Herr Kaiser, waren Sie vor kurzem bei Paul Potts in der Münchner Philharmonie?
Nein. War ich nicht.
Warum nicht?
Ich war verreist, ich konnte nicht.
Wären Sie gegangen?
Ja, doch.
Glauben Sie, dass das Publikum ein natürliches Gefühl für Qualität hat?
Die breite Masse jener Menschen, die ihr Leben mit Kultur und Kunst verbringen, hat einen gewissen Instinkt und reagiert bei einer Aufführung normalerweise richtig. Ich meine nicht die Leute, die gelegentlich mal ins Theater gehen und nur auf Sensation aus sind. Menschen, die oft in Konzerte gehen, können vielleicht ihre Meinung nicht immer formulieren, aber sie liegen im Allgemeinen richtiger als manche Fachleute.
Paul Potts kennen Millionen aus dem Fernsehen. Kann man Klassik-Stars in einer Casting-Show entdecken?
Warum nicht? Ob einer eine schöne Stimme hat, hört man auch über‘s Fernsehen. Man müsste dann sehen, ob derjenige auf einer Opernbühne bestehen kann. Das Gefährliche am Fernsehen sind aber nicht die Shows oder Unterhaltungssendungen. Ich habe auch nichts gegen eine nackte Frau auf dem Bildschirm, solange sie hübsch ist.
Sondern?
Das Gefährliche ist, dass das Fernsehen den Zuschauer nicht mit einem komplizierten Gedankengang überfordern will. Man bekommt alles stückweise und harmlos. Bloß keine Konzentration. Das tut der Kunst nicht gut. Wenn ich so eine dämliche Sendung über Beethoven, Goethe oder Hölderlin sehe, wo man ein bisschen was lernt, sich ein nettes Zitat merkt und denkt, der Fall ist erledigt. Das verdirbt die Menschen mehr als gezielte Unterhaltungsprogramme.
Aber ist Ihnen eine Sendung über Hölderlin nicht lieber als beispielsweise Wetten, dass..?…
Kommt darauf an. Ich bin mit Thomas Gottschalk befreundet, er ist ein hinreißender Kerl, geistreich und schlagfertig, genau wie Harald Schmidt. Aber ich habe vor kurzem in diese neue Show von Oliver Pocher geschaut. Ich finde es eine Schande für die Nation, dass sowas überhaupt möglich ist, dass so ein alberner Dummkopf ernst genommen wird.
Kommen wir zurück zur Musik: Wie beeinflussen die Medien die Qualität der Künstler?
1991 starben drei große alte Pianisten: Wilhelm Kempff, Rudolf Serkin und Claudio Arrau. Damit ging doch eine Ära zu Ende. Man kann nicht sagen, dass die jungen Pianisten schlecht sind oder reine Techniker, aber früher war die Intensität beim Spiel größer, und meiner Meinung liegt das daran, dass die alten Künstler in einer Zeit aufgewachsen sind, in der die Beobachtung durch die Medien nicht so groß war.
…und sie nicht unter dem Druck standen perfekt zu sein?
Ein Wilhelm Furtwängler wollte auch keine falschen Töne, aber Rundfunk, Aufnahmetechnik, Fernsehen und Internet gab es nicht in diesem Ausmaß. Früher konzentrierte man sich nur auf’s Muszieren und hatte keine Angst Fehler zu machen, die dann rausgeschnitten werden müssen oder ansonsten um die ganze Welt gehen. Und wenn man weiß, dass man nichts falsch machen darf, flacht die Interpretation ab.
Sie bevorzugen Live-Mitschnitte?
Maurizio Pollini hat in den 60er Jahren in München Chopin Etüden eingespielt. Es war fabelhaft, nur ein halber Ton war nicht ganz richtig. Er hat es sicher zwanzig Mal wiederholt. Am Ende war es perfekt und gleichzeitig tot. Eigentlich war der erste Durchlauf der Beste. Live-Mitschnitte haben manchmal falsche Töne, Huster aber auch eine große Spontaneität, die im Studio verloren geht, wenn man weiß, diese Aufnahme ist jetzt für die nächsten dreißig Jahre.
