Frau Schoch, in der Presse wurde Ihr Buch „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ u.a. als ‚Frauentitel‘ bezeichnet. Haben Sie ein Frauenbuch geschrieben?
Schoch: Diese Bezeichnung stört mich. Mir wurde einmal ein Buch zum Signieren aus einer Bibliothek mitgebracht, das war zusätzlich zu meinem Namen unter „Frauen“ eingestellt. Ein Frauenschicksal scheint also kein Menschenschicksal zu sein.
Sie beginnen Ihr Buch mit einem Zitat aus dem Western „Duell am Missouri“. Warum?
Schoch: Das ist einer meiner Lieblingsfilme. Mann und Frau sind in diesem Film nicht auf klassische Weise getrennt. In dieser Weise sind auch die Hauptfiguren meines Romans angelegt. Es war außerdem zu erwarten, dass man dieses Buch auch ein „Ostbuch“ nennen würde. Ich wollte ganz klar sagen: Es gibt den Osten nicht mehr. Alles ist Wilder Westen.
Weiter heißt es am Anfang des Buches sinngemäß: Ich teile die Dinge des Lebens nicht in Unglück und Glück ein, sondern in Geschehen oder die absolute Abwesenheit von Geschehen.
Schoch: Das betrifft die Erzählerin, deren Leben von früher her so geprägt ist, dass alles, was Bewegung ermöglicht hätte – egal ob negativ oder positiv – schon erst einmal gut ist. Das hat etwas mit der Starrheit der Gesellschaft in der DDR zu tun. Damals hatte ich selbst als Kind das Gefühl, dass ich da nie rauskäme, dass alles noch ewig dauern würde. Schon ein seltsames Gefühl, so aufzuwachsen.
„Mit der Geschwindigkeit des Sommer“ spielt in Mecklenburg – wie auch andere große Erzählungen, in denen die Protagonistinnen zu Tode kommen. Ist man in Mecklenburg todesgefährdeter als anderswo?
Schoch: Als in Sachsen zum Beispiel? Ich weiß nicht. Es gibt vielleicht eine derartige Tradition, aber ich bin weder eine enthusiastische Fontane– noch Johnsonleserin. Johnson ist ja auch das ganze Gegenteil von mir. Er häuft Textmassen an und will so zu einer Art Dokumentation kommen. Ich synthetisiere eher. Was die Landschaft betrifft, ist es mir in dem Buch tatsächlich passiert, dass sie mehr und mehr zu einer Art Seelenlandschaft der Schwester wurde. Eine äußere Entsprechung für ihren inneren Zustand.
Allgemein bedeutet Tod Verlust. Doch es scheint, als wäre der Tod ihrer Schwester für die Erzählerin auch ein Gewinn.
Schoch: Wir haben alle Pauschalurteile über uns, über die Vergangenheit und über unsere Mitmenschen. