Joshua Oppenheimer, in einer Szene Ihres Films „The Act of Killing“ sieht man einen alten Mann in einem Hof, in dem er 50 Jahre zuvor etliche Menschen ermordet hatte. Er verteidigte sich, er habe nur Befehle ausgeführt. Dann beginnt er zu husten, schwankt hin und her, muss sich fast übergeben, hustet wieder. Fünf Minuten lang.
Joshua Oppenheimer: Es klingt so, als hätten Sie die ungeschnittene Version des Films gesehen, die in Deutschland nur auf DVD erschienen ist. Diese Szene, von der Sie sprechen, mit Anwar Congo, dem Hauptprotagonisten des Films, ist in der Kinofassung etwas kürzer.
Diese Körpersprache wird jetzt auch in „The Look Of Silence“, eine Art ergänzender Fortsetzung von „The Act of Killing“ immer wieder sichtbar wird. Welche Rolle spielte sie in Ihrer Arbeit?
Oppenheimer: Nun, Kino ist eigentlich ein schreckliches Medium für Worte, im Gegensatz zu dem was Sie tun: Sie schreiben. Kino ist aber ein wundervolles Medium für Momente des Zweifels, für Stille, für Pausen, für das Zögern. Für Momente, in denen die Menschen gar nicht daran glauben, was sie sagen. Ihr Gesichtsausdruck, ihre Körpersprache verrät sie zuweilen. Der Filmemacher Robert Bresson hat gesagt, dass der Mensch sich erst in seinen Gesten wirklich offenbart, in den automatischen, die er nicht kontrollieren kann, die einem einfach so rausrutschen. Nach diesen Momenten, in denen die Maske fällt, hat er gesucht. Das bedeutet auch, dass man sich bewusst sein muss, was so eine Maske eigentlich ist. Diese körperlichen Reaktionen sind einer der Gründe warum ich so arbeite, wie ich arbeite. So habe ich zum Beispiel nach Möglichkeit mit zwei Kameras gefilmt, um stets beide Protagonisten im Bild zu haben.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist ein Verbrechen gegen jeden einzelnen von uns.
In „The Look Of Silence“ konfrontieren Sie Massenmörder mit Adi, dem Bruder eines ihrer Opfer…
Oppenheimer: Und ich tue dabei nicht so, als wäre ich eine Fliege an der Wand. Ich kreiere Situationen auf eine durchsichtige Weise. Man versteht, warum ich ein Treffen arrangiert habe, warum es an einem bestimmten Ort stattfindet. Man erkennt auch, wann die Teilnehmenden, mich eingeschlossen, einfach überwältigt werden und aus ihrer Comfort-Zone herausgezwungen werden, wenn unsere Masken fallen.
Können Sie da ein Beispiel nennen?
Oppenheimer: Wenn Adi zu mir sagt, dass er die Täter treffen möchte, die für die Ermordung seines Bruders verantwortlich sind, dass er hofft, sie werden ihn willkommen heißen, dass sie die Chance ergreifen, Verantwortung zu übernehmen, dass sie Frieden mit den Familien ihrer Opfer machen wollen, da dachte ich bei mir selbst: Das wird schiefgehen. Wir werden diese Entschuldigung nicht bekommen.
Warum waren Sie sich sicher, dass Adis Hoffnungen enttäuscht werden würden?
Oppenheimer: Allein, wenn ich an Anwar Congo denke – es hat fünf Jahre meiner Arbeit gekostet, bis diese Szene gedreht werden konnte, von der wir eingangs gesprochen haben. Fünf Jahre, bis er dazu überhaupt bereit war, auch wenn er dann letztlich versucht, an seiner Lüge, dass er keine Schuld empfindet, festzuhalten. Doch seine Worte haben ihn da nicht länger geschützt und er erstickte beinahe wortwörtlich an seinen Schuldgefühlen. Adi wollte über diesen Punkt hinaus kommen, in dem er selbst mit den Tätern spricht und hatte dafür aber jeweils gerade einmal eineinhalb Stunden Zeit. Niemand von denen würde sich erlauben, diese Art von Schuld zu fühlen, schon gar nicht in Anwesenheit eines Fremden. Niemand würde sich so kurzerhand von den Lügen verabschieden, auf denen er über fünf Jahrzehnte lang sein Leben aufgebaut hat.
