Jürgen Todenhöfer

Der Krieg gegen den IS erinnert mich an den Vietnam-Krieg.

Seine Interviews mit Kämpfern des "Islamischen Staat" gingen um die Welt: Jürgen Todenhöfer im ausführlichen Gespräch über Parallelen zwischen IS-Kämpfern und Rechtsradikalen, seine CDU-Mitgliedschaft, Verstaatlichung der Waffenindustrie, Franz Josef Strauß, Flüchtlingspolitik, Schlafstörungen und Kriegstreiberei in den Medien.

Jürgen Todenhöfer

Jürgen Todenhöfer in Mossul © Frederic Todenhöfer

[Das Gespräch entstand im September 2015.]

Herr Todenhöfer, im Dezember 2014 reisten Sie in die Gebiete des sogenannten Islamischen Staat. Als wie gefährlich stufen Sie den IS heute ein?
Jürgen Todenhöfer: Der IS ist heute im Irak und in Syrien stärker als vor einem halben Jahr, genauso in den Nachbarstaaten. Er hat in Libyen und Ägypten an Stärke zugenommen, in Afghanistan ist er eine Konkurrenz zu den Taliban – und der Westen hat bisher keine Strategie gefunden, ihn zu bekämpfen. Anders als es das amerikanische Verteidigungsministerium dargestellt hat, hat deren Bomben-Kampagne gegen den IS bislang keinen Erfolg.

Wie erklärt sich die Stärke des IS? Welche Unterstützung und Finanzierung erhält er von außerhalb?
Todenhöfer: Es gibt ein Papier des US-Geheimdienstes DIA vom August 2012, in dem im Kern drei Punkte stehen: 1. der Aufstand in Syrien wird nicht von “gemäßigten”, demokratiefreundlichen Rebellen getragen, sondern von Extremisten und Terroristen, 2. einige arabische Staaten und der Westen haben sich zum Ziel gesetzt, im Osten Syriens ein „salafistisches Hoheitsgebiet“ zu schaffen mit dem Ziel, Assad zu isolieren und Syrien von dem schiitischen Vormarsch im Irak und dem schiitischen Einfluss im Iran abzuschneiden und 3. bringe dies die Gefahr mit sich, dass auch im Irak ein irakisch-syrischer islamischer Staat ausgerufen werde.

Aber das sagt ja noch nichts über die Unterstützung von außen, oder doch?
Todenhöfer: Doch. Der Ex-Chef des DIA Michael Flynn hat ja in einem Interview mit Al Jazeera bestätigt, dass die US-Regierung diese Entwicklung kannte und sie mit gefördert hat. „It was a willful decision“, also eine vorsätzliche Entscheidung, dies zuzulassen. Der Ex-Geheimdienstchef sagte: Wir haben das Erstarken des IS und anderer terroristischer Gruppen bewusst gefördert, weil wir gedacht haben, die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde.

Und so erklärt sich auch die Finanzierung des IS?
Todenhöfer: Unter anderem. In den letzten drei Jahren sind so viele Waffenlieferungen und Geldspenden aus Saudi-Arabien, den Golf-Monarchien, aus Katar und der Türkei nach Syrien gegangen, dass man nur den Kopf schütteln kann. Auch aus Europa. Einen Großteil hat der IS sich inzwischen erbeutet oder auf dem Schwarzmarkt gekauft. Die Munition kaufte der IS übrigens fast ausschließlich von der vom Westen unterstützten Freien Syrischen Armee. Dazu kommen noch die Gelder aus Saudi Arabien und den Golfstaaten, sowie die Kriegsbeute des IS und natürlich seine Ölverkäufe. Der IS macht damit Millionen.

Und man könnte sagen, der IS entstand aufgrund einer Strategie von internationalen Staatenlenkern?
Todenhöfer: Ja, wobei ich nicht weiß, wer sich so eine Wahnsinns-Strategie ausdenkt. Es ist die Frage: Wie viel Terroristen darf man züchten, um einen Mittelklasse-Diktator wie Assad zu stürzen? Ich bin auch kein Freund von Diktatoren, allerdings wurde hier eine verheerende Politik gemacht, die jetzt wieder auf uns zurückschlägt, in Form von Terrorismus und in Form von  Flüchtlingswellen.

Jürgen Todenhöfer mit IS-Kämpfern in Mossul © Frederic Todenhöfer

Jürgen Todenhöfer mit IS-Kämpfern in Mossul © Frederic Todenhöfer


Sie argumentieren häufig, dass die westlichen Angriffskriege das Terror-Monstrum IS gefördert haben. Doch aus Ihren Interviews mit IS-Kämpfern gewinnt man eher den Eindruck, dass diese Menschen nicht in erster Linie gegen den Westen sondern gegen Ungläubige in den Krieg ziehen.

Todenhöfer: Allgemein muss man sagen, dass Terrorismus am besten bei Ungerechtigkeit wächst und gedeiht. Und es ist so, dass im Alter von 15 bis 30 Jahren die Menschen oft eine pubertäre oder nachpubertäre Protesthaltung einnehmen. Beim IS kommt hinzu, dass viele Kämpfer in ihren Heimatländern – Frankreich, England, Deutschland, USA usw. – diskriminiert wurden oder sich zumindest diskriminiert oder ausgeschlossen gefühlt haben. Zudem sehen sie, wie seit Jahren Kriege gegen die muslimische Welt geführt werden, wie Kinder in Afghanistan, in Pakistan oder im Irak von westlichen Bomben getötet wurden.

