Johannes Rau

Die Wissenschaft muss darauf achten, dass ihre Ergebnisse verwertbar sind.

Bundespräsident Johannes Rau über Hochschule, Bildungsfinanzierung und die Wissensgesellschaft

Johannes Rau

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Moderator: Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Studierende, wir freuen uns sehr, dass der Bundespräsident hier und heute bei uns zu Gast ist und freuen uns darüber Herr Bundespräsident, dass Sie das Gespräch suchen mit den Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern. Zum Lebenslauf unseres Präsidenten möchte ich nur soviel sagen: 1970 war sein erstes Ministeramt das des Wissenschaftsministers in Nordrheinwestfalen, wo er noch so richtig gegründet hat in einer Phase, wo man neue Universitäten noch neu gründen konnte, 5 Universitäten, Hagen als Fernuniversität. Er ist also den Themen, Wissenschaft, Forschung und Bildung seit langem eng verbunden. Ich deute seinen heutigen Besuch damit, dass deutlich gemacht werden soll wie hoch der Stellenwert von Wissenschaft, Forschung und Bildung auch für den Präsidenten Rau ist – Herr Bundespräsident, die Bühne gehört Ihnen.

Rau: Meine Damen und Herren, ich will auch nicht viel Einleitungssätze sagen, denn wir haben nur begrenzt Zeit und die soll mehr dem Fragen und Antworten dienen. Ich bin überzeugt davon und habe das schon versucht in der ein oder anderen Rede zu sagen, dass wir in Deutschland eine neue Bildungsdiskussion brauchen und dass diese Diskussion sich vor allem um die Inhalte und Ziele von Bildung kümmern und denen nachgehen muss. Dass wird sicher eine streitige Diskussion und in der würde ich mein Wort gerne sagen. Wir haben in Deutschland ein sehr differenziertes Bildungssystem, es gibt große Erfolge, es hat manche Defizite, manches sieht man auch erst klarer, wenn man nicht mehr im System ist. Ich war gut acht Jahre Wissenschaftsminister in Nordrheinwestfalen, war dort anschließend 20 Jahre Ministerpräsident und musste mich etwas zurücknehmen, was die Wissenschaftspolitik anging, um allen gerecht zu werden. Jetzt bin ich in der schönen Situation, dass ich fröhlich meine Meinung sagen kann aber keinen Einfluss auf Haushaltstitel habe, ob ich mich daran gewöhne wird man sehen. Aber heute gehen Sie mit mir um nach dem Bibelwort: heute hat ihn der Herr in unsere Hand gegeben.

Thomas F. (Philosophie/Gender Studies): Sehr geehrter Herr Rau, ich bin heute hier, weil ich bestrebt bin an der Technischen Universität Berlin den Studiengang Diplom-Medienberatung belegen will. Dieser Studiengang ist finanziell total unterbemittelt und wird strukturell weiterhin niedergemacht. Professorenstellen werden gestrichen, der Studiengang droht abzustürzen und das obwohl Medien die Zukunft sind. Wenn ein Studiengang, wo Inhalte für die Zukunft da sind, so unterbemittelt wird kann ich das nicht verstehen.

Rau: Ich kann natürlich im Einzelnen nicht sagen, warum an welcher Hochschule welcher Studiengang eingestellt oder reduziert wird. Ich weiß nur, dass in allen 16 Bundesländern der Versuch gemacht wird unter Rationalisierungsgesichtspunkten ohne Qualitätsverlust, Studiengänge zusammenzulegen, zu koordinieren oder zur Kooperation zu kommen. Wie sich das mit dem angesprochenen Medien-Lehrstuhl verhält, dass müssten die beantworten, die in Berlin für die Wissenschaftspolitik zuständig sind. Solche Entscheidungen gehen über die Kompetenz einer Hochschule weit hinaus, eine solche Streichung oder Ausdünnung geschieht ja nicht durch die Hochschule sondern hängt zusammen mit der Wissenschaftspolitik des Landes.