Wie haben Sie Adi auf diese Gespräche vorbereitet?
Oppenheimer: Ich sagte ihm: Das könnte nicht so laufen, wie du hoffst, Adi. Aber ich sagte ihm auch: Ich hoffe, dass es mir gelingen wird, die menschlichen Reaktionen dieser Leute einzufangen, die Angst, die Schuld, ihre Scham und ihre wütenden Versuche, sich zu verteidigen. In diese Reaktionen können wir uns alle hineinversetzen und wir könnten zeigen, wie zerrissen diese Gesellschaft ist. So kann ich vielleicht visuell erzählen, womit jeder Indonesier jeden einzelnen Tag lebt – von diesem Abgrund aus Angst und Schuld, der noch heute viele Indonesier von ihrer eigenen Vergangenheit und damit von sich selbst trennt. Und das würde es jedem, der diesen Film sieht, unmöglich machen, den Kampf um Versöhnung und eine Art von Gerechtigkeit nicht zu unterstützen.
Es geht in Ihren beiden Filmen um den Völkermords, der in Indonesien 1965/66 stattfand. Trotzdem kann man als deutscher Zuschauer kaum vermeiden, dabei auch an Deutschland und den Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu denken.
Oppenheimer: Ja, und ich muss sagen, dass es für mich auch unmöglich war und ist, bei dieser Arbeit nicht an Deutschland zu denken. Ich wünschte, ich könnte diesen Film einfach als menschliches Wesen machen, das lediglich die moralische Bedeutung des Wortes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ anerkennt, nämlich dass solche Verbrechen ein Verbrechen gegen jeden Einzelnen von uns sind und dass jeder Mensch, unabhängig von seinem Hintergrund, davon in der selben Weise betroffen ist. Aber ich muss gestehen, dass mein Bedürfnis, über ein Jahrzehnt an diesen Filmen zu arbeiten, auch etwas mit meinem familiären Hintergrund zu tun hat.
Ihre Eltern stammen aus Deutschland.
Oppenheimer: Meine Familie floh vor dem Holocaust, kurz bevor es zu spät gewesen wäre. Die Mutter meines Vaters wurde hier in Berlin geboren, sein Vater in Frankfurt. Und ich wuchs mit der Botschaft auf, dass es das Ziel jeder Politik, jeder Moral sein müsse, dass so etwas nie wieder passiert, niemandem. Und als ich in Indonesien der Überheblichkeit in den Tätern begegnete, dachte ich: So würde es sich so wohl anfühlen, wenn ich vierzig Jahre nach dem Holocaust in Deutschland gewesen wäre und die Nazis wären immer noch an der Macht. Wenn der Rest der Welt den Holocaust gefeiert hätte. Es war mir nicht möglich, von diesem Gedanken nicht lassen.
Wäre für Sie an der Körpersprache auch erkennbar, wenn jemand Reue und Versöhnungsbereitschaft behauptet, ohne es ernst zu meinen?
Oppenheimer: Wenn wir von Tätern hören, wenn sie gefilmt werden, sind sie normalerweise nicht mehr an der Macht. Dann verleugnen sie meistens ihre Taten oder sie fühlen sich gezwungen, zumindest so zu tun, als würden sie Scham empfinden. Wenn man zu Beispiel Claude Lanzmanns Dokumentarfilm „Shoah“ ansieht, da interviewt er einen SS-Unteroffizier, der in den Massenmord im Vernichtungslager von Treblinka involviert war. Er verhält sich, als würde er sich schämen. Aber es ist eine hohle Performance der Scham. Und ich denke, der Grund warum es sich hohl anfühlt, ist nicht etwa, dass er keine Moral hätte. Er wird von seiner Schuld verfolgt, kann aber in dem Moment nicht emotional präsent sein. Denn wenn er es wäre, würde er wahrscheinlich husten und sich schütteln, auf eine ähnliche Art, wie es am Ende von „The Act Of Killing“ passiert ist.