Aber welche Rolle spielt der Glaube bei dieser Radikalisierung?
Todenhöfer: Man hat den Leuten auch erzählt, es finde in Syrien eine vor 1400 Jahren angekündigte apokalyptische Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse statt. Und diese jungen Leute, die immer nur hören mussten, dass sie unbedeutend, unwichtig, der letzte Dreck seien, die bekommen auf einmal gesagt, sie seien wichtig, sie würden eine entscheidende Rolle spielen, bei dieser weltpolitischen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Islam und Rom.
Die Protesthaltung aufgrund von Diskriminierung und der ungerechten Behandlung der muslimischen Welt kann ich nachvollziehen. Es gibt ja auch ein Widerstandsrecht gegen ungerechte Kriege wie zum Beispiel den Irakkrieg, der von Bush auf Lügen begründet war. Fassunglos macht mich aber, dass kaum einer von diesen jungen Leuten merkt, dass das Recht auf Widerstand ihnen nie das Recht geben kann, unschuldigen Menschen den Kopf abzuschneiden oder sie zu versklaven.

Die von Ihnen interviewten Kämpfer begründen ihre Taten stets mit Allah und nicht mit den ungerechten Kriegen des Westens.
Todenhöfer: Ja, das stimmt. Die meisten IS-Kämpfer, die ich gesprochen habe, waren allerdings  islamische Analphabeten. Ganz einfache Fragen, die ich ihnen zum Koran gestellt habe, konnten sie nicht beantworten. Der Koran, ich habe ihn drei Mal gelesen, verbietet Zwang im Glauben, Angriffskriege, die Tötung von Unschuldigen, das Zerstören von Kirchen, Moscheen, Synagogen. Aber das wissen die nicht. Sie haben den Koran in der Regel nicht gelesen und antworten dann „ja, aber der Gelehrte X hat das so gesagt“.

Also gibt es zumindest eine Lehre, auf die sich die Kämpfer berufen?
Todenhöfer: Natürlich, aber völlig aus dem Kontext gerissen. Es ist ja nicht neu, dass sich extremistische Organisationen irgendein ‘nobles,großes‘ Ziel setzen. Wir Europäer haben als Kolonialherren Völker im Namen des Christentums versklavt. Das hatte doch aber mit christlichen Werten nichts zu tun, sondern wir wollten an deren Rohstoffe, wir wollten andere Kolonialmächte ausstechen.

Doch wenn es beim IS um ökonomische Ziele gehen sollte, warum werden dann religiöse Kulturstätten zerstört?
Todenhöfer: Das ist eine verbohrte, fanatische Privatideologie, die sich irgendwelche Leute zurechtgesteckt haben, mit der sie ihre Kämpfer zu unglaublichen Gräueltaten verleiten. Heiligtümer zu zerstören, das gehört zu deren Privaterfindungen. Das Christentum hat das übrigens auch gemacht. Als es zur Staatsreligion wurde, hat man alle Heiligtümer anderer Religionen zerstört. Obwohl es von der Religion selbst dafür gar keine Legitimation gibt. Es ist eine widerliche Schandtat, was der IS macht, das ist Verrat am Islam.

Die meisten Opfer des IS sind selbst Muslime…
Todenhöfer: Ja. Es ist erbärmlich, dass diese jungen Menschen nicht merken, dass Sie Unrecht tun. Selbst gegen andere Konfessionen wie das Schiitentum führen sie Krieg.
Ich bin ausgesprochen deprimiert von meiner Reise zurückgekommen, weil ich bisher glaubte, dass so etwas nach dem Dritten Reich, nach dem sowjetischen Kommunismus und Teilen des chinesischen Kommunismus und Pol Pot nicht mehr passiert.

Zitiert

Man sagt nicht, dass der amerikanische Präsident ein Kriegsverbrechen begangen hat. Aber er hat es. Und wir müssen dahin kommen, dass wir das auch aussprechen.

Jürgen Todenhöfer

Ganz allgemein, wie ist Ihr Verhältnis zu einer Theokratie: Kann das funktionieren?
Todenhöfer: Ich bin, aus ganz vielen Gründen, für die Trennung von Staat und Kirche. Ich habe zum Beispiel im Iran Gespräche mit führenden Mullahs geführt. Von denen war die Mehrheit der Auffassung, dass auch im Iran die Theokratie sehr problematisch ist. Denn in der Politik muss man immer Kompromisse machen. Wenn aber der politische Führer gleichzeitig Vertreter einer Religion ist, dann muss er sich immer wieder fragen lassen, ob er nicht die Religion in Misskredit bringt.

Sind Sie von der Demokratie überzeugt?
Todenhöfer: Natürlich gibt es auch andere Staatsformen als unsere parlamentarische Demokratie. Anhänger der Demokratie bin ich, weil sie am Ende die wenigsten Mängel hat und weil sie die Chance bietet, eine Regierung friedlich abzulösen.

Aufgrund der sehr verqueren Lage im Irak, in Syrien und den angrenzenden Gebieten: Wäre nicht ein neuer islamischer Staat, dessen Grenzen die anderen Mächte akzeptieren, am ehesten die Möglichkeit, das Blutvergießen zu stoppen?
Todenhöfer: Es gibt ja schon einen Staat, der in einigen Punkten dem sogenannten Islamischen Staat ähnelt.

Saudi-Arabien.
Todenhöfer: Und zu Saudi-Arabien hat der Westen beste Beziehungen.