Dietmar B.(Humanmedizin): Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich habe zwei Fragen. Erstens: Ich möchte Sie gerne beim Wort nehmen. Am 7.November bei der Preisverleihung der Robert-Bosch Stiftung für humanitäre Hilfe in Mittel- und Osteuropa haben Sie unterstrichen, dass Ihnen das Engagement von Mensch zu Mensch wichtig ist, dass es wichtig ist, nicht auf die große Politik zu warten, sondern selbst initiativ zu werden. Ich begrüße die Entwicklung der Hochschulautonomie sehr, habe aber das Gefühl, dass bei dieser Entwicklung die Mitbestimmungsmöglichkeiten und die Initiativmöglichkeiten aller oder der meisten Beteiligten reduziert werden und dass damit wichtige Möglichkeiten von Reformimpulsen, die oft von Studierenden kommen, nicht mehr gegeben sein werden. Im Rahmen neuer Hochschulgesetzgebung wie Hochschulranggesetz und universitäre Gesetzgebung hier in Berlin, sehe ich, dass die Möglichkeit zum Engagement reduziert wird – das finde ich, ist ein falsches Signal an junge Studenten in Deutschland. Zweitens, Es gibt in Deutschland eine sehr diversifizierte Bildungsfinanzierung und doch wird immer wieder versucht – wichtige Stiftungen stehen dahinter, wie die Hans-Böckler-Stiftung oder die Bertelsmann-Stiftung – den einen großen Hebel für die Bildungsfinanzierung zu finden. Ich finde das falsch und denke vielmehr, man sollte die derzeitige Bildungsfinanzierung in Deutschland ausbauen, konkret Dinge ausbauen, die bereits vorhanden sind. Ein wichtiges Moment der Bildungsfinanzierung sind für mich die Tutorenverträge, die studentischen Arbeitsmöglichkeiten. Wichtige Reformimpulse kommen aus den Tutorien, aus der Arbeit von Studierenden, die private Bildungsfinanzierung betreiben in dem sie an der Universität arbeiten und das Geld im Prinzip in ihre Bildung reinvestieren. Tutorenverträge sind in Berlin ja etwas ganz besonderes, aber anstatt dieses Modell auf ganz Deutschland auszuweiten, es als Modell der privaten Bildungsfinanzierung darzustellen und zu nutzen redet man über die Abschaffung dieser Verträge.

Rau: Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass wir ein stärkeres Engagement der Bürger für unsere Gesellschaft brauchen, nicht nur für unseren Staat. Darum ist das, was ich in Potsdam gesagt habe nach meiner Überzeugung nach wie vor richtig und ich werde es immer wieder wiederholen auch wenn ich dazu immer kritischere Stellungnahmen bekomme. Wir haben in Deutschland eine Tradition der Bildungsfinanzierung, nach der ist Bildung eine öffentliche Aufgabe und sie ist Sache des Staates, seit der Gründung der Bundesrepublik im wesentlichen Aufgabe der Länder. Ich bin für die Beibehaltung dieser Pflicht, ich bin gegen das Austauschen gegen ein amerikanisches System der privaten Bildungsfinanzierung durch Stiftungen, Vermächtnisse und ähnliches. Ich bin nicht gegen die Ergänzung durch Stiftungen oder Stiftungslehrstühle. Aber da die Amerikaner ein völlig anderes Steuersystem haben als wir, hielte ich es für gefährlich, wenn wir diesen Weg gingen, in dem wir die staatliche Finanzierung zurücknehmen, gewissermaßen zurücknehmen ins zweite Glied, das würde einen Zusammenbruch bedeuten. Deshalb sage ich, Bildung ist zuerst Aufgabe des Staates und es ist in den Ländern die erste Aufgabe der Länder, weil sie da die eigentliche Kompetenz haben. Freilich, wenn wir 16 verschiedene Länder haben mit verschiedenen Entwicklungen auch der Hochschulgesetze, werden sie nicht verhindern können, dass sich unterschiedliche Entwicklungen ergeben was zum Beispiel Mitwirkung von Studenten oder wissenschaftlichen Mitarbeitern angeht, da spielen landespolitische Traditionen und politische Meinungen eine große Rolle. Ich finde das nicht schädlich. Ich glaube aber, wir brauchen eine Autonomie aller Hochschuleinrichtungen und aller Bildungseinrichtungen. Ich glaube auch, dass wir die Schulen aus der staatlichen Gängelung ein stückweit entlassen müssen. Es ist undenkbar, dass ein Schulminister – wie das zum Beispiel in Frankreich der Fall ist – aus dem Kultusministerium entscheidet, welche Klasse an welchem Tage welche Arbeit schreibt. Das ist in einem Land, dass wie mein Heimatland über 7000 Schulen hat völlig undenkbar. Deshalb bin ich dafür, die Schule zu entwickeln zu einem Haus des Lernens in dem Lehrende, Lernende und Eltern zusammenarbeiten. Ich wünsche mir eine Universität, die frei ist von staatlicher Gängelung, die ein Budget-Recht für sich hat und die mit diesem Budget auch Spielräume hat, um Akzente zu setzen. Wie weit die einzelnen Länder dem Raum geben oder geben können, das kann der Bundespräsident nicht entscheiden. Der Preis kann dabei eine verstärkte oder eine reduzierte Mitarbeit der Studenten sein. Ich bin immer noch der Meinung, dass eine Mitwirkung der Studenten dem Prinzip der Teilnahme an der Forschung durch Lehre stärker entspricht als eine reine Professorenhochschule.