Claude Lanzmann hat dieses Interview mit versteckter Kamera gespielt. Haben Sie auch darüber gedacht, mit versteckter Kamera zu arbeiten?
Oppenheimer: Lanzmann musste die versteckte Kameras benutzen um ein akkurates Geständnis von diesem Mann auf Band zu bekommen. Aber ich habe das nicht gemacht. Nicht, weil ich grundsätzlich etwas dagegen hätte, sondern weil diese Männer in meinem Film ohnehin offen waren. Wenn sie sich geweigert hätten, vor der Kamera zu sprechen, hätten sie schon zugegeben, dass an dem was sie getan haben, etwas falsch war. Sie mussten niemals zugeben, dass es falsch war. Also machen sie das, was in ihrer Lage natürlich ist: Sie sprechen ganz offen darüber und feiern sich in ihrer Rolle als Helden. Aber es sind die Details, die sie verfolgen. Das Abschneiden der Köpfe, das Trinken des Blutes ihrer Opfer, all die furchtbaren Dinge, die sie taten und sahen. Sie beschönigen dass, in dem sie offen darüber sprechen. Also musste ich sie gar nicht austricksen.
Sie fühlen sich als Sieger der Geschichte.
Oppenheimer: Ja. Und gleichzeitig wurde mir bewusst, dass diese Gräueltaten, die in Indonesien stattgefunden hatten, keine Einzelfälle gewesen waren. Es gab da ein Muster nach dem in den Zeiten des Kalten Krieges in allen südlichen Erdteilen ähnliches passiert ist. Das bereitete den Boden für ein internationales Regime der Angst im Süden, das immer noch wirksam ist, dass viele Arbeiter immer noch davon abhält, Gewerkschaften zu bilden, dass Arbeitsbedingungen weiter schlecht und alles, was wir von dort unten importieren, möglichst billig hält.
Im Mai letzten Jahres hat die Partei Die Linke eine sogenannte kleine Anfrage an die deutsche Bundesregierung gestellt, um deren Erkenntnisstand über die Aufarbeitung der Massaker in Indonesien zu erfahren.
Oppenheimer: Das haben die gemacht? Das ist wunderbar! Mitglieder des Parlamentes haben die Regierung offiziell um Stellungnahmen gebeten? Das wusste ich nicht.
Unter anderem wurde gefragt, welche Kenntnis die Bundesregierung davon habe, welche Rolle westliche Regierungen wie die der USA oder Englands damals gespielt haben. Eine offene Antwort darauf wurde abgelehnt, weil sie „die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen“ könnte.
Oppenheimer: Das ist sehr interessant. Auch die USA und England halten immer noch Informationen über ihre eigene Rolle damals unter Verschluss. Aktivsten und Wissenschaftler haben mit Bezug auf die Freiheit der Information Akteneinsicht darüber eingefordert. Und was sie bekommen haben sind Akten, in denen zum einen alle Namen unkenntlich gemacht wurden. Da heißt es dann, irgendjemand hat irgendjemand zu diesem Thema damals getroffen. „Man hat beschlossen…“ und dann kommen drei komplett geschwärzte Seiten.
Die USA und England haben damals aber keinen Hehl daraus gemacht, dass sie die Massaker als Schlag gegen den Kommunismus begrüßen
Oppenheimer: Wir kennen auch einige schreckliche Fakten, wie zum Beispiel dass der Konzern Goodyear Zwangsarbeiter aus den damaligen Todes-Camps rekrutiert hat, so wie es deutsche Firmen in Auschwitz gemacht haben. Ich habe einen Mann von der US. Botschaft in Jakarta interviewt, dessen Job es war, Listen von öffentlichen Personen, Politikern, Journalisten, Intellektuellen, Künstlern und Gewerkschaftsführern zu erstellen. Sie wurden der indonesischen Armee übergeben, mit der Bitte, diese Menschen umzubringen. Wir wissen, dass die USA ihre Operation Phoenix, de facto ein Programm zur Beseitigung von Zivilisten während des Vietnamkrieges nach dem Vorbild dessen konzipiert wurde, was 1965 in Indonesien passiert ist. Wir kennen solche Details, aber das große Bild, welche Rolle die USA damals tatsächlich gespielt haben, fehlt noch. Wir arbeiten mit dem Senatoren Tom Udall und Mitgliedern des Repräsentantenhauses zusammen, um eine Resolution zu verabschieden, dass die Akten offengelegt werden, dass die Regierung für ihre Rolle Verantwortung übernimmt und sich entschuldigt.
