Mr. Reilly, im Musicalfilm "Chicago" sieht man Sie singend und tanzend — haben Sie früher eine Tanzschule besucht?
Reilly: Ich habe schon früh, während der Schulzeit eine Schauspielschule besucht, da haben wir auch viele verschiedene Tänze gelernt. Das hat mir sehr gefallen. Ich komme ja aus dem rauen Klima eines kleinen Arbeiterstadtteils in Chicago, wo es eigentlich gar keine Kultur gab. Da war es natürlich eine große Sache, wenn man solche Kurse auf einer Schauspielschule besuchen konnte. Das war für mich ein Traum, zu tanzen, zu singen und anzufangen mit schauspielern.
War "Chicago" Ihr erster Film, in dem Sie tanzen und singen mussten?
Reilly: Ja. Wobei — ein klein bisschen habe ich bereits in "Magnolia" gesungen. Aber ich wollte immer schon zu diesen Wurzeln zurückkehren. Denn bis zum Ende der High-School habe ich nur Theater und Musicals gemacht. Danach kam ich ja auf eine richtige Schauspielschule, wo alles sehr ernst zuging, wo mir die Leute sagten: "Musical, das ist kein Theater, das ist Entertainment." Die wollten nur Shakespeare, Ibsen und Brecht. Und als ich dann mit Filmen angefangen habe, wunderte ich mich, wieso heute so wenig Musicalfilme gedreht werden. Das habe ich auch mal in einem Interview geäußert und so kam man wahrscheinlich bei "Chicago" auf mich.
Trotzdem scheint sich die Schauspielschule durchaus ausgezahlt zu haben, mancher hat Sie bereits als den neuen Gene Hackman bezeichnet.
Reilly: Ja, der erste, der mir das gesagt hat, war Danny DeVito. Klar, Gene Hackman ist eine Legende. Aber jeder Schauspieler ist verschieden. Gene Hackman hat Dinge gemacht, die ich vielleicht nie vollbringen werde. Was ich an Gene Hackman sehr bewundere ist seine Fähigkeit immer am Ball zu bleiben, er wird zwar älter aber er leistet immer noch große Arbeit. Schauspiel ist ja kein Schönheitswettbewerb sondern es geht darum, Ehrlichkeit und Echtheit in die Rollen zu legen — das macht Gene wunderbar, und so ein Vergleich schmeichelt mir natürlich sehr.
Sie haben mal gesagt, dass Sie versuchen nicht die einfachen Rollen zu spielen — welche Rollen sind denn einfach?
Reilly: Einfach sind Rollen, die du so ähnlich schon mal gespielt hast, wo du keine Herausforderung verspürst, wenn du dich beim Lesen des Drehbuchs an die Figur aus einem Film erinnerst, den du kurz vorher erst abgedreht hast. Die größte Gefahr ist es, dass einen die Rollen irgendwann langweilen. Dann bist du gar nicht mehr motiviert am Morgen aufzustehen, weil du merkst, dass dich die Rolle nicht genug fordert. Ich halte also Ausschau nach Rollen, die nicht Aufmerksamkeit erregen wollen, sondern die mich auch persönlich weiterbringen.
Gab es schon Rollen, die Sie als zu schwer empfunden haben?
Reilly: Nein, schwer, das ist das, was ich will. Wenn mich ein Drehbuch nervös macht, wenn es mit den Schweiß auf die Stirn treibt, dann ist es das richtige. Es macht viel mehr Spaß zu versuchen, eine Figur richtig auszufüllen als sich in eine vorgefertigte Rolle hineinzupressen.
Ich komme aus dem rauen Klima eines Arbeiterstadtteils in Chicago, wo es eigentlich gar keine Kultur gab. Da war es eine große Sache, wenn man Kurse auf einer Schauspielschule besuchen konnte.
Sie haben in den letzten Jahren in sehr erfolgreichen Filmen mitgespielt — merken Sie denn zum Beispiel auf der Strasse, dass mehr Leute Sie erkennen?
Reilly: Mittlerweile sind es schon ganz schön viele Filme, in denen ich mitgespielt habe und die sehr viele Menschen gesehen haben. Ich habe in manchen Jahren auch gar keine Interviews mehr gegeben, weil ich mich im Scheinwerferlicht nicht sehr wohl gefühlt habe. Mittlerweile kann ich damit etwas besser umgehen. Klar, es erkennen mich heute mehr Menschen auf der Strasse als früher, aber trotzdem habe ich noch immer die Möglichkeit, mich quasi unsichtbar zu machen.
