Jonathan Glazer, welche Kompromisse mussten Sie eingehen, um so einen ungewöhnlichen Science-Fiction-Film wie „Under the Skin“ drehen zu können?
Jonathan Glazer: Im Bezug auf meine Karriere war der Film bestimmt ein Kompromiss. (lacht) Aber tatsächlich darf man sich über so etwas wie eine „Karriere“ keine Gedanken machen. Man muss einfach tun, was man tun muss. Wenn man so einen Film plant, verbringt man sehr viel Zeit in seinem Kopf, man ist nicht wirklich präsent für die Menschen um einen herum. Das ist auf jeden Fall ein Kompromiss, oder vielmehr ein Opfer. Hier ging es vor allem darum, Bilder zu finden, die am besten geeignet sind, Gefühle zu beschreiben. Die Gefühle waren zuerst da, wie Stimmen in meinem Kopf. Dann musste ich darauf warten, bis diese Stimmen ein Gesicht bekamen, bis sie zu Bildern wurden. Mit so einer Idee geht man abends schlafen und wacht morgens wieder mit ihr auf.
Filmemacher klagen in der Regel eher über andere Probleme im Laufe einer Produktion.
Glazer: Ich weiß schon, man hat zu wenig Geld und zu wenig Zeit. Aber so ist es ja immer. Bei „Under the Skin“ hatte mich allerdings beruhigt, dass er komplett im Hier und Jetzt stattfinden sollte. Wir haben mit versteckten Kameras gearbeitet und einfach das aufgenommen, auf das reagiert, was um uns herum auf der Straße passiert ist. Wenn eine Passantin da nach links abgebogen wäre, statt geradeaus zu gehen, dann hätten wir das eben nicht noch mal gedreht. Dann wäre es einfach eine andere Szene geworden, sie wäre vielleicht einem Mann über den Weg gelaufen, sie hätten sich unterhalten… und so weiter. Es war sehr ergiebig, so schnell und flexibel zu arbeiten.
Sie haben eben von der Suche nach Bildern gesprochen. Wenn Sie ein Bild gefunden hatten, wie sind Sie dann weiter vorgegangen?
Glazer: Sobald sich ein Bild einstellte, das Sinn macht, das am besten das gewünschte Gefühl beschrieb, begann die Szene um dieses Bild herum zu wachsen. Ein Ingenieur würde das wohl Reverse Engineering nennen. Man leitet von einem fertigen Objekt ab, wie es entstanden sein könnte. Das entsteht dann im konstanten Fluss, während man schreibt, wenn man dreht, wenn man den Film schneidet, die Sounds und die Musik hinzufügt. Man baut etwas auf und dann fällt es wieder in sich zusammen. Man baut auf und es fällt wieder zusammen. Immer wieder, bis es irgendwann alleine da steht und du in dieser Szene etwas von dem Gefühl wiedererkennst, das ganz am Anfang dieses Prozesses stand.
Hat dieser Prozess schon angefangen, während Sie den Roman „Under the Skin“ von Michael Faber lasen, der Ihrem Film zugrunde liegt?
Glazer: Ja schon, aber davon ist letztlich nichts im Film gelandet. Die Bilder, die beim Lesen entstanden, waren noch zu sehr mit dem Buch verbunden. Sie waren nicht eigenständig genug.
Haben Sie Michael Faber getroffen?
Glazer: Ja. Er war nicht in den Film involviert. Aber wir sind uns dann bei einer Vorführung von „Under the Skin“ in London begegnet. Ich war sehr erleichtert, dass er den Film offenbar mochte. Ich war mir da nicht sicher, weil wir uns sehr weit von dem Buch entfernt haben. Aber wahrscheinlich war es genau das, was ihm daran gefallen hat. Der Film ist keine klassische Adaption des Buches; sie sind eher im Geiste miteinander verbunden.
Wir verlosen mit Senator Home Entertainment zwei DVDs von „Under the Skin“. Bei Interesse bitte an verlosung@planet-interview.de mailen.
Faber wanderte als Kind mit seinen Eltern aus den Niederlanden nach Australien aus, später war er in England eine Zeit lang obdachlos. Vor diesem Hintergrund wird aus dem eher kühl und beziehungslos wirkenden Film eine universale Metapher für Fremdheitserfahrungen.
Glazer: Da stimme ich Ihnen zu. Der Film funktioniert als Spiegel. Allerdings hat mich am meisten das Science-Fiction-Element interessiert, das Wesen, das Scarlett Johansson spielt. Ihr Körper ist das Raumschiff. Es steht für das Paradoxon von Körper und Seele und betont gleichzeitig wie Körper und Seele voneinander abhängen. Die Science-Fiction steckt hier im Körper, nirgendwo sonst.
Man macht keinen Film fürs Telefon.
„Under the Skin“ wirkt manchmal wie eine außerirdische Antwort auf „Solaris“ oder „2001“, als wäre er von Aliens gedreht worden, nachdem sie auf der Erde landeten.
