeben.

Wie kamen Sie darauf, gerade die Stasi-Unterlagen bzw. ihre Aufarbeitung zu Ihrer Sache zu machen?
Das war Zufall. Ich war Vorsitzender eines Ausschusses zur Kontrolle der Auflösung der Stasi, aus diesem Grund war ich Mitverursacher eines Gesetzes in der Volkskammer zur Aktenöffnung. Dadurch war ich quasi der Fachmann und in der Volkskammer lief es auf mich zu. Da habe ich gesagt: Gut, jetzt bist du eingearbeitet, dann machst du das. Ich hätte auch etwas anderes machen können.

Durch den Umbruch und die Aufarbeitung der MfS-Akten bekamen viele Biographien Brüche. Halten Sie es bis heute für legitim, Lebenslinien aufgrund politischer Vergangenheit zu unterbrechen?
Ja. Das halte ich für völlig legitim und sogar für menschlich. Wenn Diktaturen abgeschafft werden, dann dürfen Diktatoren und ihre Helfer hinterher traurig sein. Das ist der Sinn von Revolutionen. Am besten müssten das eigentlich Marxisten wissen. Sie scheinen es aber vergessen zu haben. Sie haben offensichtlich die Geschichte der Revolution nicht gründlich genug studiert. Es sind ja nicht aus Willkür Biografien gebrochen worden, sondern ganz nachvollziehbar, wenn sie sich über die Mitgliedschaft in der SED hinaus in der Form überangepasst haben, dass sie zusätzlich noch mit dem Geheimdienst kooperiert haben. In so einem Fall wurden Biografien und Berufsbiografien unterbrochen. Aber, dass auch nur zu 50 Prozent. Denn etwa die Hälfte der als IM belasteten Personen hat im öffentlichen Dienst weiter gearbeitet. Das vergisst die Linke immer, wenn sie das Thema so kritisch anschaut. Wir haben zum Beispiel den Mitgliedern der SED überhaupt keine Überprüfung aufgedrückt. Wir haben sie einfach in den Schuldienst, den öffentlichen Dienst übernommen. Von einer großen Verfolgung kann man nun wahrlich nicht sprechen.

Heutzutage sind die Umstände, in denen junge Menschen aufwachsen politisch nicht so kontrovers wie zu Ihrer Kinder- und Jugendzeit. Glauben Sie, dass Deutschland deswegen der politisch und gesellschaftlich verantwortungsbewusste Nachwuchs abhanden kommt?
Ja, zum Teil. Das sind viele Faktoren, die unser öffentliches Bewusstsein prägen. Die Werbung ist oft viel stärker als der politische Diskurs. Viele junge Leute wachsen in eine schöne bunte Welt hinein und ihre wichtigste Frage ist, ob sie nun die richtigen Turnschuhe haben. Die Frage ist nicht mehr, ob sie die richtige Meinung haben oder die richtige Art sich zu engagieren. Wenn da nicht aus der Lehrerschaft, aus der Elternschaft das Erwachen kommt, ja dann sehe ich wirklich schwarz. Deswegen engagiere ich mich auch so stark im Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ und suche immer nach Verbündeten.

Das Thema junge Leute und Verantwortung ist momentan sehr präsent. Etliche Dokumentarserien zeigen, dass Jugendliche und junge Erwachsene oft nicht mehr in der Lage sind, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen…
Verantwortung muss man trainieren. Ich finde, dass die Jungendlichen heute ganz gute Voraussetzungen haben, so etwas zu trainieren. Es fängt in der Schule an. In unseren Schulen, in einer Demokratie können wir Klassensprecher wählen. Früher haben wir FDJ-Sekretäre gewählt und davor HJ-Führer.
Wenn ich in einem Betrieb bin, kann ich heute eine freie Gewerkschaft erleben, früher den FDGB und Gehorsamseinübung. Deswegen brauchen wir das Training dieser ermächtigenden Faktoren. Wenn Lehrer, wenn die Öffentlichkeit das vernachlässigt, dann bekommen wir eine Gesellschaft der Zuschauer. Wenige Macher lenken dann die Geschicke von vielen, während die Masse dann nicht mehr Bürger sind, sondern nur noch Konsumenten.

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