Joachim Perels

Das Vernünftigste wäre, ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments zu schaffen.

Joachim Perels über die Vertrauensfrage, das anstehende Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Unterhaltungen mit Gerhard Schröder und den Wahlkampf 2005.

Joachim Perels

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Herr Perels, nachdem Bundeskanzler Schröder am 1. Juli 2005 die Vertrauensfrage im Deutschen Bundestag gestellt und verloren hatte, löste Bundespräsident Horst Köhler am 21. Juli 2005 den Bundestag auf und machte so den Weg für eine mögliche Neuwahl am 18. September 2005 frei. Hat Sie diese Entscheidung überrascht?
Perels: Nein, die Entscheidung hat mich nicht überrascht, das war zu erwarten gewesen. Köhler hat seine Entscheidung hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der politischen Akzeptanz gefällt und ist von einer Krisenlage ausgegangen, die nun eine neue Legitimation für eine bessere Krisenbewältigung erfordert. Die rechtliche Frage, also wie es um die Legalität des Verfahrens bestellt ist, hat Köhler in seiner Rede jedoch nur äußerst knapp abgehandelt.

Warum hat er denn diesen juristischen Aspekt Ihrer Meinung so erheblich vernachlässigt?
Perels: Ich müsste ihn selber fragen, doch wenn man sich seinen Redetext aufmerksam durchliest, bekommt man den Eindruck, dass im Präsidialamt schon sehr intensiv über die rechtlichen Fragen diskutiert wurde, doch dann hat man es sich in gewisser Weise sehr einfach gemacht, indem man sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1983 bezogen und gesagt hat, dass es schon einmal so einen Fall gab, wo ein Kanzler die Mehrheit im Parlament hatte, dann aber obgleich dieser Mehrheit eine kräftigere Legitimation wünschte und so eine "künstliche Vertrauensfrage" gestellt hat, die dann auch entsprechend verneint wurde, so dass der Weg zu einer Neuwahl frei war. Dieses Verfahren wurde vom damaligen Bundesverfassungsgericht gebilligt, allerdings wurden für eine mögliche Wiederholung einer solchen Situation strenge Vorgaben gemacht.

Das aktuelle Vorgehen widerspricht in gleich mehreren Punkten den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1983, als der damalige Bundespräsident Karl Carstens, 21 Monate vor dem eigentlichen Ende der Legislaturperiode, den 9. Deutschen Bundestag auf Antrag von Bundeskanzler Helmut Kohl auflöste, infolgedessen die Parlamentsauflösung auf Wunsch des Kanzlers bei letzlich bestehenden Mehrheiten zum Zwecke der Neuwahl heutzutage gar nicht zulässig ist. Kann Köhler diese Hürden einfach ignorieren?
Perels: Nehmen wir mal an, es gäbe die Entscheidung von 1983 gar nicht, dann könnte Köhler nicht so entscheiden, wie er es in diesem Fall getan hat, denn der berühmte Artikel 68 des Grundgesetzes sieht vor, dass die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten nicht künstlich herbeigeführt werden kann, sondern eine reale Form des Vertrauensentzuges des Kanzlers gegeben sein muss. Somit beansprucht der Bundestag der Sache nach, von sich aus das Parlament aufzulösen, was der Artikel 68 eigentlich ausschließen wollte. Die einzige verfassungsrechtlich korrekte Lösung wäre in diesem Fall, die Verfassung zu ändern, und dem Deutschen Bundestag ein Selbstauflösungsrecht mit dreiviertel Mehrheit zu geben. Wenn diese Möglichkeit aber noch nicht besteht, kann die Vertrauensfrage nicht in unkorrekter Weise gestellt werden. Die Schwierigkeit besteht nur darin, dass das Bundesverfassungsgericht, wie manche sagen, 1983 eine problematische Entscheidung getroffen hat, indem es ein ähnliches Verfahren hat passieren lassen.