Katharina M. (Mathematik/Volkswirtschaft): Guten Tag Herr Rau, ich wollte Sie gerne fragen, was sie zum heftig umstrittenen Thema der Studiengebühren sagen.

Rau: Dazu darf ich nichts sagen.

Katharina M.: Vielleicht Ihre persönliche Meinung?

Rau: Das ist eine Schwierigkeit, will ich Ihnen ganz offen sagen. Ich war bis vor zwei Jahren Ministerpräsident in Nordrheinwestfalen, war stellvertretender Vorsitzender einer politischen Partei, der ich lange angehört habe und die bestimmte Meinungen zu Studiengebühren hat. Ich bin jetzt Bundespräsident, zur Überparteilichkeit verpflichtet. Ich bin nicht mehr auf dem Spielfeld und darum darf ich mich zu aktuellen Fragen, die im Parlament kontrovers diskutiert werden, nicht äußern, das ist der Preis des Amtes – und das Amt ist schön.

Johannes B. (Allg. Psychologie): Sehr geehrter Herr Bundespräsident Rau, ich bin zur Zeit als Dozent an der Humboldt-Universität tätig und auch als freischaffender Wissenschaftler. Meine Frage richtet sich genau auf diesen Bereich, warum ich freischaffender Wissenschaftler sein muss. Sie haben gesagt, dass die Bildungspolitik in unserem Land eine zentrale Rolle spielen muss und ich glaube das ist auch tatsächlich der Fall, weil die Bildung das zentrale Element ist. Ich glaube aber, dass es weniger um eine Bildungspolitik geht, als um eine grundsätzliche Wissenspolitik, d.h. die Frage, wie wir als Volk oder als Gemeinschaft von Menschen überhaupt mit dem Thema Wissen umgehen, wie wir Wissen produzieren und ob das, was wir produzieren überhaupt Sinn macht. Wichtig ist die Frage der Freiheit und des selbstständigen Denkens. Letztlich wird aber die Bildungspolitik auf einer völlig falschen Ebene diskutiert, nämlich immer auf der finanziellen Ebene, ob wir uns der Wirtschaft unterordnen, ob wir Dinge produzieren müssen die anwendungsorientiert sind. In der wissenschaftlichen Praxis herrscht eine ganz andere Art von extremer Unfreiheit. Nämlich die Unfreiheit in einem ganz festen, eben nicht wirtschafts- oder produktorientierten, sondern traditionell festgefahrenen System zu forschen, aus dem man überhaupt nicht ausbrechen kann. Denn jeder, der Mittel vergibt sagt immer, man muss sich als erstes dem Primat von Methoden und Traditionen beugen, die letztlich jeglicher rationalen, zielorientierten, ergebnisorientierten Rechtfertigung entbehren. Meine Frage ist, wieso dieses Thema in der aktuellen Diskussion, eigentlich überhaupt nicht angesprochen wird und sich komischerweise niemand zuständig fühlt für dieses Thema. Wir müssen uns einfach fragen, was ist Wissen, wie sieht Wissen aus, wem nutzt dieses Wissen und was ist demnach die Aufgabe und das Ziel der Wissenschaft und wie können wir rausfinden, wie diese Wissenschaft eigentlich wirklich ergebnisorientiert effizient arbeiten kann. Wieso gibt es keine Institution, welche die Wissenschaft einmal als Produktionsprozess von dem wichtigsten Produkt was es überhaupt gibt heute, nämlich das Wissen, betrachtet und diesen Produktionsprozess untersucht.