Halten Sie Verhandlungen für möglich, oder wird die Koalition langfristig gegen den IS weiterkämpfen?
Todenhöfer: Mir haben IS-Leute gesagt, dass sie davon ausgehen, dass der IS eines Tages mit dem  Westen verhandeln wird. Sie begründen das unter anderem auch mit der Geschichte, dass vor 1400 Jahren angeblich ein Waffenstillstand mit Rom, also dem Westen, vorausgesagt wurde, der dann 30 Jahre hält, bis am Ende der Islamische Staat in einer Entscheidungsschlacht siegt. Ich habe denen geantwortet, dass der Westen nicht mit ihnen verhandeln wird.

todenhöfer coverWas macht Sie da so sicher?
Todenhöfer: Ehrlich gesagt bin ich mir inzwischen nicht mehr so sicher. Ich habe mich in Afghanistan früher ja selbst dafür eingesetzt, dass man mit den Taliban verhandeln soll, statt diesen sinnlosen Krieg zu führen. Damals wurde das beschimpft, heute ist es die offizielle Regierungspolitik von Steinmeier. Und ich weiß auch, dass die Amerikaner versuchen, einen Kontakt zur al-Nusra-Front aufzubauen, zur syrischen Filiale von al-Quaida. Hätte jemand zur Zeit des 11. September geäußert, dass die USA eines Tages mit al-Quaida verhandeln werden, den hätte man für verrückt erklärt.
Jedoch habe ich beim IS Dinge erlebt, wie zum Beispiel einen Richter, den ich fragte, ob in nächster Zeit Exekutionen oder Amputationen vorgesehen seien. Seine Antwort war: Nein. Ein Vertreter der Medienabteilung des IS bot mir aber sofort an, dies für mich zu organisieren. Er könne es einrichten. „Was wollen Sie, einen Schiiten oder einen Kurden?“ Nach solchen Erlebnissen kann ich mir nur sehr schwer vorstellen, dass man mit solchen Leuten verhandeln kann.

Sind Sie selbst in Ihrem Leben schon mal einer falschen Ideologie hinterhergelaufen?
Todenhöfer: Nein. Ich habe persönlich immer an die Demokratie geglaubt, den Nationalsozialismus verachtet und ebenso den kommunistischen Sozialismus.

Sind Sie noch Mitglied in der CDU?
Todenhöfer: Ja. Ich bin Ehrenvorsitzender des Gemeindeverbandes Ofterdingen in meinem früheren Wahlkreis.

Welche Positionen machen Sie heute noch zum überzeugten CDU-Mitglied?
Todenhöfer: Das mit dem „überzeugt“ haben Sie jetzt gesagt. Also, ich finde zum Beispiel in vielen Bereichen die Außenpolitik, die die CDU-geführte Bundesregierung macht, begrüßenswert. Nämlich zu versuchen, Konflikte nicht durch Waffengewalt zu lösen. Im Libyen-Konflikt beispielsweise hat sich die CDU zurückgehalten, die Bundesregierung hat sich bei der Nato-Intervention enthalten. Das fand ich gut, ebenso die Bemühungen in der Russland-Frage, wo die Kanzlern immer wieder, auch in schwierigsten Situationen den Kontakt mit Putin gehalten hat, dass sie erfolgreich versucht hat, einen Waffenstillstand in der Ukraine hinzubekommen.
Meine Vorstellung von deutscher Außenpolitik ist in etwa die, die Bismarck in Bezug auf den Balkan hatte. Bismarck hat damals gesagt, wir sollten die Rolle des ehrlichen Maklers spielen. Und ich finde, dass Frau Merkel zur Zeit die Rolle des ehrlichen Maklers gut übernommen hat, also dass man bei Konflikten nicht verschärft sondern den Ausgleich sucht und verhandelt. Wobei sie mit  Steinmeier einen vorzüglichen Partner hat, der eine ähnliche Position vertritt.

Da es lange keinen Außenminister aus der CDU gab was wären außerdem Positionen der CDU, die Sie schätzen?
Todenhöfer: Für mich ist der zentrale Punkt die Außenpolitik, wie sich die Kanzlerin in Konfliktfällen verhält, da zähle ich auch Syrien hinzu, wo sie sich mäßigend eingeschaltet hat.

Aber wenn wir uns einen anderen Punkt anschauen: Sie haben einst als erster Abgeordneter Ihre Nebeneinkünfte offengelegt. Durch die erreichte Transparenz wissen wir heute, dass die Abgeordneten mit den höchsten Nebenverdiensten allesamt aus der CDU/CSU kommen. So etwas stört Sie gar nicht?
Todenhöfer: Es kommt drauf an. Wenn jemand wie Peter Gauweiler ein erfolgreicher Anwalt ist, finde ich das gut, wenn also im Bundestag Leute sitzen, die auch im zivilen Beruf ihren Mann oder ihre Frau stehen, und nicht von der Politik abhängen.

Die hohen Einkünfte kommen aber häufig durch Positionen in Aufsichtsräten zustande…
Todenhöfer: Da bin ich wieder skeptischer.

Was ist außerdem noch mit dem sehr langen Festhalten der CDU an der Atomindustrie, der lange Widerstand gegen die Homo-Ehe, der Widerstand gegen den Mindestlohn all das hat Sie nie angefochten, wenn es um Ihre Partei ging?
Todenhöfer: Das ist wie in der Ehe: Eine Partei ist ein Paket, ein bestimmtes Package, da sind Sachen drin, die einem gefallen, so wie einem am Ehepartner bestimmte Dinge gefallen – und es sind Sachen drin, die einem nicht gefallen.
Ich bin mit der Außenpolitik der Bundesregierung manchmal auch sehr kritisch und ich habe manche Waffenexporte sehr hart kritisiert, aber ich weiß, dass ich keinen Anspruch darauf habe, dass alle meine Vorschläge realisiert werden.

Stichwort Waffenexporte: Inwiefern hat Deutschland Ihrer Ansicht nach durch Waffenausfuhren die Krise im Nahen Osten verstärkt und somit auch zu den großen Flüchtlingsströmen beigetragen?
Todenhöfer: Ich glaube, dass die großen Flüchtlingsströme viele Gründe haben. Wir haben diese Länder mit Kriegen teilweise zu einer Hölle gemacht. Ich kannte den Irak vor dem Irakkrieg, es war nicht besonders gut unter Saddam Hussein, doch heute geht es dem Irak viel, viel schlechter.
Die Waffenlieferungen, die Gabriel bewilligt hat, entgegen seiner Ankündigungen vor der Wahl,  sind immer noch unverantwortlich. Wobei ich auch zuversichtlich bin, dass sich da etwas ändern wird. Angeblich ist man in Gesprächen mit manchen arabischen Staaten, die keine Waffen mehr kriegen sollen, die darüber sehr verärgert sind. Wir sollten nicht der Waffenlieferant diktatorischer Regime sein.

