Herr Carreras, wir befinden uns hier in Wien, wo Sie in diesen Tagen ein Konzert geben, überall hängen Plakate mit Ihrem Konterfei – was ist das für ein Gefühl?
Carreras: Das ist immer ein großartiges Gefühl. Die Leute schätzen es, dass du in die Stadt kommst, du fühlst dich wahrgenommen, als Künstler. Wobei Wien für mich auch eine ganz besondere Stadt ist, überhaupt für Musiker und Sänger. Man kennt ja die außerordentliche Tradition des Wiener Publikums, auch das Wissen. Für jeden Künstler ist es ein Vergnügen, nach Wien zu kommen.
Ich habe in Wien etwa 300 Aufführungen gesungen, das bedeutet, dass die Leute mich kennen. Da musst du immer wieder versuchen, dein Bestes zu geben. Das ist also auch eine Herausforderung.
Ganz am Anfang Ihrer Karriere haben Sie allerdings einen Bogen um Wien machen müssen…
Carreras: Ja, das stimmt. Ich hatte einen schlechten Tag erwischt, bei meinem Debüt im Januar 1974. Ich habe den Herzog im Rigoletto gesungen und an einer entscheidenden Stelle versagte mir die Stimme – das passiert manchmal, leider. Da bin ich die nächsten drei Jahre erst mal nicht wieder nach Wien zurückgekehrt. Erst 1977 wieder, als ich unter Karajan „La Boheme“ gesungen habe – das war dann mein geglücktes Debüt in Wien, wie ich es nenne.
Fehler auf der Opernbühne sind gefährlich?
Carreras: Ich denke, das Publikum in Wien erlaubt nicht das Fehlen von Professionalität. Aber die Leute sehen auch, da kämpft einer auf der Bühne, weil er gerade nicht 100 Prozent geben kann, und sie fühlen, dass da wahrscheinlich ein Talent vorhanden ist. Das wissen sie zu schätzen, auch wenn jemand mal eine einen schlechten Tag hat.
Für mich, das muss ich zugeben, war es natürlich eine traurige Situation. Mein Debüt in Wien, im wichtigsten Opernhaus der Welt – und sich dann nicht gut genug fühlen, das war sehr unglücklich.
Nun haben Sie sicher in den letzen Wochen und Monaten von Paul Potts gehört, der Sie ja als eines Ihrer Idole bezeichnet…
Carreras: Ja, ich habe ihn auch schon getroffen, letztes Jahr in Leipzig. Er hat auf der Gala für meine Stiftung gesungen. Ich habe mit ihm gesprochen, er ist sehr nett, ein junger Mann, der seine Füße auf dem Boden hat. Ich denke, er weiß, was gerade mit ihm passiert und er versteht es, für sich das Beste aus dieser Situation herauszuholen.
Wie erklären Sie sich seine schnelle Karriere?
Carreras: Das ist das Fernsehen. Er hat damals diesen Wettbewerb im Fernsehen gewonnen, und was immer im Fernsehen ist… – wir kennen doch alle die Macht der Medien, ganz besonders des Fernsehens. Und das wird – bei allem Respekt, den ich für ihn habe – auf clevere Weise dem Publikum verkauft und kommerziell vermarktet. Sein Erfolg ist das Ergebnis davon. Natürlich auch von seinem Talent und seinen musikalischen Möglichkeiten.
Und Sie haben nichts einzuwenden, gegen Karrieren solcher Art?
Carreras: Nein, ich finde es großartig, dass so etwas passiert. Ich finde es auch viel besser, wenn so etwas mit jemandem passiert, der Oper singt, als wenn das wieder ein Pop-Sänger ist, ganz ehrlich.
Insgesamt gesehen sind solche Phänomene natürlich sehr selten.
Carrreras: Ja, weil Marketing alleine bringt nichts, sondern Sie müssen die Leute natürlich auch berühren. Der Künstler, der im Zentrum von all dem steht, muss einer sein, der diese Kommunikation in sich hat, der kommunikativ ist, mit seiner Stimme, seiner Präsenz, seiner Persönlichkeit, seinem Charisma – so ist uns das im Fall von Paul Potts begegnet.