Der frühere Verfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz, aber auch politische Größen wie Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) oder Gregor Gysi (Die Linkspartei.PDS) sprechen sich öffentlich für ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages aus. Halten Sie es für realistisch, dass es zu dieser Verfassungsänderung kommt?
Perels: Erstens gehe ich davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht in den Bahnen der Entscheidung von 1983 judizieren wird, also die Auflösung des Bundestages akzeptieren wird. Vielleicht wird es einige Sondervoten geben, die auf dem Verfassungstext beharren, der in meinen Augen nicht in vollem Einklang mit der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgericht steht, aber wenn dann gewählt worden ist und eine neue Regierung ihr Amt aufnimmt, werden alle Parteien, aus dem was sich da jetzt am Rande der Verfassung entwickelt hat, die Schlussfolgerung ziehen, dass es das vernünftigste wäre, ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments zu schaffen.

Welche Nachteile hätte ein solches Selbstauflösungsrecht hinsichtlich des politischen Alltags in Deutschland?
Perels: Ich würde keine großen Nachteile sehen, wenn eine Parlamentsauflösung nur durch dreiviertel Mehrheit beschlossen werden könnte, doch wenn es auch durch eine einfache Mehrheit ginge, dann würden große Nachteile bestehen. Das ist ja bereits jetzt der Fall, dass derjenige, der die Mehrheit hat, eine künstliche Minderheitsposition für den Kanzler erzeugen kann, die dann zu seinen Gunsten ausschlägt. In dieser Situation muss man aber bedenken, dass die Lage für die Durchsetzung der verfassungsrechtlichen Regelungen äußerst schwierig war, weil eben alle großen Parteien der Auffassung waren, dass es zu Neuwahlen kommen müsse. Da ist das Verfassungsrecht dann gewissermaßen die schwache Gegenposition, es sei denn, dass das Gericht diese schwache politische Gegenposition rechtlich angemessen würdigt und ihr zum Durchbruch verhilft. Es gibt ja viele Beispiele, in denen das Verfassungsgericht entgegen der einstimmigen Meinung des Parlaments entschieden hat, zum Beispiel als es am 15. Dezember 1983 das Volkszählungsgesetz für verfassungswidrig erklärte, oder dem Kanzler Konrad Adenauer trotz absoluter Mehrheit im Jahre 1961 ein staatsnahes Fernsehen versagte. Das heißt, die Güte der Verfassungsrechtssprechung ist eigentlich daran wesentlich gebunden, wie weit es in der Lage ist, die Machtlagen nicht in Verfassungsrecht umschlagen zu lassen.

Wie glauben Sie hat sich denn Schröder am Tag der Vertrauensfrage gefühlt? Was ging da in Ihm vor?
Perels: Ich kenne Gerhard Schröder aus mehreren Gesprächen, und habe auch schon vor 20 Jahren mit ihm kooperiert, allerdings damals noch auf einer sozialistischen Position, die bei ihm inzwischen nicht mehr existent ist. Ich denke, was bei ihm vorgegangen ist, war eine taktische Überlegung. Da war ein sehr guter Artikel von Henning Ritter in der F.A.Z zu der Taktik von Schröder, in dem Ritter ganz zurecht bemerkte, dass durch die letzten Landtagswahlen in Nordrein-Westfalen die SPD aus ihrem Stammland verdrängt wurde, infolgedessen sich alle Aufmerksamkeit auf den Niedergang der SPD konzentriert hat. Schröder hat dann durch die Vertrauensfrage einen taktischen Gegenzug vollzogen, und die Aufmerksamkeit von der Niederlage der SPD auf die möglichen Neuwahlen gelenkt.