Dass Gabriel sein Versprechen nicht gehalten hat, hat das vielleicht auch mit dem Einfluss von Bayern im Bund zu tun?
Todenhöfer: Nein, das glaube ich nicht. Es hat damit zu tun, dass Gabriel Entscheidungen umsetzen muss, die schon vorher getroffen wurden. Und es gab in Deutschland dieses Bewusstsein nicht, dass Waffenexporte etwas Gefährliches und etwas Schlimmes sind. Man hat fast zwei Jahrhunderte immer gedacht, auch in England und Frankreich, dass man diese Länder zusammenhauen und ihre Rohstoffe stehlen, dass man sie – um einmal Jean Paul Sartre zu zitieren – wie „Halbaffen“  behandeln kann. Sartre hat damals übrigens gesagt, das ist ein Boomerang, der eines Tages auf uns zurückschlägt. Und das tut er, in Form von Terrorismus, der im Moment den gesamten Mittleren Osten zerstört und Flüchtlingsströme verursacht, deren Ausmaß uns jetzt vor große Probleme stellt. Wir merken gar nicht, dass das unsere eigene Gewalt ist, die jetzt auf uns zurückschlägt.

Doch lassen Sie uns nochmal bei Bayern bleiben: Ein Drittel der deutschen Waffen kommt aus Bayern und Horst Seehofer sagt, man sei die Waffen unseren Soldaten schuldig, dem Schutz der Bevölkerung, und den Menschen, die davon leben“ – gibt es Schwierigkeiten, die Waffenausfuhren zu drosseln, weil die Industrie ungern weniger verdienen, geschweige denn umsatteln will?
Todenhöfer: Ich vertrete die Auffassung, dass Waffenproduktion für die eigene Armee vertretbar und zulässig ist, das gleiche gilt für Lieferungen an Verbündete – aber eben nicht darüber hinaus.
Ein gescheiter Mensch hat mal gesagt, dass es eigentlich falsch ist, dass die Waffenindustrie privatwirtschaftlich ist. Weil eine private Waffenindustrie natürlich Geld verdienen möchte und sich über jeden Kunden freut, ob es nun ein Diktator ist oder wer auch immer. Es kann eigentlich nicht im Interesse unseres Staates sein, dass es jemanden gibt, der unbedingt Waffen in die Welt verkaufen muss. Seehofer hat ja „Recht“, wenn er sagt, die haben Arbeitsplätze und die müssen verkaufen. In dem Moment, wo Sie eine private Waffenindustrie haben, ist das so. Aber es stellt sich eben die Frage, ob die Waffenindustrie nicht besser staatlich sein müsste. Wo der Staat festlegt: Dieser Teil ist für uns und dieser Teil für unsere Verbündeten.

Das stellt man sich schwierig vor, in Bayern die Waffenindustrie zu verstaatlichen.
Todenhöfer: Ich habe das auch nicht vorgeschlagen. Aber das haben viele Friedensforscher vor mir schon gesagt. Ich glaube, dass die Waffenexportpolitik Deutschlands massiv verbesserungswürdig ist.

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Waffenindustrie in Bayern spielte Franz Josef Strauß. Waren Sie bei der offiziellen Gedenkfeier anlässlich seines 100. Geburtstags?
Todenhöfer: Nein. Wenn ich eingeladen gewesen wäre, wäre ich hingegangen, weil ich seine Kinder kenne und weil ich ihn kannte. Seine Bedeutung liegt allerdings ganz woanders: Strauß hat aus einem ärmlichen Agrarland ein modernes und inzwischen weltweit beliebtes Industrieland gemacht, in dem er Hochindustrie nach Bayern gebracht hat. Dass man in Waffenfragen vor 30, 40 Jahren viel lockerer gedacht hat – ja, das weiß ich auch.

Lockerer gedacht, das könnte man vermutlich auch kritischer ausdrücken.
Todenhöfer: Ja, aber das ist kein Problem allein von Strauß, das müsste man auch Adenauer und allen vorwerfen. Ich glaube, dass wir da einen Lernprozess durchmachen und auch vieles lernen müssen.

Wilhelm Schlötterer wirft in seinem Buch Wahn und WillkürStrauß u.a. persönliche Raffgiervor, den Missbrauch des Staatsapparates für Partei- und persönliche Interessenund eine demokratiegefährdende Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien. Wie würden Sie Ihren damaligen Freund, mit dem Sie auch zusammen in Urlaub waren, verteidigen?
Todenhöfer: Ich weiß nicht, ob Strauß mich als seinen Freund gesehen hätte. Politisch habe ich mich mit ihm auch nur bei ganz wenigen Dingen abgesprochen, weil ich meine Unabhängigkeit behalten wollte. Ich stehe aber zu jeder Phase meines Lebens, es wäre feige, wenn man zu den Menschen, die man früher gekannt hat, nicht stehen würde. Und es ist einfach, 25 Jahre nach seinem Tod ein Urteil zu fällen.
Ich lebe in  Bayern und ich habe festgestellt, dass die Kombination aus liebenswertem, puristischen Agrarstaat und Hochindustrie äußerst gelungen ist. Daran hat Strauß sehr viel mitgewirkt. Sicher war er ein sehr machtbewusster Mensch. Aber wenn er in erster Linie an Geld interessiert gewesen wäre, wären die Beträge, über die geschrieben wird, um ein Zehnfaches höher.