Rau: Da gibt es eine ganze Reihe Institutionen und mein Eindruck ist nicht, dass wir zu arm sind an Denkschriften über die Wissensgesellschaft, mein Eindruck ist auch nicht, dass wir zu wenig diskutieren über den Stand der Wissenschaft in der Gesellschaft. Ich warne überhaupt davor, eine Gesellschaft einfach zu etikettieren. Wir sagen jetzt seit ein paar Jahren, die ‚Wissensgesellschaft‘, die ‚Kommunikationsgesellschaft‘, die ‚Informationsgesellschaft‘. Ich finde, das sind alles ziemlich unzulängliche Beschreibungen, ich wünschte mir noch mehr als eine Wissenschaftsgesellschaft eine Denkgemeinschaft, denn die Frage ist, ob wir nicht auf sehr hohem Niveau unwissend sind und ob das, was wir uns an Wissen anhäufen, uns in eine Orientierungslosigkeit bringt, die uns der Beliebigkeit ausliefert. Nun gibt es aber zum Glück beispielsweise die Disziplin der Philosophie, nur muss man dann ihre Werke und Aussagen zur Kenntnis nehmen. Es gibt eine breite Diskussion über den Wert des Wissens, über die Verwertbarkeit von Wissen, über die Unterscheidung zwischen Grundlagen, Forschung und angewandter Forschung und wenn Sie sich einmal die deutsche Forschungsgemeinschaft ansehen, die es stärker mit der Hochschulforschung zu tun hat, oder die Max-Planck-Gesellschaft, die es stärker mit der Grundlagenforschung zu tun hat, dann werden Sie feststellen, dafür geben wir Hunderte von Millionen aus. Freilich, die Grundlagenforschung gibt uns nie die Gewähr, dass nicht anwendungsorientierte Ergebnisse kommen. Das halte ich aber nicht für schlecht, sondern ich halte das für ein ‚donum super additum‘, wie der Lateiner sagen würde. Sie werden nie eine Gesellschaft haben, in der es eine Übereinstimmung gibt, über den Wert von Disziplinen, über den Wert von Bildung und über das Verständnis von Bildung und Wissen, das gehört alles in den ständigen öffentlichen Diskurs.

Johannes B.: Sie haben gesagt, dass es eine breite philosophische und inhaltliche Diskussion gibt, die gibt es ja tatsächlich, aber für die Praxis ist es wichtig, etwas geschieht in dieser Richtung, dass einige von diesen klugen Ergebnissen, gerade methodisch, umgesetzt werden. Es passiert zu wenig auf diesem Gebiet, auch wenn viel diskutiert wird.

Rau: Da würde ich Ihnen zustimmen, würde aber sagen, eine Gesellschaft in der Sie Institutionen abrufen können, um Entscheidungen zu treffen, wird es nicht geben. Die Entscheidungen werden getroffen in einem Diskussionsprozess durch gesellschaftliche Kräfte, deren Durchsetzungskraft sehr unterschiedlich ist.

Ulrich S. (Philosophie): Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich hätte drei Fragen an Sie. Erstens, im Zuge der Bildungsreform in den 70er Jahren ist es ja zu einer Ausweitung der Studentenzahlen an den Hochschulen gekommen. Das hat zur Folge gehabt, dass die Hochschulen Ausbildungsfunktionen übernommen haben, die sie vorher so nicht inne hatten. Wäre es nicht sinnvoll, nach einem gemeinsamen Grundstudium in den meisten Studiengängen, zu differenzieren zwischen einem Ausbildungsstudiengang und einem Forschungsstudiengang, um die Probleme, die mit der Bildungsreform gekommen sind, irgendwie aufzufangen. Zweitens, wenn man jetzt zwischen Ausbildung und Forschung unterscheidet, wo bleibt dann die Bildung? Wäre es sinnvoll, zum Beispiel nach amerikanischem Vorbild, das seinerseits auf Humboldts Ideen zurückgeht, an den Hochschulen eine Art Studium Generale einzuführen, um diesen Bildungsaspekt einer grundsätzlichen Orientierung Rechnung tragen zu können. Drittens, wenn Reformen an den Hochschulen bewegt werden sollen, obwohl es Ländersache ist, ist es klar, das es darüber einer öffentlichen Debatte bedürfte. Und um eine solche Debatte in Gang zu bringen, bräuchte man eigentlich einen Bundespräsidenten, der von ganz oben etwas tut und sich engagiert.