… und damit die Selbstreflexion über das Versagen der SPD aus der öffentlichen Debatte verdrängt.
Perels: Ja, doch selbst in diesem Vorgehen findet sich eine Niederlage, denn das Ablehnungspotential, was sich in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat, wurde nun quasi verdoppelt und äußert sich in Form der neuen Linkspartei. Diese Kalkulation fehlt bei Herrn Schröder. Schröder hat durch die Forderung nach einer Neuwahl eine Auffassung übernommen, die möglicherweise auch seine Gegnerin vertreten würde, und ihr somit den Wind aus den Segeln genommen. Das macht er öfter …

Zitiert

Schröder besitzt einen unglaublichen taktischen Verstand, und kann genau abmessen, welche Antwort in welcher Situation die passende ist.

Joachim Perels

Inwiefern hat sich Gerhard Schröder im Laufe seiner Politikkarriere verändert?
Perels: Dazu kann ich so direkt nichts sagen! Ich will ja gar nicht ableugnen, dass er ein äußerst begabter Politiker ist, weil er eben im unmittelbaren Gespräch in der Lage ist, sich nicht nur taktisch, sondern auch emotional auf seinen Gesprächspartner einzulassen. Schröder besitzt einen unglaublichen taktischen Verstand, und kann genau abmessen, welche Antwort in welcher Situation die passende ist. Außerdem muss man sagen, dass er, zum Beispiel im Zuge des Krieges gegen den Irak im Jahre 2002, eine sehr mutige Auffassung vertreten hat, da er sich nämlich entschieden gegen die Pläne und den Druck der Bush-Regierung gestellt hat. Das hat ihm dann ja letztendlich auch den Wahlsieg 2002 eingebracht.

Mit welchem Wahlergebnis rechnen Sie bei der Bundestagswahl 2005?
Perels: Durch das Aufkommen der Linkspartei ist die Frage, welche Koalition nun zukünftig in Berlin regieren wird, wieder offener als vorher. Es kann sein, dass wenn es summerisch nicht für eine CDU/FDP-Regierung reichen sollte, eine große Koalition gebildet werden muss. Es kann aber auch sein, dass es doch für eine CDU/FDP-Regierung reicht und dann wäre Schröders Kalkulation nicht aufgegangen. Seine Kalkulation scheint mir die zu sein, dass wenn wir schon nicht weiter als Nummer 1 regiereren können, dann wollen wir wenigstens mitregieren, denn Opposition bedeutet für die SPD die Reflexion der Regierungsjahre Schröders und auch den damit verbundenen Fehlern und Niederlagen.

Welche Fehler sind das Ihrer Meinung nach?
Perels: Die SPD müsste sich eingestehen, dass sie bestimmte sozialdemokratische Positionen im Umgang mit der ökonomischen Krise aufgegeben und teilweise auch die Schutzposition für Jugendliche vernachlässigt hat. Über 500.000 Jugendliche werden durch "Hartz 4" in die Armut gestürzt, um nur ein erschreckendes Beispiel zu nennen.

Finden Sie sich als sozialdemokratisch denkender Mensch eigentlich im Parteiprogramm der Linkspartei wieder?
Perels: Ich habe zu der Linkspartei ein gespaltenes Verhältnis, allerdings muss ich dazu sagen, dass ich eigentlich zu keiner Partei ein unmittelbar identifikatorisches Verhältnis habe. Bei der Linkspartei habe ich das Gefühl, das sie in zwei Hälften zerfällt. Die eine Hälfte zeigt, dass sie gute sozialdemokratische Positionen aufgeschrieben haben, was zum Beispiel den Umgang mit einer ökonomischen Krise und dem Schutz derer, die davon betroffen sind, angeht. Es gibt aber auch Positionen innerhalb der Linkspartei, vor allem die von Oskar Lafontaine, die mich zur Empörung führen. Lafontaine hat gesagt, wenn ich das jetzt richtig aus den Zeitungen entnehme, dass ein Verbrecher, der ein Kind entführt, unter bestimmten Umständen unter Folter gesetzt werden könne, um Auskunft darüber zu geben, wo das Kind festgehalten wird. Das hat zur Folge, dass die Anwendung von Folter somit in gewisser Weise legitim wird. Es ist mir unbegreiflich, dass ein ehemaliger Vorsitzender der SPD und nun Spitzenmann der Linkspartei, das zivilisatorische Recht aushebeln will. Das einzige was mich freut ist, dass es innerhalb der Linkspartei bereits Gegentendenzen zu Lafontaine gibt, so gibt es beispielsweise einen Beschluss der WASG, der diese Position aber auch Lafontaines Begriff der "Fremdarbeiter", verneint und kritisiert. Das finde ich sehr wichtig!