Glazer: „Solaris“ und „2001“ sind nunmal die besten Science-Fiction-Filme aller Zeiten. Wenn man nur an das Meer in „Solaris“ denkt… Kocht es eigentlich oder blubbert es nur vor sich hin?
Schwer zu sagen. Blasen wirft es in jedem Fall.
Glazer: Das ist wohl wahr… Dieses Meer und auch der schwarze Monolith in „2001“ – diese Dinge sind einfach da, geheimnisvoll. Ich wollte, dass unser „Ding“ ein Alien ist und bleibt. Ich wollte am Ende nicht mehr über es oder sie wissen, als am Anfang. Aber ich wollte in ihre Geschichte einsteigen. Ich wollte sie beobachten, ich wollte erleben, wie sie umher driftet. Ich wollte erleben, wie sie unsere Welt, die Dinge wahrnimmt und wie sie sich durch ihre Erfahrungen formt.
Im Gegensatz zu „Solaris“ und „2001“, in denen das Außerirdische in erster Linie durch seine Wirkung auf die Menschen erzählt wird.
Glazer: Genau. Aber ich wollte eben aus der Sicht des Aliens erzählen. Daher musste ich eine visuelle Sprache, eine Form finden, die anders ist. Sie musste für sich stehen, um zu funktionieren. Wir mussten unsere eigene Art finden, die Geschichte zusammenzuhalten. Die Musik ist in diesem Zusammenhang sehr entscheidend. Die Musik bringt den Film erst richtig zum Vorschein. Ich habe mir den Film irgendwann als einen Körper vorgestellt, mit Armen und Beinen. Und die Musik wurde zum Blut dieses Körpers. So hat es nach und nach angefangen, Sinn zu machen.
Besonders prägnant in der Musik ist ein einfaches Streicher-Motiv. Es scheint immer aufzutauchen, wenn das Alien vor einer Entscheidung steht, als würde man seine innere Anspannung hören können.
Glazer: Sie meinen das Verführungsmotiv. Es besteht nur aus drei Noten. Es sollte wie ein Parfüm wirken. Manchmal konnte man es nur kurz aufblenden, als würde man auf einen Zerstäuber drücken und sein Echo würde noch eine Weile im Raum liegen. Manchmal liefen die Noten auch einfach aus, als wäre das Flakon am Ende leer. An der Art, wie diese Noten gespielt werden kann man ablesen, wie engagiert das Alien seinen Job gerade nachgeht. Dann gibt es das Alien-Loop, das am Anfang des Film steht. Da gibt es keine Abstufungen, es ist einfach da. Es ist eine sehr abweisende Musik. Das Gegenteil von Verführung. Und zu guter Letzt gibt es noch das dritte Motiv, das Liebesthema. Es kopiert menschliche Emotionen. Das Alien erkennt da sozusagen eine Frequenz, die sie nicht deuten, aber kopieren kann.
Sie wurden zunächst vor allem mit Musikvideos bekannt. Zu Nick Caves „Into My Arms“ zeigten Sie Schwarz-Weiß-Portraits von Menschen, die langsam in Tränen ausbrachen. In „Rabbit In Your Headlights“ von der Band Unkle wird ein Auto zerquetscht, als es mit einem halbnackten Mann zusammenstößt. „Under the Skin“ scheint in diese Tradition zu passen.
Glazer: Ja, aber ich habe das Genre der Musikvideos hinter mir gelassen. Ich arbeite weiter mit Bildern und Musik, aber eher in einem größeren Rahmen, mit Filmen oder in Installationen. Musikvideos haben sich für mich erledigt.
Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie die Szenen, in denen Scarlett Johansson durch Schottland fährt und versucht, Männer in ihr Auto zu locken, mit versteckten Kameras gedreht haben.
Glazer: Ganz genau. Wenn sie anhält, das Fenster runter dreht und die Leute anspricht, dann sind das ganz normale Menschen, die da zufällig vorbeigekommen sind.
Sie trägt zwar roten Lippenstift und eine schwarze Perücke, aber man kann sich kaum vorstellen, dass sie nie erkannt worden ist.
Glazer: Sie ist erkannt worden, aber das kam sehr selten vor. Zwei Nächte lang filmten wir zum Beispiel in einem Club in Glasgow. Scarlett war mittendrin, und nach einer Weile – wenn sie vier, fünf Mal die Tanzfläche überquert hatte – wurde den Leuten natürlich klar, dass hier etwas vor sich geht.
Sind solche Szenen mit vielen Menschen, die zu unfreiwilligen Statisten werden, nicht rechtlich problematisch? Oder ist das in Großbritannien, das für seine starke öffentliche Videoüberwachung bekannt ist, einfacher?
Glazer: Nicht, dass ich wüsste. Man muss die Leute eben im Nachhinein fragen: „Hallo, wir haben Sie gerade gefilmt. Ist es okay, wenn wir das verwenden?“ Manche sagten ja, manche nein. Wenn man in einem öffentlichen Raum, in einem Nachtclub oder Shopping Center dreht, ist das wieder anders, da gibt es verschieden Gesetze. Manchmal reicht es, ein Schild aufzustellen, das informiert: Sie werden hier gefilmt; ihr Bild wird möglicherweise benutzt. Wenn man auf der Straße jemanden im Bild hat, der auf den Bus wartet und Zeitung liest, kann man das Bild verwenden. Wenn er in einem Café sitzt und aus dem Fenster auf die Straße guckt, darf man es nicht verwenden.