Rau: Ich fange bei der dritten Frage an, man bräuchte solch einen Bundespräsidenten nicht, obwohl es gut ist, wenn man ihn hat. Es hat in der deutschen Nachkriegsgeschichte Zeiten gegeben, in denen wurde die bildungspolitische Diskussion von Gremien bestimmt, ich denke an den deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, ich denke an den deutschen Bildungsrat, das waren die Gremien die sich mit großer Glaubwürdigkeit zu diesen Dingen geäußert haben und die Bildungsreform auch vorangebracht oder gestoppt haben, je nach Inhalt. Was die erste Frage angeht bin ich mit Ihren Prämissen nicht ganz einverstanden. Ich glaube nicht, dass erst die Erhöhung der Zahl der Studenten den Hochschulen einen Ausbildungsauftrag gegeben hat, neben dem Forschungsauftrag. Das Humboldtsche Ideal war immer Forschung und Lehre. Allerdings war es begrenzt auf eine berechenbare Zahl, das waren damals fünf Prozent eines Altersjahrgangs die im Durchschnitt diskutierten und es war eine völlig andere Zeit als das 20. Jahrhundert. Bitte bedenken Sie, das Humboldtsche Gymnasium hatte vier Fächer und sehen Sie sich mal das heutige Gymnasium mit Leistungskursen an, das ist völlig unvergleichbar. Der Bildungsauftrag der Universität und auch der Unterrichts- und Ausbildungsauftrag ist immer da gewesen, er ist nur unterschiedlich wahrgenommen worden. Weiterhin ist ja der Forschungsbegriff nicht ganz eindeutig. Es gibt ja Menschen, die glauben, wenn Sie aufschreiben was sie wissen, hätten sie geforscht – das ist ja ein Irrtum. Die Frage, was ist eigentlich Forschung, als Definition in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften ist äußerst umstritten und längst nicht jede literarische Arbeit ist auch Forschung. Auch nicht jedes wissenschaftliche Experiment ist Forschung. Vergleichen Sie das einmal mit der Entwicklung im Industriebereich und bedenken Sie, dass wir es heute mit einer Forschungslandschaft zu tun haben, in der etwa 40 Prozent an den Universitäten geschieht, 30 Prozent in der Industrie und 30 Prozent an außeruniversitären Forschungsinstituten, Max-Planck, Fraunhofer usw. Das ist sehr viel komplizierter. Freilich lasse ich mit mir darüber reden, ob man Studien anders organisiert, mit Grundstudium und Aufbaustudium, anwendungsorientiert und stärker theorieorientiert, nur darf das dann nicht klassenspezifisch sein. Denn wenn Sie das machen kriegen Sie zum Beispiel immer das Medizinstudium in den theorieorientierten Bereich. Das würde mich als Patient außerordentlich stören, ich möchte lieber im anwendungsorientierten Bereich betreut werden. Da sehen Sie schon die ganze Spaltung, die sich da vollzieht und deshalb gibt es ja auch eine Legion von solchen Vorstellungen. Einer der Lösungsversuche ist die Zuordnung von Fachhochschulen und Universitäten zueinander mit dem Ergebnis, dass viele Universitäten glauben, sich entlasten zu können in Richtung Fachhochschule und viele Fachhochschulen glauben, wenn sie die Universität duplizierten, würden sie bald die Privilegien der Universität bekommen, das sind alles immer Dinge, die sich hart im Raume stoßen.

Student (…): Ich habe eine Anfrage, Nachwuchswissenschaftler, das sind natürlich persönliche Schicksale die gefördert werden müssen. Gibt es den auch Förderungsmöglichkeiten, dass man zum Beispiel daran denkt jungen Nachwuchswissenschaftlern nach ihrer Dissertation in einem befristeten Angestelltenverhältnis zu übernehmen um ihnen die wissenschaftliche Karriere zu erleichtern?

