Mr. Irving, der Schriftsteller Juan Diego in Ihrem neuen Roman „Straße der Wunder“ erscheint seinem Umfeld als jemand, der ein Risiko nicht in der Realität sondern in seiner Phantasie eingeht. Lebt man als Schriftsteller generell mehr in seiner Phantasie?
John Irving: Ich verstehe nicht ganz die Pauschalisierung in Ihrer Frage. Juan Diego ist jemand, der weniger in der Gegenwart lebt als in seinen Gedanken an die Vergangenheit, die Erinnerungen daran, was ihm als Kind und als junger Erwachsener in Mexiko widerfahren ist. Sein Erwachsenenleben ist für ihn viel weniger im Fokus. Für ihn passt es auch, dass er ein Schriftsteller ist, jemand, der in seiner Phantasie lebendiger ist. Ich würde von meiner Romanfigur aber nicht den Schluss ziehen, dass sie jeden Schriftsteller repräsentiert.
Dennoch erfährt man aus Ihren Büchern sehr viel über das Schriftstellerdasein.
Irving: Von den Protagonisten in meinen 14 Romanen waren fünf Schriftsteller. Allerdings nicht, weil ich an Schriftstellern interessiert wäre, sondern weil ich dadurch die Figuren der Gefahr ausgesetzt habe, dass sie aufgrund ihrer Phantasie abgelenkt sind, von der Realität, die sie umgibt.
In „Widow for one year“ bezahlt Ruth Cole eine Prostituierte, um sie mit einem Kunden beobachten zu dürfen. Ich kenne keine Frau, die das tun würde – außer sie ist Schriftstellerin, außer jemand, der sich für etwas interessiert, was er sonst nur imaginiert.
Juan Diego, mein Protagonist in „Straße der Wunder“, ist komplett mit seiner Kindheit beschäftigt, mit dem unerklärlichen Wunder, das ihm widerfuhr und dem Verlust seiner Schwester, der ihm das Leben schwer macht. Und in dem ich aus ihm einen Romanautor mache, mache ich diesen Zustand noch schlimmer.
Anders gefragt: Ist es möglich, ein guter Schriftsteller zu werden, wenn man nur in seiner Phantasie Risiken eingeht?
Irving: Natürlich ist es das. Ich glaube nicht daran, dass du ein gefährliches Leben gehabt haben musst, um ein guter Schriftsteller zu werden. Es gibt unter Schriftstellern sehr unterschiedliche Biografien: Herman Melville war Zollinspektor – ich denke nicht, dass sein Leben als Zollinspektor furchtbar aufregend war. Ihm wurde auch kein Bein von einem Hai abgebissen. Aber er hat ein besseres Buch über den Walfang geschrieben als jeder andere, der tatsächlich Wale gefangen hat.
Von Thomas Hardy wissen wir, dass er zurückgezogen in einem kleinen englischen Dorf lebte, dass er verbittert, wütend und scheu war. Er ging nicht oft raus. Vielleicht hat er seine Frau verrückt gemacht, vermutlich wurde er auch nie von „Tess von den d’Urbervilles“ verletzt und höchstwahrscheinlich war er auch nie ein Bürgermeister (vgl. „Der Bürgermeister von Casterbridge“), der seine Frau und Tochter verlor. Das hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich solche Geschichten auszudenken.
Ich denke, da gibt es keine Definition, wie jemand leben soll oder darf, um ein guter Schriftsteller zu werden.
Ich bin wahrscheinlich der langsamste Schriftsteller.
Wir erleben aktuell in der Gesellschaft ein Comeback der Religionen und eine Debatte um den Umgang damit. Was kann ein Roman wie Ihrer, der sich besonders mit der katholischen Kirche auseinandersetzt, zu dieser Diskussion beitragen?