Wie plant man unter diesen Umständen eine Szene?
Glazer: Man muss sich genau überlegen, wo man seine Kameras platziert, und dann genauso vorgehen, als hätte man alles unter Kontrolle. Das verleiht den Szenen eine große Spannung. Aber wie gesagt, man riskiert dabei immer, dass am Ende nicht unbedingt das herauskommt, was man sich vorgestellt hatte. Das hatte mir zunächst auch Sorgen gemacht. Es war ein Risiko, auf diese Weise übergriffig zu werden. Für mich als Filmemacher war das aber auch besonders reizvoll: Zu sehen, dass Scarlett Johansson in Verkleidung gefilmt wird, wie sie mit Menschen spricht, die nicht wissen, dass sie mit ihr sprechen. Dieses Spiel mit ihrer Prominenz passte einfach sehr gut zu der Idee, dass ein Alien unter uns ist und wir es nicht erkennen.
Scarlett Johansson scheint in ihren letzten Filmen geradezu aufgesplittet worden zu sein. In „Under the Skin“ ist sie fast reiner Körper, in „Her“ taucht nur ihre Stimme auf und „Lucy“ beschäftigt sich vor allem mit ihrem Gehirn. Haben sich da drei Regisseure verschworen…
Glazer: … einen der wenigen Superstars der Gegenwart zu sezieren? Das klingt fast so. Das wäre ein wenig unheimlich und gleichzeitig interessant. Ich habe Scarlett nun eine Weile nicht gesehen, zuletzt vor ein paar Monaten. Aber eine Verschwörung gibt es da sicher nicht (lacht). Das Interessante an „Her“ ist ja, dass man da nur ihre Stimme hört, aber sie trotzdem visualisieren kann. Ihre Stimme hat einfach einen hohen Wiedererkennungswert. Sie ist sehr markant. In „Under the Skin“ benutzt sie ihre Stimme allerdings auch als Verkleidung, sie imitiert einen britischen Akzent. Das ist ein Teil ihrer Konstruktion.
Sind ihre Pickel, die man in Ihrem Film sehen kann, auch konstruiert? Oder ist sie da schlicht ungeschminkt?
Glazer: Sie hat Pickel?
Ja, sie liegt in einer Szene im Bett, ihre Nase ist auffallend gerötet und auf ihren Wangen sind Pickel zu sehen. Ein ungewöhnliches Bild für eine so bekannte Schauspielerin.
Glazer: Tja, man würde das wohl normalerweise wegschminken oder retuschieren. Für mich ist das ein Teil des Realismus. Es gehört zu ihrer Alien-Verkleidung.
Das war kein Problem für Johansson?
Glazer: Sie hat sich nicht beschwert. Über nichts. Sie war mit ganzem Herzen bei der Sache, wirklich fantastisch.
„Under the Skin“ hat in Deutschland auch für Aufmerksamkeit gesorgt, weil er zunächst nur auf Video veröffentlicht werden sollte. Erst die Initiative einiger enthusiastischer Filmfans und Kinomacher sorgte dafür, dass er nun auch in Kinos zu sehen ist.
Glazer: Ja, ist das nicht fantastisch? Da zeigt sich doch die Macht des Volkes. Ich habe davon erst erfahren, als in London ein Mann aus Deutschland auf mich zukam und sagte: Sie haben doch „Under the Skin“ gemacht. Wussten Sie, dass der Verleih Senator den Film in Deutschland nicht in den Kinos zeigen will? Ich wusste das nicht. Er erzählte dann von dem Aktivismus, der um den Film entstanden war und schickte mir den Link zu der facebook-Seite einer Initiative, die sich für einen Kinostart engagiert. Ich rief meine Produzenten an, aber die wussten weder von den Plänen des Verleihs, noch von dieser Initiative.
Könnte das ein Zeichen für eine Bewegung sein, für ein jüngeres Publikum, dass sich wieder das Kino erobert?
Glazer: Das wäre toll. Ich fühle mich sehr geehrt, dass da Leute die Mühe auf sich genommen haben, um „Under the Skin“ ins Kino zu bringen. Natürlich bevorzuge ich es, wenn der Film in einem Kino gezeigt wird. Man macht keinen Film fürs Telefon. Jedenfalls nicht so einen. Diese Bilder sollten so groß wie möglich gezeigt werden. Das Kino ist der Raum für ein kollektives Träumen, für das Träumen mit offenen Augen. Es spricht unser kollektives Bewusstsein an, mit seiner Mythologie, seinen Symbolen, seiner mächtigen Kraft. Es verbindet uns miteinander. Wir kommen zusammen als Fremde, in einem Raum, um eine gemeinsame Erfahrung zu teilen. Das ist etwas Großartiges.