Rau: Ja es gibt eine Fülle solcher Möglichkeiten, sowohl in den Hochschulen als auch durch Post-doc-Stipendien durch wissenschaftliche Forschungseinrichtungen. Da gibt es eine ganze Fülle, nur die sind wiederum in den Ländern unterschiedlich, die sind unterschiedlich in den verschiedenen Disziplinen und es gibt leider auch Fachbereiche in denen ist der Verbleib in der Universität die einzige Möglichkeit der Forscherförderung, das finde ich nicht in Ordnung, aber ich sehe bisher dazu keine Alternative.

HU-Historiker H. A. Winkler: Darf ich noch einmal auf die Frage der Hochschulfinanzierung zurückkommen, ich respektiere völlig, dass sie als Bundespräsident zur Frage der Studiengebühren hier nichts sagen wollen, aber es gibt doch wahrscheinlich auch die Möglichkeit, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, ob es nicht im Sinne eines Diskurses über soziale Gerechtigkeit gute Argumente gibt. Akademikern die infolge ihres Studiums später nach Abschluss ihres Studiums überdurchschnittlich gut verdienen eine gewissen Obolus abzufordern in Anerkennung der Beiträge, die die Universität zum späteren guten Einkommen geleistet hat. Das ist in Australien von einer Labourregierung als Grundgedanke eingeführt worden, später nicht so realisiert worden, dass es insgesamt ein Modell sein könnte, aber gehört es nicht eigentlich zu einem Gerechtigkeitsdiskurs über diese Frage des nachträglichen Beitrags zum materiellen Studienerfolg zu diskutieren, und könnte der Bundespräsident da einen Anstoß geben?

Rau: Ja, das kann er, er muss dabei nur ein paar Randbedingungen bedenken. Erstens, dieser Vorschlag in Deutschland ist ja nicht neu, der erste der ihn gemacht hat, war ein Professor an der Freien Universität, der als erster und viele Jahre dieses Thema in die Diskussion gebracht hat. Zweitens ist das Thema aufgebracht worden in einer Zeit, in der eine Fülle von Hochschulabsolventen abschließend keine angemessene Beschäftigung fanden, sondern Taxi fuhren oder arbeitslos waren, eine Zeit in der keine Lehrer angestellt wurden. Und weil dann der Anteil derer, die nicht unmittelbar in die entsprechenden Einkommensverhältnisse hineinwuchsen so groß war, hat das Thema keine öffentliche Resonanz gehabt. Das dritte ist, wir haben in allen Ländern die ich kenne eine ganz breite Praxis die Alumni heranzuziehen und eine Hochschulcommunity zu bilden, die ganz kräftig ist. Es gibt Universitäten, die sind richtig reich durch Ihre Alumni und durch den Beitrag der da geleistet wird. Ich wünschte mir eine solche Tradition auch in Deutschland. Im übrigen würde Ihnen ein Finanzminister, gleich welcher Farbe sagen, dass wir durch die Steuerprogression diesen Beitrag des Besserverdienenden Hochschulabsolventen schon in die allgemeine Kasse nehmen, deshalb ist es ungerecht ihm einen Spezialbeitrag für seine Hochschule oder seine Hochschulausbildung abzunehmen. Da würde ich dem Finanzminister widersprechen, aber ich würde ihn leider nicht beeindrucken.

Jochen Z. (Jura): Herr Bundespräsident, Sie haben schon oft in Ihrer Amtszeit das Zusammenleben von Ausländern und Deutschen angesprochen, das finde ich sehr gut und gerade für die Wissenschaft ist es sehr wichtig, dass wir hier mit Studenten aus allen Herren Ländern studieren und forschen mit Studierenden. Vielleicht können Sie noch auf Ihren zahlreichen Auslandreisen werben für die deutschen Universitäten, insbesondere für die Humboldt-Universität, die ja in den letzten 10 Jahren einen großen Sprung gemacht hat. Dass hier noch mehr Menschen aus anderen Ländern studieren kommt uns allen zu Gute, glaube ich.