Und dass so ein Durchschnitts-Typ mit einer netten Stimme da hingeht, singt, und mit einem Mal erfolgreich ist, das gibt den Leuten Hoffnung. Da denken jetzt viele: „Oh, das kann mit mir auch passieren, ich kann genauso wie er erfolgreich sein.“
Sie sind bereits fast 40 Jahre im Geschäft, wissen Sie, wie es funktioniert?
Carreras: Also, ich denke, dass sich langfristig Talent, Disziplin, Ernsthaftigkeit im Beruf und Professionalität auszahlt. Je nach dem wie viel Talent du hast und was für eine Qualität deine Stimme hat, wird es schneller oder langsamer gehen – aber ich denke, diese Dinge zahlen sich aus. Zumindest in der Klassik. Im Pop, da weiß ich es nicht. Da weiß es ja im Grunde niemand. Keiner kann dir einen Hit garantieren, dort versuchen ja eigentlich alle jeden Tag einen Hit zu produzieren. Und dass Paul Potts ein Hit geworden ist… Ich denke, bei ihm ist es nicht so wichtig, ob er perfekter ist als die anderen, ob er eine bessere Gesangstechnik hat. Da spielt viel mehr die Chemie eine Rolle, zwischen dem Künstler und dem Publikum.
Wie wichtig ist Repertoire?
Carreras: Das ist auf zweierlei Weise wichtig. Erstens musst du natürlich das Repertoire singen, das mehr oder weniger das Richtige für deine Stimme ist. Und dann wirst du sehen, dass es mit einer bestimmten Art von Repertoire schwieriger ist, das große Publikum zu erreichen. Mit Puccini, Verdi und Bizet ist es eben einfacher, als wenn du zum Beispiel Haydn oder Rossini singst.
Sie haben als „Die drei Tenöre“ ein Massenpublikum erreicht, mit populären Arien und Liedern.
Carreras: Dazu muss ich sagen, dass etwa 75 Prozent unseres Repertoires Stücke waren, die auch Enrico Caruso gesungen hat. Bei den restlichen 25 Prozent haben wir uns mehr der Zeit angepasst und populäre Sachen gesungen, wie Sie sagten. Wir sind damit aber nur der Tradition gefolgt, Caruso, Beniamino Gigli, John McCormack, Giuseppe Di Stefano – alle haben die populäre Musik ihrer Zeit gesungen. Das hat das Publikum auch von uns erwartet.
Aber bekommt die Masse nur Leicht-Bekömmliches, weil es anders nicht funktioniert?
Carreras: Sie dürfen natürlich einen Punkt nicht vergessen: Die Plattenfirmen machen Platten, um sie zu verkaufen. Das ist eine kommerzielle Transaktion und die zählt am Ende. Nehmen wir Bocelli, den ich bewundere, mit dem ich auch befreundet bin: Ihm wird ein bestimmtes Repertoire vorgeschlagen, weil sich die Plattenfirmen vorstellen, es wissen oder erhoffen, dass das auch im kommerziellen Sinn erfolgreich sein wird. Wenn Bocelli Händel singen würde, ja, dann wäre das nicht der Erfolg, den er mit dem Repertoire hat, das er normalerweise singt.
Haben Sie oft versucht, Leute mit Ungewöhnlichem, Unpopulärem zu konfrontieren?
Carreras: Ich denke schon. Ich singe ja nicht nur populäre Klassik, sondern auch sehr oft Musik aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Der Künstler hat in meinen Augen auch ein wenig die Verpflichtung, nicht nur das zu singen, was die Leute erwarten, sondern auch etwas zu präsentieren, was richtigen musikalischen Wert hat.
Warum gab es eigentlich nicht die „Drei Baritone“?
Carreras: … oder „Die drei Bässe“, „Die drei Soprane“ oder „ Die drei Altistinnen?“ – Ich denke, weil die Tenorstimme einfach die reizvollste, attraktivste und aufregendste Stimme ist. Und die meisten Komponisten haben die schönste, die am meisten romantische Musik für die Tenöre geschrieben, sie spielen in 99 Prozent der Fälle die romantischen Rollen in der Oper.
Die Tenorstimme ist einfach die reizvollste, attraktivste und aufregendste.