In der CSU tut man sich mit Kritik an Strauß immer noch sehr schwer, als Christine Haderthauer äußerte, Strauß sei kein Vorbildpolitiker, wurde das wie ein Sakrileg behandelt.
Todenhöfer: Also, ich neige nicht dazu, auf toten Indianerhäuptlingen herumzuprügeln. Ich habe mit  Kohl auch Konflikte gehabt, Kohl hat mich bekämpft. Sie werden aber von mir nie ein negatives Wort über ihn hören. Genauso finde ich es wohlfeil und billig, über Strauß, den man zu Lebzeiten nicht erlegen konnte, nach seinem Tod draufzuprügeln. Ich möchte nicht so selbstgerecht sein, dass ich über andere Menschen urteile. Heute schimpfen viele über Strauß, aber ich sehe, dass ich in einem Bundesland lebe, wohin er Siemens und viele andere Unternehmen geholt hat. Es ist ein wohlhabendes Land, das viele Arbeitsplätze schaffen und das auch das viele Flüchtlinge aufnehmen kann.

Lassen Sie uns beim Thema Flüchtlinge einmal über die Rechtsradikalen sprechen, die in den vergangenen Wochen mit Gewalt gegen Flüchtlinge vorgegangen sind. Sie plädieren stets dafür, mit allen Seiten zu reden. Werden Sie mit Rechtsextremisten das Gespräch suchen?
Todenhöfer: Natürlich muss man mit Rechtsradikalen reden, um sie zu verstehen. In meiner kurzen Zeit als Richter habe ich es gelernt, stets beide Seiten zu betrachten, die Anklage zu lesen, aber auch die Verteidigung. Wenn man nicht beide Seiten anhört ist das Leben voller Fehlentscheidungen. Deswegen gibt es überhaupt keinen Grund, nicht mit Rechtsradikalen zu sprechen.
Was mich persönlich betrifft: Ich bin Privatmann, ich bilde mir nicht ein, dass ich alle Probleme dieser Welt lösen kann. Und meine Reisen sind immer mit viel Arbeitsaufwand verbunden. Da heißt es dann manchmal, ‚multum, non multa‘, also dass man sich auf bestimmte Themen konzentriert. Ich habe mir aber vorgenommen, demnächst den NSU-Prozess zu besuchen.

Mit welcher Motivation?
Todenhöfer: Ich befasse mich im Moment mit Rechtsextremismus und ich habe mich gewundert, dass seriöse NGOs zu dem Ergebnis kommen, dass seit der Wiedervereinigung 1990 über 180 Menschen in Deutschland von Rechtsradikalen ermordet wurden. Die Bundesländer zögern, diese Zahl anzuerkennen, aber ich habe mir jeden Einzelnen dieser 180 Fälle durchgelesen. Das ist teilweise so widerlich, wie zum Beispiel Obdachlose mit Steinen erschlagen oder ertränkt wurden.

Was konnten Sie über die Ursachen dieser Gewalttaten erfahren?
Todenhöfer: In jeder Gesellschaft gibt es niedere Instinkte und in diesen Fällen haben sie sich gegen Fremde, gegen Ausländer, Flüchtlinge oder Obdachlose gerichtet. Ihre Opfer nennen sie „Sozialschmarotzer“ und über ihre Tat hängen sie irgendsoein ‚großes‘ Ziel, wie „Deutschland sauber halten“ – wie bei den Terroristen, wo über eine niederträchtige Tat ein großes Ziel gehängt wird. Mir ist ohnehin aufgefallen, dass viele Dinge, die IS-Kämpfer erleben – dass sie in der Gruppe einen Sinn haben, dass ihr Leben jetzt ein Ziel hat – dass das bei rechtsradikalen Gruppen in Deutschland ähnlich ist.
Allerdings: Wenn in Deutschland ein Flüchtlingsheim angegriffen wird, kommt das in den Nachrichten meist an letzter Stelle. Doch angenommen, Salafisten würden ein Heim angreifen, da würden sofort alle Krisenstäbe zusammentreten. Ich glaube, dass wir auch ein Terrorismusproblem haben, aber das viel größere Problem ist der Rechtsradikalismus.

Sie hatten ja Ihren ersten politischen Auftrittbei Rechtsextremen, 1968 auf einem Parteitag der NPD in Freiburg.
Todenhöfer: Ja, dort war ich mit mit einem Grüpplein aus jungen Leuten, die Stadthalle war voll mit mehreren tausend Menschen, die den Parteiführern Thielen und von Thadden zujubelten, die hatten damals zehn Prozent bei der Wahl in Baden-Württemberg bekommen. Die haben uns damals zur Diskussion herausgefordert und da ich am nächsten an der Treppe zum Podium stand, musste ich als erster hoch. Ich weiß noch, wie mir das Herz in die Hose gerutscht ist und ich im Kern eigentlich nur einen Satz heraus bekommen habe: „Nie wieder!“ Nie wieder eine Partei, die mit Ressentiments gegen Juden Politik macht.

Rassismus ist nach wie vor ein Problem in Deutschland. Wie sollten wir dem begegnen?
Todenhöfer: Da es offenbar bei vielen Menschen diese Angst vor dem Fremden gibt, muss man eine gastfreundliche Kultur pflegen. Das ist übrigens das, was mich in der muslimischen Welt am meisten fasziniert, warum ich über 50 Jahre immer wieder in diese Länder gefahren bin: Dort ist der Fremde, wenn er nicht gerade mit einer Waffe kommt, äußerst willkommen. Dem hilft man bei jeder Gelegenheit. Als ich einmal in Bengasi bei einer Freitagspredigt mit Muslimen betete, sahen die Menschen um mich herum, wie mir die pralle Sonne zusetzte. Einer hat mir für die Knie seinen Gebetsteppich zugeschoben, ein anderer gab mir seinen Schal um meinen Kopf zu bedecken. Diese Freundlichkeit gegenüber dem Fremden, die ist dort Kultur. Das mag hierzulande viele verwundern, weil sie immer nur die Terroristen sehen, aber Gastfreundlichkeit ist gelebter Islam. Die Angst vor dem Fremden ist dort nicht so ausgeprägt wie bei uns.