Der derzeitige Bundestags-Wahlkampf ist bereits in vollem Gange und eigentlich rechnet keiner mehr damit, dass eine Neuwahl durch das BVG blockiert wird. Was würde passieren, wenn die Vertrauensfrage doch als verfassungswidrig eingestuft werden sollte?
Perels: Ich denke nicht, dass es zum Ausnahmezustand kommen würde, denn das wäre ja nur der Fall, wenn die normale Rechtsordnung nicht mehr funktionieren würde, wie beispielsweise bei einer Flutkatastrophe. Die Parteien hätten ein bisschen zuviel Geld verausgabt, und manches an Aktivitäten entfaltet, was dann in gewisser Weise ins Leere laufen würde, aber nach zwei Wochen hätten sie wieder Fuß gefasst und würden sich auf die neue Situation einstellen.

Wie beurteilen Sie denn den derzeitigen Wahlkampf, der vor allem durch die provokanten Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoibers über die Frustration der Ost-Deutschen und die Kontroversen um das Linksbündnis von Oskar Lafontaine und Gregor Gysi geprägt ist?
Perels: Wenn man sich die einzelnen Parteien ansieht, hat sich beispielsweise die CDU nicht nur durch das Verhalten von Stoiber, sondern auch durch die Benennung Paul Kirchhofs als Finanzexperten ein Problem zugezogen. Damit rückt ein Mann in den Vordergrund, der eine Position vertritt, die mit dem Wahlprogramm der CDU in bestimmten Punkten im Widerspruch steht. Hierbei geht es um die Frage nach der Vereinfachung des Steuersystems und den damit verbundenen Änderungen, durch die nicht etwa eine größere Steuergerechtigkeit zustande käme, sondern eine Steuerungerechtigkeit verschärft würde. Interessant ist, dass diese Meinung Kirchhofs in der CDU/CSU selbst erheblichen Widerspruch findet. Der Sozialexperte Horst Seehofer (CSU) hat öffentlich gesagt, dass in Merkels Kompetenzteam die soziale Komponente fehle, und das zielt, so weit ich das sehe, direkt gegenKirchhof. Dadurch besteht letztendlich die Gefahr, dass die CDU ihre Anhängerschaft, sagen wir die christlich soziale Arbeitnehmerschaft, nicht ausreichend mobilisieren kann. Ansonsten stimmt es schon, dass die wirklich zentralen Themen der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands in der letzten Zeit wenig zur Sprache gekommen sind, weil die Debatte über provokante Äußerungen Stoibers und Schönbohms oder auch die Diskussion über die Anzahl der TV-Duelle zwischen Schröder und Merkel leider einen viel zu großen Platz eingenommen haben.

Wissen Sie schon, wem Sie möglicherweise am 18. September 2005 Ihre Stimme geben werden?
Perels: Man sagt ja immer man würde sich für das kleinere Übel entscheiden, also für die Partei, die trotz aller Minuspunkte immer noch die meisten Pluspunkte aufweisen kann, aber ich kann das jetzt noch nicht genau sagen. Die Wahl ist aber ja auch erst am 18. September 2005.

Prof.Dr. Joachim Perels, geboren 1942, studierte in Frankfurt/M. und Tübingen Rechtswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft. Seit 1983 doziert er als inzwischen emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der mehr

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