Irving: Ein Roman gehört zu den persönlichsten und subjektivsten Beobachtungen der Welt, die man machen kann. Was mein Roman zur Diskussion über Religion und Glaube beitragen kann, weiß ich nicht. Ich mache im Buch ja einen Unterschied zwischen dem Glauben und der Institution Kirche, den menschengemachten Regeln, den Strategien und der Politik – nicht nur in der katholischen Kirche. Diese Unterscheidung macht Juan Diego schon als Kind, genauso wie seine Schwester Lupe, sie stehen der Institution Kirche sehr kritisch gegenüber. Aber Juan Diego ist ein Kind des Glaubens,ihmerscheint auch ein echtes Wunder, eine Jungfrauen-Statue, die Tränen vergießt. Ohne diese Tränen hätte die katholische Kirche sehr wahrscheinlich nicht diesen 14-jährigen Waisen in die Hand von zwei schwulen Männern gegeben – dafür braucht es die Jungfrau höchstpersönlich, in jedem Teil der katholischen Welt. Dafür, dass ein Waise, der in der Obhut der katholischen Kirche ist, von zwei schwulen Männern adoptiert werden darf, dafür braucht es es ein Wunder.
Wunder bilden ja den Kern jeder Religion. Mohammed ist ein Wunder, genauso Maria und Jesus. Aber es besteht eben ein Unterschied zwischen dem Glauben an diese Wunder und den schrecklich unzeitgemäßen Regeln und Politiken aller Kirchen. Die werden nicht dem gerecht woran die Menschen tatsächlich glauben.
Worin konkret sehen Sie die Gegensätze?
Irving: In Nordamerika glauben die meisten Katholiken an das Recht einer Frau auf Abtreibung, an Zugang zu Verhütungsmitteln, die meisten Katholiken befürworten die gleichgeschlechtliche Ehe. Ihre Kirche tut es nicht. Die meisten gläubigen Katholiken glauben anders als ihre Kirche. Das ist auch nichts Neues, das weiß jeder. Ich verunglimpfe nicht den Glauben, aber sicherlich die Institution. Genauso wie ich die Institution der Regierung verunglimpfe oder eine Bank. Davon scheint sich die Institution einer Kirche, Synagoge oder Moschee nur wenig zu unterscheiden.
Jede Kirche, Synagoge oder Moschee ist ja selten leer, die Leute kommen und beten, sie bitten um etwas. Sie bitten aber nicht den Rabbi, den Mullah oder den Priester. Deswegen sagt auch Juan Diego, als die Jungfrau weint, zum Priester: „Ich komme hierher wegen der Jungfrau, nicht wegen Ihnen.“ Damit spricht er für viele Menschen, die nicht an die Institution glauben, sondern an den Glauben an sich.
In „Straße der Wunder“ verliebt sich ein Priester in eine Transgender-Prostituierte und auch früher schon haben Sie sich in ihren Büchern mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen auseinandergesetzt. Fühlen Sie sich manchmal Ihrer Zeit voraus?
Irving: Ich habe mich immer dafür interessiert, wie die Leute aufgrund von sexuellen Unterschieden misshandelt, falsch verurteilt oder abgelehnt werden. „Garp und wie er die Welt sah“, vor 40 Jahren geschrieben, erschienen in den späten 70ern, war ein Roman über sexuellen Hass, es war damals eine Reaktion auf etwas, das bis heute Bestand hat: das Scheitern der sogenannten „sexuellen Revolution“, die Enttäuschung durch die „sexuelle Befreiung“. Denn wenn man das, was damals geschah, eine „Revolution“ oder „Befreiung“ nennt – wovon zum Teufel reden wir dann eigentlich? Warum hassen sich die Leute dann immer noch für ihre unterschiedlichen sexuellen Orientierungen? Warum werden sexuelle Minderheiten dann immer noch verhöhnt und abgestempelt?
Wie haben Sie damals über diese Zustände gedacht?
Irving: Damals dachte ich: Das wird mit der Zeit verschwinden, ich war überzeugt, dass „Garp und wie er die Welt sah“ nach fünf oder zehn Jahren wie ein Relikt aussehen würde, wie einhistorischer Roman. Und es ist keine Glanzleistung unserer Welt, dass dem nicht so ist. Ich betrachte mich selbst nicht alshellseherisch oder meiner Zeit voraus. Ich habe damals über etwas geschrieben – und das tue ich oft – weil ich mich darüber geärgert habe. Es erschien mir auch ein wenig idiotisch, so viel in Zeit in eine Geschichte zu investieren, von der ich selbst annahm, dass sie in sehr kurzer Zeit obsolet sein würde. Ich wünschte, es wäre so gekommen. Aber das ist es nicht.