Über die richtige Willkommenskultur wird nun in Deutschland gestritten…
Todenhöfer: Ja, angesichts der Flüchtlingswelle findet eine gesellschaftliche Auseinandersetzung  statt. Wollen wir den Weg gehen wie die Rechtsradikalen und ihre Mitläufer, die in manchen Städten des Ostens protestiert haben, oder wollen wir die Leute empfangen? Zum Beispiel die Leute in der Stiftung, die ich gegründet habe, haben sich zusammengesetzt und Pakete mit dem Nötigsten für ankommende Flüchtlinge gepackt. Das fand ich toll! Wir sollten uns nicht von Rechtsradikalen das Verhalten gegenüber Flüchtlingen vorschreiben lassen.

Sehen Sie aber auch in den Hartz4-Gesetzen, durch die Menschen in Armut gedrängt wurden, eine Ursache für die Fremdenfeindlichkeit?
Todenhöfer: Nein. Wenn jemand Angst davor hat, dass ein Ausländer, der nicht einmal die deutsche Sprache kann, der sich hier nicht auskennt und hier keine Erfahrungen hat, ihm den Job wegnehmen könnte, dann muss er richtige Angst haben. Wenn jemand in Deutschland sich anstellt, dann hat er seinen Job. Wenn man einen Iraker oder Syrer als Gefahr für seinen Arbeitsplatz ansieht, dann muss man sich Fragen bezüglich seiner eigenen Qualifikation stellen.

Vermutlich sehen einige aber auch ihren Wohlstand bedroht, weil Politiker, insbesondere in Bayern, von der Zuwanderung in die Sozialsystemesprechen.
Todenhöfer: Das ist eine totale Vereinfachung. Die Diskussion wurde vereinfachend geführt, weil es diese Auseinandersetzung über die Willkommenskultur noch nicht gab. Jetzt muss man schauen, dass man eine menschliche aber auch gleichzeitig kluge Flüchtlingspolitik betreibt.

Wie sähe die Ihrer Ansicht nach aus?
Todenhöfer: Ich glaube, dass die Flüchtlinge für uns mehr Chance als Gefahr sind. Die Chance liegt darin, dass die Wirtschaft und das Handwerk Nachwuchs kriegen. Deutschland braucht Arbeitskräfte, um die Sozialsysteme aufrecht zu erhalten. Und diejenigen, die in absoluter Lebensgefahr vor dem Krieg geflohen sind, haben einen Anspruch auf Schutz. Wenn man in diesen beiden Sachen offensiv ist, also dass man einerseits ein klares Einwanderungsgesetz hat und auf der anderen Seite Menschen in Not hilft, dann kann man auch sagen, dass wir jene abschieben, die nur kommen, weil sie finden „in Deutschland ist es halt besonders schön“. Auch um die Flüchtlingsaufnahmebereitschaft aufrecht zu erhalten.

Für wie hoch halten Sie die Aufnahmekapazität von Deutschland?
Todenhöfer: Ich kann das nicht an einer Zahl festmachen. Wir sollten allerdings auch nicht in die ganze Welt Signale senden, dass jeder kommen soll, der will. Denn dann wäre am Ende weder die Bereitschaft zur Aufnahme da, noch die Fähigkeiten und die Gelder. Das muss mit Augenmaß passieren.
Die Signale heißen, dass wir junge Leute brauchen, die aber auch bereit sein müssen, die Sprache zu lernen, einen Beruf zu erlernen – und wir nehmen Menschen auf, die wirklich in Not sind. Das heißt, dass nach wie vor alle Fälle geprüft werden müssen. Zu sagen, dass jeder, der aus einem bestimmten Land kommt, aufgenommen wird, wäre das falsche Signal.

Jürgen Todenhöfer mit Sohn Frederic

Jürgen Todenhöfer mit Sohn Frederic


Sie haben knapp eine halbe Million Facebook-Fans, Ihre Bücher verkaufen sich gut, Ihre Lesungen platzen zum Teil aus allen Nähten. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Todenhöfer: Ich glaube, dass ich für viele eine Glaubwürdigkeit habe. Weil ich einen langen Weg hinter mir habe. Vielleicht auch gerade, weil ich in der CDU bin. Es ist nicht ganz einfach, mich einzuordnen, nach dem Motto: der ist bei einer NGO, also muss der sich für das und das einsetzen.
Nein, ich war in der Wirtschaft, ich war Manager, stellvertretender Vorsitzender eines riesigen Unternehmens, bin in der CDU und ich muss viele Sachen, die ich sage, gegen heftige Widerstände in der Bevölkerung und gegen Interessengruppen durchsetzen. Ich denke auch, dass es zur Glaubwürdigkeit beiträgt, dass ich sage, dass Waffenexporte ein großer Fehler und dass Kriege ein unglaubliches Verbrechen und eine riesige Torheit sind. Ich bin entsetzt, wenn ich bestimmte Politiker höre, die sagen, dass Deutschland auch wieder mal zu den Waffen greifen muss. Da kriege ich zu viel. An dem Chaos, das im Irak, in Afghanistan, Syrien und in Libyen entstanden ist, tragen allerdings auch die deutschen Medien eine Mitschuld.

Inwiefern?
Todenhöfer: Ich könnte Ihnen große deutsche Zeitungen nennen, die hinter jedem dieser Kriege gestanden haben, hinter dem Afghanistan-Krieg, dem Irak-Krieg, dem Libyen-Krieg, hinter der Unterstützung von Rebellen in Syrien – als ob man Probleme mit Gewalt lösen könnte.