Sie haben im Laufe der Jahre unglaublich viele Künstler und Entwicklungen kennen gelernt …
Das ist eine charmante Anspielung auf mein Alter…
…und 2008 beim „Echo“ den Sonderpreis der Deutschen Phonoakademie bekommen. Der Echo wird an Sänger und Instrumentalisten vergeben, aber beispielsweise nicht an zeitgenössische Komponisten.
Die zeitgenössische Musik spricht im Gegensatz zur großen Klassik keine repräsentative Anzahl an Menschen an. Ich selbst habe mir mein Studium mit Einführungen in moderne Musik von Schönberg, Berg, von Webern oder Strawinsky, verdient. Auch wenn es altmodisch klingt, ich glaube, die große Symphonik hat eine andere Qualität als zeitgenössische Musik.
Gilt das auch für moderne Literatur?
Was Literatur betrifft, bin ich ausgesprochen für die Moderne. Ingeborg Bachmann oder Samuel Beckett finde ich hoch spannend. Bei Musik bin ich konservativer.
Verrisse lesen sich deshalb so gut, weil die Werbung nichts Negatives sagt.
Warum?
Die Welt der Worte ändert sich, immer kommt etwas Neues. Jeder Schriftsteller entwirft eine neue Realität. Die Musik hingegen besteht aus zwölf Tönen, das war schon bei Bach, Mozart, Schumann und Wagner so. Die Fülle der Kombinationsmöglichkeiten ist zwar groß, aber es wird einem Wolfgang Rihm sehr schwer gemacht, auf seine Weise noch einmal Tristan und Isolde zu komponieren.
In diesem Jahr erhält Plácido Domingo den Echo für sein Lebenswerk. Einverstanden?
Wer sich in einem so gefährlichen Beruf so lange an der Spitze hält, ist fast immer erstklassig. Plácido Domingo hat eine ganze Epoche gemacht. Bei vielen jüngeren Künstlern frage ich mich allerdings, wie lange das gut gehen wird.
Verwenden wir heutzutage zu schnell zu viele Superlative?
Wir leben in einer Atmosphäre von Werbung und das merkt man z.B. in der Literatur. Ehemalige DDR Autoren schreiben oft ein sehr vernünftiges und gepflegtes Deutsch. In der DDR gab es in dem Sinne keine Werbung. Autoren im Westen merken gar nicht, wie sehr unsere Sprache mit Floskeln aus der Werbung durchsetzt ist. Unsere positiven Ausdrücke sind alle abgenutzt. Verrisse lesen sich deshalb so gut, weil die Werbung nichts Negatives sagt.
Und kritische Menschen werden generell ernster genommen als die, die loben…
Schadenfreude verbindet die Menschheit. Auch Künstler haben es nicht ungern, wenn über Kollegen schlecht geurteilt wird. Ich habe früher tatsächlich viel negativer und schärfer geschrieben, es steckte schon ein „Ich weiß es besser, als…“ drin. Mittlerweile macht es mir viel mehr Spaß, die Menschen auf etwas Nützliches hinzuweisen, als nochmal nachzuweisen, dass ich schlauer bin als alle anderen.
Gibt es ein bestes Alter für einen Kritiker?
Die Frage hat mir noch niemand gestellt.
Na bitte!
Unter 35 ist man ein bisschen zu jung und ein bisschen zu keck. Nach oben gibt es keine Grenze. Für Männer ist die beste Zeit so Anfang 50. Da ist das Lebensgefühl ziemlich stark und die Erfahrung ziemlich groß. Da übernehmen sich dann die meisten und krepieren. Wenn Männer älter werden als 60 muss man sie irgendwann mal totschlagen
Dabei sind Sie doch jetzt in einem Alter, wo man Ihnen alles glaubt…
Man hat mir immer eine ganze Menge abgenommen. Ich schreibe ganz selten mit Schaum vor dem Mund. Wenn man einen so ernst nimmt, dass man ihn kritisiert, muss man ihm auch eine gewisse Achtung bezeugen. Ob mir alles geglaubt wurde, weiß ich nicht. Wer mit mir spricht, ist immer sehr freundlich. Negatives sagt man nur hinter meinem Rücken.