„Garp“ wird nun sogar wieder zum Leben erweckt, im US-Fernsehen. Freut es Sie, dass HBO Ihr Buch als Serie verfilmt?
Irving: Ich bin nicht zwingend glücklich darüber. Dass ich den Roman jetzt für diese Serie bei HBO adaptiere, hätte ich nicht gemacht, wenn ich überzeugt gewesen wäre, dass sexuelle Unterschiede heute umfassend toleriert und befürwortet werden. Das werden sie aber nicht. Sexuelle Intoleranz ist nicht verschwunden. Die liberalen Sichtweisen, die in Bezug auf Sexualität in Europa existieren, werden von einer großen Zahl von Immigranten, die nach Europa kommen, nicht besonders toleriert. In Europa steht es um sexuelle Toleranz nicht gut, meiner Meinung nach. Und in den USA ist es nur marginal besser. Die Republikaner wollen Transgender-Kinder von den Toiletten fern halten, so stand es gestern in der New York Times. Das letzte Mal, als wir Menschen von Toiletten fernhalten wollten war zur Zeit der Rassentrennung. Insofern: Es hat sich nicht viel verändert, was Toleranz und Akzeptanz betrifft. Deswegen schreibe ich immer noch drüber. Man sollte den Leuten immer noch klarmachen, dass sie nicht das Richtige tun.
Worin sehen Sie die Ursachen?
Irving: Dahinter steckt Ignoranz, Angst – das summiert sich zu sexuellem Hassund Intoleranz. Und während ich mit der Annahme, dass dies verschwinden würde, falsch lag, behielt ich beim Thema Abtreibung Recht. Als ich „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ schrieb, meinten viele meiner feministischen Freunde: „Warum schreibst du so einen historischen Roman über die düstere Zeit, als Abtreibung illegal war? Abtreibung wurde doch gerade genehmigt, es wird alles gut.“ Ich war da anderer Ansicht, dass eben nicht alles gut wird, dass die Abtreibungsrechte erodiert und für immer zurückgedrängt werden. Die katholische Kirche wird nicht davon ablassen, die Frau der Geburt zu unterwerfen. Das passiert bis heute, auch um Frauen zu sexuellen Minderheiten zu machen.
Wie meinen Sie das?
Irving: Die männliche Welt will die Frauen unterdrücken, indem sie sie zu Sklaven des Geburtsprozess macht, in dem sie ihnen nicht die freie Entscheidung über ihre Reproduktion gibt. Da mache ich mir auch keine Illusionen, dass das mal ein Ende nimmt.
Die Gegnerschaft zur Abtreibung ist heute auf der ganzen Welt genauso oder sogar noch stärker verwurzelt als zu der Zeit als ich 1985 diesen Roman schrieb. Wenn ich also jetzt von Kritikern zu hören bekomme: „Ah, jetzt schreibt Irving schon wieder darüber“ – dann frage ich mich, wann die sich zuletzt mit der realen Welt auseinandergesetzt haben. Warum glauben die, ich würde über so etwas nur zum Spaß schreiben? – Nein, ich schreibe darüber nicht zum Spaß. Aber es geht eben nicht weg.
Würden Sie sagen, dass Sie als Autor mit großer Leserschaft auch eine gewisse Verantwortung tragen?
Irving: Nein. Wenn ich das als „Verantwortung“ bezeichnen würde, würde das ja bedeuten, dass ich von jedem Autor verlange, es mir gleich zu tun. Aber so sehe ich Schriftstellerei nicht. Ich mag es nicht, wenn Autoren sagen: Meine Art zu schreiben ist die richtige, oder: Wie ich Dinge betrachte sollten alle Autoren die Dinge betrachten. So habe ich nie gedacht. Ich habe auch nie zu jungen Schriftstellern gesagt: Du solltest immer das Ende kennen, bevor du mit der Geschichte beginnst. Genauso wenig erwarte ich von jemandem, der nicht politisch ist, politisch zu sein.