Gut, man könnte die Arien umschreiben und von Bässen oder Baritonen singen lassen.
Carreras: Aber es ist nicht das Gleiche. Weil die Tenorstimme zwischen einem Mann und einem jungen Heranwachsenden angesiedelt ist, sie ist nicht die richtige Stimme für einen Mann. Sie liegt auf der Grenze zwischen Männlichkeit und dem jungen Touch eines Teenagers. Das macht sie so reizvoll für die Leute.
Auch besonders attraktiv für Frauen?
Carreras: Nein, das denke ich nicht. Was Frauen anzieht, sind eher die Art der Rollen, die ein Operntenor singt. Werther, Andrea Chénier oder Don José zu singen ist halt schon etwas anderes, als wenn Sie einen alten Vater oder den Rigoletto singen, was den Reiz auf der Bühne angeht.
Dafür ist die Tenorstimme aber auch die empfindlichste, weil wir uns generell an dieser Grenze bewegen. Das ist wie im Zirkus auf dem Seil zu balancieren, ohne ein Netz unter sich zu haben. Du musst die hohen Noten treffen, die hohen Bs und Cs – das ist natürlich riskanter als bei einem Bariton, da musst du mehr aufpassen.
Pavarotti hat einmal gesagt, er hätte überall auf der Welt versucht, so zu leben, wie zuhause in Italien – wegen seiner Stimme.
Carreras: Ich denke, er wollte eine gewissen Routine einhalten. Weil der Wechsel des Kontinents, des Klimas, der Ernährung – all das beeinflusst die Stimme. Und wir tragen das Instrument nun mal mit uns, wir sind dem ausgeliefert, Klimaanlagen, Luftverschmutzung etc. Das setzt uns zusätzlich unter Druck. Vorbereitung, Talent, Professionalität ist eben nicht alles, sondern wir sind auch abhängig von diesen paar Zentimetern in unserem Hals.
Ihr aktuelles Album trägt den Titel „Mediterranean Passion“ – Was ist Ihre Passion, außer der Musik und Ihrer Stiftung?
Carreras: Ich habe generell eine Passion für das Leben. Ich versuche leidenschaftlich in fast allen Dingen zu sein, die ich tue. Das heißt nicht, dass ich alles richtig mache und immer die richtige Entscheidung fälle. Aber dafür mache ich es mit Leidenschaft. Das Singen, meine Stiftung, meine Hobbys, mein Familienleben – ich bin generell davon überzeugt, dass es gut ist, das Leben mit einem hohen Grad an Leidenschaft zu leben.
Zur Zeit der „Drei Tenöre“ wurden Sie häufig der „Mr. Nice Guy“ genannt – mögen Sie die Bezeichnung?
Carreras: Ich versuche mich selbst so zu zeigen, wie ich bin, gut oder schlecht. Und natürlich befolge ich bestimmte Regeln der Gesellschaft. Aber ich wache nicht jeden Morgen mit dem Gedanken auf: „Heute will ich wieder der „Nice Guy“ sein“ – das nicht. Ich versuche, spontan zu leben. Und wenn mich Leute als freundlich empfinden, na gut. Das ist doch besser als alles andere.
Gab es nie wilde Zeiten?
Carreras: Nein, ich denke, ich war genau das Gegenteil davon. Ich singe jetzt schon für mehr als 40 Jahre und ich weiß: Wenn du da keine Disziplin hast, wenn du dir nicht bewusst bist, was dein Beruf von dir braucht – dann wirst du nie Erfolg haben und dann wirst du auch nicht so lange durchhalten. Ich habe nie viele Partys gefeiert, ich hatte keine Skandale, ich habe immer für meinen Beruf gelebt.
Aber Sie kommen aus dem Süden – wo lebt, abseits der Bühne, Ihr Temperament auf?
Carreras: Im Fußball-Stadion. Wenn ich ein Fußballspiel anschaue, dann bin ich sehr euphorisch. Ich gehe so oft hin, wie ich kann, wenn Barcelona spielt. Mit meinem Sohn, mit Freunden – und dann gibt es für mich nichts anderes. Wenn ich Fußball gucke, verschwindet für 90 Minuten die Welt um mich herum. Das ist das Gute am Fußball: Du vergisst deine Probleme und alles andere im Leben und konzentrierst dich einfach nur auf das Spiel.