Hilft die eigene Eitelkeit?
Alle Kritiker sind eitel.
Muss das sein?
In der Kunst können Sie keine Beweise führen. Ich kann nicht beweisen, dass Goethe besser ist als Emanuel Geibel. Ich kann diese Meinung vertreten und sie plausibel machen und das macht eitel. Ein Mathematiker sagt 3 x 3 = 9. Das ist ein Fakt. Warum sollte der also eitel sein?
Welche Eigenschaften muss ein guter Kritiker denn noch haben?
Er muss konzentrationsfähig sein. Und, das Wichtigste, gegen seinen eigenen Geschmack urteilen können.
Wer oder was ist denn nicht Ihr Geschmack?
Friedrich Gulda spielte ungeheuer motorisch und wahnsinnig rhythmisch, kalt wie eine Hundeschnauze, der lag mir eigentlich nicht. Ich mochte Artur Rubinstein oder Edwin Fischer, mit mehr Sentiment. Aber wenn ich über den einen nur negativ geschrieben und die anderen gelobt hätte, wäre ich ein schlechter Kritiker gewesen. Denn bei Gulda ist die wahnsinnige Genauigkeit des rhythmischen Gefühls schon beeindruckend. Ich habe eine große Schwäche für slawische Musik, da würden mir auch Werke gefallen, die nicht so gut sind. Mit südamerikanischer Musik kann nicht viel anfangen. Aber man muss Qualität auch spüren, wenn einem etwas nicht liegt.
Marcel-Reich Ranicki hat 2008 den Deutschen Filmpreis abgelehnt. Könnte Ihnen so etwas auch passieren?
Er musste sich schrecklich dämliche Dinge ansehen. Ein Klassik-Preis ist anders. Bei einer Verleihung wie dem Echo werden natürlich, wie beim Film, auch nur Ausschnitte präsentiert, aber wenn die erstklassig und virtuos gespielt werden, warum nicht. Es steht natürlich in keinem Verhältnis zu einer Aufführung eines bedeutenden Werkes in einem großen Saal. Allerdings sind Preise finanziell sehr einträglich.
Sind Preise heutzutage noch wichtig für eine Karriere?
Ja, als Künstler hat man etwas in der Hand. Man kann ja schlecht von sich selber sagen: Ich bin so gut. Aber wenn man gute Kritiken, Auszeichnungen und Preise hat, ist das was wert. Und sie ermutigen Sponsoren.
Allerdings hat man früher auch ohne Wettbewerbe Karriere gemacht..
Ich halte Wettbewerbe für sehr wichtig. Ich kriege dauernd irgendwelche Aufnahmen von jungen Instrumentalisten, die mir vorspielen wollen. Ich frage sie, ob sie große Preise gewonnen haben. Ob erster oder zweiter Platz ist nicht so wichtig, aber man sollte mehrmals in die Endrunde gekommen sein. Das zeigt, dass man auch unter Druck ein hohes Niveau besitzt.
Gibt es verborgene Talente?
Es gibt eine große Zahl von mittleren Talenten, die sich auf die Füße treten. Aber wenn einer gut ist, wird er im Allgemeinen bekannt. Ich glaube nicht, dass es viele unentdeckte Mozarts oder Bruckners gibt.
Wird einer überschätzt?
Bei Lang Lang frage ich mich schon, ob der wirklich so interessant ist, dass um ihn herum abgesperrt werden muss.
Er ist ein Weltstar.
Er hat Charisma. Und etwas, das die Leute fasziniert. Er kann auch technisch viel. Und wenn man wie er oder Anna Netrebko erst mal berühmt ist, haben die Leute vielleicht immer noch etwas einzuwenden, aber hören will sie trotzdem jeder.