Was vermuten Sie hinter diesem Engagement der Presse?
Todenhöfer: Eine der erfolgreichsten Überlebensstrategien ist nun mal die Anpassung, das ist in der ganzen Natur so. Das ist das gleiche Thema wie bei Franz Josef Strauß – da weiß ich doch auch, was man am besten sagt. Sich jetzt von ihm zu distanzieren, ist das Einfachste, dann hat man seine Ruhe. „Der Todenhöfer ist ein anständiger Kerl geworden. Abgehakt.“ Aber nein, das kann ich nicht machen. Das ist mir zu einfach.

Wir haben es also mit einer Art ‚Mainstream‘-Kriegsberichterstattung zu tun?
Todenhöfer: Wenn die Mächtigen der Welt – Amerika, die NATO – sagen, dieser Krieg, zum Beispiel gegen Afghanistan, muss jetzt sein, weil da hat der bin Laden ja leben dürfen, dann bildet sich ein Mainstream. Und nur wenige Journalisten haben die List, die Kraft und den Mut, sich gegen diesen Mainstream zu stellen.
Als ich vor dem Krieg im Irak warnte, hat man gesagt, ich sei ein Agent von Saddam Hussein. Ich wurde richtig fertig gemacht. Beim Afghanistan-Krieg wurde ich als Freund der Terroristen bezeichnet, weil ich angemerkt habe, dass die meisten Terroristen vom 11. September aus Hamburg kamen. Die afghanische Bevölkerung kannte al-Quaida gar nicht. Und bei Libyen schrieben die Zeitungen, „auf Gaddafi, so einen Dreckspatzen, nichts wie drauf, das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.

Das Internet hat allerdings auch die Meinungs-Monopole der großen Verlage aufgebrochen. Macht Sie das optimistisch, im Hinblick auf eine ausgewogene Berichterstattung?
Todenhöfer: Es gibt jetzt auf jeden Fall eine Möglichkeit, aus dem Mainstream auszubrechen und eine Gegenmeinung aufzubauen. Ich selbst lese jeden Tag meine Zeitung auf dem Hometrainer, aber ich kann eben auch selbst mit einem Beitrag auf meiner Facebook-Seite ungefähr eine Million Leser erreichen.
Es gibt einige gute Blogs, wo man Informationen bekommt, die man von den klassischen Medien nicht kriegt. Das ist eine gute Ergänzung und ein wichtiges Gegengewicht. Wenn auf diese Gegenmeinungen viele Reaktionen kommen, dann hat das auch eine Wirkung. Zum Beispiel dass es in Deutschland 180 Ermordete von Rechtsradikalen gibt, das werde ich so lange schreiben bis es jeder weiß.

Ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen beim Thema Kriegsberichterstattung zu nah an der Regierungslinie?
Todenhöfer: Ich möchte jetzt keine Presseschelte betreiben. Aber es gibt dieses Mainstream-Phänomen: „Man ist…“, „Man sagt…“ usw.
Als Richter habe ich viel über die Nürnberger Prozesse gelesen, auch die Reden des Chefanklägers  Robert H. Jackson, der damals sagte: Der Angriffskrieg ist das schlimmste aller Verbrechen, weil er alle Verbrechen in sich vereint. Daraus schließe ich, dass der Angriffskrieg von George W. Bush gegen den Irak ein Kriegsverbrechen war. Aber: Wenn ich das in einer Talkshow sage, verziehen die Damen und Herren Moderatoren die Gesichter.

Warum?
Todenhöfer: Die sagen: „Es gehört sich nicht“, „das sagt man nicht“. Man sagt nicht, dass der amerikanische Präsident ein Kriegsverbrechen begangen hat. Aber er hat es. Und wir müssen dahin kommen, dass wir das auch aussprechen. Nur dann schaffen wir es, dass der Krieg genauso geächtet wird wie Kinderpornographie oder andere Dinge, die die Menschheit ja auch geächtet hat.

Sie beteiligen sich an Diskussionen regelmäßig und intensiv. Haben Sie den Streit und die Reibung manchmal auch gesucht?
Todenhöfer: Ich bin eher harmoniebedürftig. Ich lehne zum Beispiel sehr viele Talkshows ab. Ich frage vorher immer, wer eingeladen ist. Und wenn ich erfahre, dass Leute in der Runde sitzen, mit denen es nur auf Streit und permanentes Unterbrechen hinausläuft, gehe ich gar nicht erst hin.

Sie sagten, es sei nicht einfach, Sie einzuordnen. Wie ordnen Sie sich selbst ein?
Todenhöfer: Ich würde nicht sagen, dass ich ein besonders guter Mensch bin. Ich weiß aber, dass ich relativ viel gesehen habe, auch dadurch, dass ich mehrere Berufe hatte. Ich habe die Welt von verschiedenen Seiten gesehen.

Sie wirken ein wenig wie ein Getriebener, die Vorstellung, dass Sie mal einfach so in den Urlaub fahren, fällt schwer.
Todenhöfer: In den Urlaub fahre ich wenig, allerdings habe ich mir vor kurzem einen Traum erfüllt und Italiens höchsten Berg, den Oraler bestiegen. Das sind elf Stunden rauf und elf runter.
Dass ich wenig Urlaub mache hat auch mit dem Erlebten zu tun. Demnächst werde ich in Syrien schwerbehinderte und schwerverletzte Kinder besuchen, denen wir mit dem Honorar des Buches „Du sollst nicht töten“ Prothesen finanziert haben. Wenn Sie solche Begegnungen haben, fällt es einfach schwer, zu sagen: „Da ist mal wieder ein Krieg, kümmere dich nicht drum, das ist nicht deine Sache.“ Ich komme da nicht mehr raus. Nach dem ersten Kinderkrankenhaus, das ich damals in Pakistan gesehen habe, bin ich aus dieser Sache nicht mehr rausgekommen.