Sie haben im letzten Jahr eine Vorführung von „The Act Of Killing“ für Mitglieder des US-Kongresses organisiert. Welchen Effekt kann diese politische Arbeit haben?
Oppenheimer: Jetzt am 1. Oktober soll die Resolution wieder eingebracht werden. Das ist ein bedeutendes Datum, der 50. Jahrestags des Beginns des Genozids. In erster Linie geht es darum, eine Botschaft an Indonesien zu senden. Wenn zumindest ein paar Leute im Westen versuchen, Verantwortung zu übernehmen, wird es schwieriger für die indonesische Regierung zu behaupten: Dies ganzen Anschuldigungen kommen nur von einpaar Heuchlern aus dem Westen. Zumindest haben die beiden Filme einen Beitrag dazu geleistet, dass in Indonesien über die eigene Vergangenheit anders geredet wird, als bisher.
Glauben Sie persönlich an das Konzept der Vergebung?
Oppenheimer: Ja, selbstverständlich. Und ich habe viel darüber von Adi gelernt. Ich denke, wenn sich ein Land als Demokratie verstehen will, müssen die Menschen in ihm eine Gemeinschaft bilden, sie dürfen nicht in Angst voreinander leben. Das bedeutet: Wenn jemand ernsthaft eingesteht, dass er etwas falsches getan hat, muss es auch Vergebung für ihn geben können. Die Täter Indonesien konnten das bisher nicht. In so einem Fall, muss der Staat eingestehen, dass in seinem Namen schreckliches begangen wurde. Ohne Ausreden. Und es wird viele Honoratioren und Politiker geben, die sich dagegen wehren, die so einen Schritt bekämpfen würden. Das Eingeständnis, falsch gehandelt zu haben, würde all ihrer Macht und ihrem Wohlstand die Legitimation entziehen und zu Tage bringen, dass das tatsächlich die verdorbene Beute eines Raubzuges, eines Massenmordes ist. Wenn es diese Anerkennung gäbe, diese Einsicht, dann müsste eine Form von Vergebung stattfinden, damit der Schmerz heilen und das soziale Netz wieder repariert werden kann. Und: eine Entschuldigung muss auf einer ernsthaften, seriösen Dokumentation dessen basieren, was wirklich passiert ist.
Sollten die Täter inhaftiert werden?
Oppenheimer: Ich denke, dass die Frage der Gerechtigkeit eine andere Angelegenheit ist. Gerechtigkeit darf niemals mit Rache verwechselt werden, obwohl das sehr oft passiert. Es sollte nicht darum gehen, alle Täter ins Gefängnis zu stecken, denn das würde ihre Familien schwer traumatisieren. Aber es muss ein Ritual, einen Prozess geben, den die ganze Gesellschaft durchlaufen muss, um als ganzes wieder zu einem Verhaltenscodex zurückzufinden, der eindeutig regelt, was verboten ist.
Wie könnte das konkret aussehen?
Oppenheimer: Zunächst und vor allem muss es eine Revision der offiziellen Geschichtsschreibung geben, eine Anerkennung, das das was passiert ist falsch war. Dann braucht es wirksame Schritte, um die Korruption zu beenden. Die Immunität der Armee muss aufgehoben und enteignete Güter wieder zurückzugeben werden, zum Beisiel an Adis Familie die damals durch Enteignung aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen und in Armut gestürzt wurde. Das wäre eine soziale Gerechtigkeit, die sichern würde, dass ein Heilungsprozess, der mit Vergebung einsetzten würde, tatsächlich von Dauer wäre.