[Applaus im Auditorium]

Rau: Das tu ich sehr gern, und das habe ich auch oft getan, muss allerdings hinzufügen, wenn ich es mit Wirkung tun soll, dann muss das Ausländerecht in solchen Punkten verändert werden. Ich habe vor einiger Zeit in Istanbul einen in Deutschland habilitierten Wissenschaftler getroffen, der mir gesagt hat, ‚Ich komme nicht mehr. Die Art und Weise, wie ich von Zollbehörden behandelt werde, wie die mich anrempeln und Leibesvisitation machen und ich mich in der Stadt meiner Hochschule beim Ausländeramt alle drei Monate melden muss, um nachzuweisen, dass ich noch nicht kriminell geworden bin – das tu ich nicht mehr‘. Und alle Wissenschaftsorganisationen, Hochschulrektorenkonferenz, Max Planck, DFG, Fraunhofer, HFG, alle haben bei mir interpelliert, damit es ein anderes Ausländerrecht für die gibt, die als Studenten oder als Lehrende nach Deutschland kommen, weil es nicht mehr zumutbar ist. Wir haben hier faktisch eine Politik des Aussperrens, die wir gar nicht wollen, die auch die Parteien nicht wollen und ich meine, hier muss etwas geschehen. Da bin ich einig mit Frau Merkel, da bin ich einig mit der Rektorenkonferenz, da bin ich mit allen einig, nur noch nicht mit denen, die die Gesetze machen.

Thomas R. (Sozialwissenschaften): Sehr geehrter Herr Bundespräsident, meine Frage ist tagesaktuell: morgen stimmt der Institutsrat unseres Instituts ab über die Abschaffung des Diplomstudienganges Sozialwissenschaften zugunsten einer Einführung eines Bachelor- und Masterstudienganges, orientiert an einem angloamerikanischen Vorbild. An dieser Problematik möchte ich zwei allgemeine Fragen an Sie aufhängen. Erstens, ist es nicht ein Denkfehler, wenn man auf der einen Seite Professorenstellen und Gelder kürzt und auf der anderen Seite die Qualität der Lehre erhöhen will indem man ihr einen anderen Namen gibt, zeitverkürzt und gleichzeitig an einem englischen Modell orientiert und meint, jetzt wird alles besser obwohl die Finanzierung und Betreuung an solchen Universitäten völlig anders abläuft. Zweitens, es wird in diesem Zusammenhang immer völlig unreflektiert von der Rolle des Arbeitsmarktes gesprochen, der sozusagen als überweltliche Instanz, als Legitimationsinstanz über allem schwebt. Vor über 100 Jahren hat Max Weber sein Diktum der Werturteilsfreiheit geäußert und damit eine Diskussion angestoßen die in den 60er/70er Jahren durch die deutschen Geisteswissenschaften ging. Mir scheint aber, daraus wurde nicht viel gelernt, weil Wissenschaft heute mehr als damals zu einem Instrument und einer Dienerin des Arbeitsmarktes verkommt. Liege ich da richtig, oder sehen Sie das anders?

[Applaus im Auditorium]

Rau: Ich finde trotz des Beifalls, dass Sie da nicht Recht haben, sondern ich glaube, dass die Wissenschaft immer darauf achten musste, dass die Ergebnisse der Wissenschaft verwertbar sind, nicht nur für die Industrie, auch für die Gesamtgesellschaft. Und da haben wir es nun mit der Entwicklung, die kann man im einzelnen nachweisen – wir haben eine hohe Zahl von Studienabbrechern. Da kann man über die Gründe nachdenken – sind die fehlorientiert oder ist das Fach renovierungsbedürftig, das kann man alles diskutieren. Nur dass man eines Tages Überlegungen anstellt, ob es jenseits des akademischen Abschlusses, wie wir ihn haben in Staats – oder Fakultätsexamen noch Zwischenstufen geben könnte, wie das Mastersdegree oder den Bachelor – das finde ich legitim. Das ist in anderen Ländern längst Tradition, ich würde das nicht abkupfern aber ich würde das sinnvoll zu nutzen versuchen. Dabei muss man sich natürlich fragen, ob alles verwertbar sein muss. Es gibt Fächer, deren Ergebnisse durch die Industrie nicht verwertbar sind. Es gibt andere Fächer, die zu studieren – ohne die Frage nach der Verwertbarkeit zu stellen – meiner Meinung nach fahrlässig wäre. Und natürlich müssen die Sozialwissenschaften darüber diskutieren und reflektieren, welchen Ort in der Gesellschaft sie haben und welche Wirkung sie in der Gesellschaft haben und wie die Instrumente dieser Wirksamkeit aussehen. Und da werden Sie sehr schnell feststellen, dass die Sozialwissenschaften kein Solistenfach sein können, sondern dass sie auf Gemeinschaft und Gesellschaft hin orientiert sind, damit brauchen sie auch die Beobachtung von Märkten und von Möglichkeiten. Wie nun morgen die Entscheidung fällt, ob das richtig oder falsch sine wird kann ich überhaupt nicht beurteilen. Auch meine Frau hat ein Mastersdegree an einer britischen Universität in sogenannten Kriegswissenschaften und ich habe sie dringend gebeten, das Fach nicht anwendungsorientiert weiterzuführen.