Und die, mit denen ich zusammen arbeite, da gibt es ein paar, die es schaffen, ein normales Leben weiterzuführen aber auch ein paar, die ihr Leben diesem ganzen Rummel opfern. Einer, der ganz gut damit umgehen kann ist Jack Nicholson, das habe ich gemerkt, als wir "Hoffa" zusammen gedreht haben. Er hat mich damals in Detroit zu einem U2-Konzert mitgenommen. Kurz bevor das Konzert anfing hat sich Jack einfach durch diese riesige Menschenmasse durchgekämpft und mich immer hinter sich her gezogen. Er hatte überhaupt keine Angst, er ist auch nicht paranoid oder so. Er braucht keine Bodyguards, er sagt, "Hallo, das bin ich und jetzt ist gut". Andere Kollegen wagen sich hingegen ja gar nicht aus ihrem Hotel und veranstalten ein großes Drama.
Was ich für mich aus dem ganzen Rummel Positives ziehen kann, das sind die immer besseren Rollenangebote. Was die Bewunderung durch Fans angeht – da habe ich nicht viel von. Klar ist es schön, wenn andere dich fotografieren und Autogramme haben wollen. Aber ich kann nicht verstehen, wie manche Schauspieler das Blitzlichtgewitter richtig in sich aufsaugen. Das habe ich nie verstanden. Ich erfahre doch Liebe und Akzeptanz zu Hause, von meiner Familie, Menschen die mir nahe stehen — das ist mir wichtig.
Also, Sie sind eher der Typ, der schnell die VIP-Loge verlässt und auf die Tanzfläche stürmt?
Reilly: Ja, was soll ich denn in Angst leben. Nichts gegen die Leute in der VIP-Loge, aber wir sehen uns doch oft genug. Ich bin hier zur Berlinale in Berlin, ich bin das erste Mal in Deutschland, ich will hier viel erleben. Ich fahre ja nicht nach Deutschland, nur damit mich die Leute auch hier fotografieren. Ich will die Stadt erleben, neue Leute kennen lernen, mehr über das Leben lernen und ein Bürger dieser Welt werden. Das ist das Schöne am Schauspielerdasein, die Reisen und die Erlebnisse — in der VIP-Loge erlebt man doch nichts und auch nicht, wenn man immer nur im Hotel bleibt!
Im Kino sieht man Sie nun einerseits in "Chicago" und andererseits in "Gangs of New York" — welche Beziehungen haben Sie heute zu diesen Städten?
Reilly: Das ist relativ einfach, ich bin von Chicago nach New York gezogen als ich den Film "Im Vorhof der Hölle" gedreht habe.
Chicago hatte früher ja diesen Spitznamen "die zweite Stadt". Heute ist Los Angeles die zweigrößte Stadt und so befindet sich Chicago genau in der Mitte zwischen den beiden Machtzentren Los Angeles und New York. Da fliegen die meisten Mächtigen also sowieso drüber weg. Die Leute in Chicago haben gewisse Markenzeichen, sie sind anspruchslos und fleißig. Und dann hat ja Carl Sandburg dieses berühmte Gedicht über Chicago geschrieben, mit dem Titel "City of big shoulders". Also, ich liebe Chicago wirklich sehr. Und als mich der Bürgermeister persönlich als Gastredner zum diesjährigen St. Patrick’s Day, am 17. März eingeladen hat, da habe ich mich schon sehr geehrt gefühlt. Das bedeutet für mich mehr, als den Präsidenten zu treffen. Ich bin in Chicago geboren, dort sind meine Leute!
New York ist mehr diese internationale Stadt, sehr kosmopolitisch, sehr aggressiv, sehr schnell. Da ist Chicago, wie es mir ein alter Blues-Musiker mal gesagt hat: "Wenn du in Chicago nicht leben kannst, dann nirgendwo auf dieser Welt."
Mögen Sie denn das Bild, dass der Musicalfilm von Chicago entwirft?
Reilly: Der Film behandelt eine Ära Chicagos, die vor allem in Europa etwas übertrieben dargestellt wird. Das merke ich, wenn ich rumreise und den Leuten sage, ich komme aus Chicago. Die meisten denken dann nämlich als erstes an Maschinengewehre und Al Capone. Das ist aber nur ein Teil, Chicago hat viele andere Seiten. Das war nur eine der sensationsreichen Zeiten und in die hat man halt den Film versetzt.