Sie hatten Ihre größtes Publikum mit Pavarotti und Domingo in Fußballstadien. War das nicht ein großer Kontrast zu Ihren Erfahrungen auf der Opernbühne?
Carreras: Nein, wenn man sagt, dass Singen eine Sache der Kommunikation ist, dass es darum geht, Emotionen rüberzubringen, dann macht es keinen Unterschied, ob du vor 500 oder 50.000 Leuten stehst. Logistisch ist es natürlich ein Unterschied, aber der eigentliche Moment, die drei, vier Minuten, in denen du eine Arie singst, sind genauso wie in einem Kammermusiksaal bei 500 Zuhörern. Weil die Gefühle, die du rüberbringen willst, die gleichen sind.
Sehen Sie sich als Botschafter für klassische Musik?
Carreras: Nein, da gibt es viel bessere Leute auf der ganzen Welt, die richtige Botschafter für klassische Musik sind, nicht nur Sänger, sondern auch Dirigenten, Instrumentalisten…. Nein, ich begreife mich in erster Linie als klassischer Künstler, der 60 verschiedene Rollen in Opernhäusern gesungen hat – aber nicht als Botschafter für klassische Musik.
Immerhin gehören die Aufnahmen der „Drei Tenöre“ zu den meistverkauften Klassik-CDs überhaupt.
Carreras: Dann ist Paul Potts auch ein Botschafter.
Sehen Sie ihn so?
Carreras: Nein, ich finde, man kann das nicht nur an CD-Verkäufen festmachen. Claudio Abbado ist ein Botschafter für klassische Musik oder Daniel Barenboim. Aber ich sehe mich nicht als solcher. Ich bin nur einer, der klassische Musik interpretiert. Und Paul Potts: Er singt klassische Musik, ich freue mich auch für ihn, dass er damit so viel Erfolg hat. Aber ist er wirklich ein Klassik-Sänger? Er singt manchmal Klassik, ja. Aber das ist schon noch etwas anderes.
Sie haben seit sechs Jahren keine Oper mehr gesungen – sehnen Sie sich nach der Bühne?
Carreras: Ich bin immer noch offen dafür. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, die richtigen Bedingungen da sind, dann würde ich mir auch überlegen, wieder Oper zu singen. Vielleicht nicht die gleichen Rollen, die ich vor 25 Jahren gesungen habe, aus offensichtlichen Gründen. Aber wenn es etwas Neues ist, was im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt, dann würde ich es machen.
Sind ‚normale’ Konzerte für Sie nur ein Ersatz?
Carreras: Nein, für mich ist das Singen die wichtigste Sache, Emotionen rüberzubringen. Das kann ich in einem Opernhaus aber auch in einem Recital. Natürlich sind meine Wurzeln als Sänger die Opernbühne, das Make-Up, die Kostüme, die Beleuchtung – aber ich bin genauso glücklich und zufrieden, wenn ich die Möglichkeit habe, Konzerte zu singen.
Hören Sie sich noch die eigenen Aufnahmen an?
Carreras: Ich höre sie meistens nur in dem Moment, wenn sie veröffentlicht werden, wenn gerade das fertige Produkt da ist. Danach vergesse ich sie erst einmal. Und vielleicht nach 10, 15 Jahren fische ich sie dann wieder raus und denke mir: „Oh, die war aber nicht so gut, die andere war gar nicht so schlecht…“
Anne-Sophie Mutter erzählte kürzlich in einem Interview, sie könne es nicht ausstehen, wenn Freunde in ihrer Anwesenheit ihre CDs auflegten.
Carreras: Das kann ich verstehen. Wenn ich in ein Restaurant komme, und sie legen dort deine Musik auf – das ist furchtbar. (lacht)
Warum?
Carreras: Weil du nicht immer der Protagonist sein willst, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Du willst auch privat sein, mit deinen Freunden einfach nur ein gutes Abendessen genießen. Dazu brauchst du nicht diese Stimme aus den Lautsprechern.