Michael M. (Landwirtschaft): Sehr geehrter Herr Rau, Sie haben vorhin gesagt, die Schule ist das Haus des Lernens. Jetzt ist es in diesem Haus des Lernens leider soweit, dass die Lehrer einen bundesweiten Altersdurchschnitt von etwa 49 Jahren haben und es keinen Nachwuchs gibt, der adäquat nach neuen Lehrmethoden ausbilden kann. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, inwieweit hat das Lehramtstudium an der Universität weiterhin seine Berechtigung, befürworten Sie entweder, das Lehramtstudium an der Universität weiterhin fortzuführen oder sagen Sie, ’nein, wir wollen wieder eine pädagogische Hochschule‘. Wenn Sie sagen, wir wollen hier an der Hochschule bleiben mit unserem Lehramtsstudiengang, inwieweit sehen Sie dann Möglichkeiten, besonders die Didaktik, und gerade im Berufsschullehramt, wo diese Problematik besonders krass ist, die Fachdidaktik zu stärken?

Rau: Ich kann nicht sagen, wie die Diskussion in der Humboldt-Universität verläuft, sondern ich kann nur sagen, dass ich die Lehrerausbildung als akademische Ausbildung in der Universität für richtig halte, und ich persönlich halte nichts von der Neugründung pädagogischer Akademien. Ich füge allerdings hinzu, dass viele aus den pädagogischen Akademien mit der Integration in die Universitäten sich ein Maß an Praxisferne geleistet haben, das ich für verhängnisvoll halte. Es ist ein deutsches Missverständnis, je theoretischer eine Sache ist, desto höher ist sie akademisch anzusiedeln. Ich halte das für falsch, nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie und ich wünschte mir eine Lehrerbildung, bei der man auch als erstes die Frage an den zu berufenden Professor stellen kann: ‚mögen sie eigentlich Kinder?‘, das geschieht mir zu wenig.

[Applaus im Auditorium]

Rainer S.(…): Sehr geehrter Herr Bundespräsident, ich spreche als Vertreter der Verfassten Studierendenschaft der Berliner Humboldt-Universität. Sie haben zuletzt am 9.November 2000 nicht weit von hier am Brandenburger Tor zu Zivilcourage und Engagement gegen die gefährlichen Tendenzen von rechts aufgerufen. Wir als verfasste Studierendenschaft sind dem nachgekommen und haben zum Beispiel in unserer Zeitschrift zu einer Demonstration gegen die NPD aufgerufen. Daraufhin haben uns u.a. Kommilitonen und Kommilitoninnen der Jugendorganisation der CDU verklagt, dies zu unterlassen. Ich würde deshalb gerne Ihre Meinung zur Debatte des politischen Mandats wissen. Sind Sie nicht der Meinung, dass sich die verfassten Studierendenschaften in einer demokratischen Gesellschaft auch mit politischen Problemen wie z.B. dem Rechtsextremismus oder den Ursachen für Rassismus auseinandersetzen sollten? Und wenn das aufgrund der herrschenden Rechtsprechung nicht möglich ist, so wie es ja im Moment scheint, wäre dann nicht eine Gesetzesänderung nötig?

[Applaus im Auditorium]

Rau: Da wird eine Gesetzesänderung nicht helfen, denn das allgemeinpolitische Mandat ist abgelehnt durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, da hilft kein Gesetz. Deshalb rate ich, ein allgemeinpolitisches Mandat als verfasste Studentenschaft nicht wahrzunehmen. Aber ich rate allen Gruppen, die Studentenschaft oder die Fachschaft, sich in ihrer politischen Aktivität nicht zu begrenzen, das ist überhaupt kein rechtliches Problem. Selbstverständlich können Sie als Vertreter der verfassten Studentenschaft mitwirken an einer Organisatio

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