Und ganz ehrlich: Von meinen 14 Romanen, wie viele davon waren wirklich politisch? Wenn man Sexualpolitik hinzunimmt, sind es 7, das ist nur die Hälfte und wenn man die Sexualpolitik rauslässt, nur fünf. Es geht bei mir also nicht immer um Politik.
Wenn ich einen Roman schreibe, der in Mexiko und auf den Philippinen spielt, über ein Waisenkind auf einer Jesuitenschule – das muss schon politisch sein, das Thema macht die Geschichte zu einer politischen. Aber wenn mein nächster Roman nicht in so einem Setting stattfindet – nein, ich fühle da keinerlei Verpflichtung.
Auch nicht die Verpflichtung, Ihre Leser vor jemandem wie Donald Trump zu warnen?
Irving: Sie müssen ja bedenken, dass ich für die meisten meiner Romane acht bis zehn Jahre gebraucht habe, vom ersten Gedanken bis zur Veröffentlichung. Wenn ich also anfange, über einen Roman nachzudenken, die ersten Zeilen verfasse, dann schreibe ich nicht über so ein aktuelles Phänomen wie Donald Trump. Mein Interesse an Mexiko und der Geschichte eines Amerikaners mit mexikanischen Wurzeln ist 25 Jahre älter als Mr. Trumps blöde Idee, eine Mauer zu bauen.
Nein, ich fühle kein Verpflichtung. Ich bin wahrscheinlich auch der langsamste Schriftsteller, den es gibt, was ich mache dauert sehr lange. Insofern ist es unwahrscheinlich, dass sich meine Romane mit aktuellen Ereignissen beschäftigen.
Oder anders gesagt: Ich sehe mich nicht als besonders klug, wenn ich mich auf die Seite der Transgender, Lesben und Schwulen stelle. Ich denke viel mehr: Die Welt ist dumm, dass sie nach all den Jahren nicht auf ihrer Seite steht. Ich fühle mich dadurch nicht klüger, sondern es macht mich müde und ich denke „Mein Gott, nicht schon wieder! Reden wir immer noch darüber? Wollen wir den Leuten wirklich vorschreiben, welche Toiletten sie benutzen sollen? Bitte, können wir in Sachen Toleranz ein bisschen erwachsener werden?!“ – Ich sehe aber nicht, dass das passiert.
Wie sehr hat Ihnen das Schreiben beim Umgang mit der eigenen Sterblichkeit geholfen?
Irving: „Straße der Wunder“ ist ja nicht nur eine Geschichte über Juan Diegos Kindheit sondern auch eine über seinen Weg zum Tod. Ich verknüpfe diese Geschichte aber nicht mit meiner eigenen Sterblichkeit. Ich denke nicht über meine eigene Sterblichkeit nach. Ich habe zwei Romane im Kopf, die ich morgen anfangen könnte, wenn ich nicht schon an etwas Anderem schreiben würde, ich weiß auch schon, was der dritte Roman sein wird, der danach kommt. Mir ist es nicht egal, wie meine Romanfigur Juan Diego am Ende stirbt, da wäge ich schon sehr genau ab. Aber mir Gedanken über meinen eigenen Tod zu machen, dafür bin noch zu sehr beschäftigt (lacht).
Sie waren selbst Ringer und haben der Sportart auch in mehreren Romanen Tribut gezollt. Was halten Sie von Mixed Martial Arts, was inzwischen in den USA sehr populär ist?
Irving: Für manche Leute ist das ein gutes Ventil – und es ist für Ringer ein interessanterer Ort als die Welt des Show-Wrestling. Ich gucke mir MMA manchmal an, ich mag es. Es ist aber enttäuschend, weil ein Kampf zu schnell vorbei ist, oft ist es auch einfach nur Glück, ein glücklicher Kick, ein Ausrutscher – oft entscheidet der Zufall, wer gewinnt. Beim Ringen gefällt mir immer noch besser, dass derjenige, der einen Kampf auf der Straße gewinnt, auch das Match auf der Ringmatte gewinnen würde. Bei MMA wird beim nächsten Mal vielleicht der andere gewinnen.
[Das Interview entstand im Mai 2016.]