Der Krieg verfolgt Sie?
Todenhöfer: Es lässt mich nicht los, wenn Menschen wegen irgendeiner Ideologie oder wegen eines Machtanspruchs glauben, sie hätten das Recht, anderen Menschen das Leben zu zerstören. Ich habe ein Mädchen getroffen, über das ich auch ein Buch geschrieben habe, die am Anfang des Irak-Krieges ihre Schwester, ihren Bruder und ein Bein verloren hat. Es ist ja nicht so, dass man ein Bein verliert, und dann tut es eine Woche weh. Sondern sie wird noch 50 Jahre lang ein Bein haben und verspottet werden, nie einen Mann kriegen, das Leben nicht mehr verstehen. Gegen diesen Unsinn ein bisschen aufzustehen, ist mir wichtig, mit den Menschen darüber zu sprechen, sich auch mit manchen anzulegen. Es gibt in der Regierung auch Leute, die da sehr genau zu zuhören.

Und der Gedanke, sich zur Ruhe zu setzen, existiert nicht?
Todenhöfer: Nein. Was heißt Ruhe, ich spiele jeden Samstag Fußball! Da bin ich zwar der Älteste, aber wenn ein Ball daneben geht ist das trotzdem keine Entschuldigung.

In Ihrem autobiographischen Buch Teile dein Glückschildern Sie eigene Erlebnisse und stellen dem Aphorismen gegenüber. Welcher Aphorismus wäre zutreffend in Bezug auf Ihre Erlebnisse beim IS?
Todenhöfer: Eigentlich nur der Satz: Man sollte seine Feinde kennen, wenn man sie besiegen will.
Ich finde, dass der IS nach wie vor von der Politik völlig unterschätzt wird. Sie haben keine Ahnung von den Guerilla-Methoden dieser Leute. Man versucht, sie mit klassischen Bomben-Kampagnen zu schlagen, das ist absurd. Oder dass man versucht, im Irak schiitische Milizen auf sunnitische Städte wie Tikrit loszulassen, und sich dann wundert, dass der IS noch mehr Unterstützung von der sunnitischen Bevölkerung bekommt. Wir kapieren diese Phänomene einfach nicht. Die sunnitische Bevölkerung unterstützt den IS, weil sie nach dem Sturz von Saddam Hussein diskriminiert worden ist. Wir haben eine große Ignoranz bezüglich dessen, was die Leute beim IS motiviert. Es sind Guerillas, und wenn sich in der Millionenstadt Mossul 10.000 IS-Leute befinden, dann sitzen die nicht an einem Ort und können nicht, wie die Amerikaner denken, mit Bomben geschlagen werden.
Mich erinnert der Krieg gegen den IS manchmal an den Vietnam-Krieg. Damals hat Henry Kissinger gesagt, Nordvietnam sei ein unterentwickeltes, unwichtiges, kommunistisches Agrarland. Weil er keine Ahnung hatte. Ein paar Jahre später wurden die Amerikaner vertrieben, aber sie haben nie richtig verstanden, warum sie den Krieg verloren haben. Weil sie das Land nicht kannten, weil sie die Menschen nicht kannten.

Sie appellieren ja in Ihrem Buch an den IS, mehr Journalisten in ihre Gebiete zu lassen. Doch das wird nicht geschehen, oder?
Todenhöfer: Eigentlich könnte man sich als Journalist, wenn man eine Zusage bekommt, auch darauf verlassen. Für mich kam die Zusage vom Büro des Kalifen und sie wurde eingehalten. Ich glaube allerdings nicht, dass der IS meinen Besuch als Erfolg ansieht. Deswegen wird der IS wahrscheinlich auch nicht mehr so sehr viele Journalisten einladen.

Sie haben einmal geäußert, dass Sie Schlafschwierigkeiten haben. Hat sich das inzwischen gelegt, oder zählt das zu Ihrem Getriebensein?
Todenhöfer: Ich habe da mal meinen Arzt gefragt, der mir sagte: „Wieso wollen Sie auch noch schlafen? Sie haben einen Vulkan in sich, da kann man nicht schlafen!“
Natürlich denke ich über viele der Sachen nach. Wenn Sie mal in so einem Kriegskrankenhaus waren, in Gaza zum Beispiel, und ein Kind sehen, das nicht mehr sprechen kann, weil es einen Splitter in der Stirn hat, den man nicht rausholen kann, weil man Angst hat, dass das Kind sonst stirbt. Wenn Sie selber die Sprache nicht mehr finden, weil sie dieses sprachlose Kind sehen… Oder wenn Sie in einem Krankenhaus in Damaskus eine junge Opernsängerin sehen, die nie mehr Opernsängerin sein wird, weil sie von einem Querschläger in der Brust getroffen wurde – solche Dinge erlebe ich jetzt schon seit Jahrzehnten. Und ich glaube, es wäre im Gegenteil sehr komisch wenn ich mich abends einfach hinlegen könnte und alles wäre in Ordnung.

Mich erinnert das an Günter Wallraff, der sich auch für Entrechtete einsetzt und mir im Interview ebenfalls über Schlafstörungen berichtete. Haben Sie sich mal getroffen?
Todenhöfer: Nein. Aber es gibt bestimmte Zeitgenossen, deren Leben man natürlich verfolgt, wo man sieht, dass sie einen Weg gegangen sind, der nicht der allereinfachste war. Wallraff ist ja nicht nur gelobt worden für seine Recherchen, sondern er ist auch immer verspottet, verhöhnt und bestraft worden. Ja, so etwas erlebt man, das erlebe ich auch. Der Spott und der Hohn ist im Preis mit inbegriffen.

Jürgen Todenhöfer wurde 1940 in Offenburg geboren. Er studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten München, Paris, Bonn und Freiburg, wo er schließlich auch promovierte. 1972 wurde er Richter an der Strafkammer des Landgerichts mehr

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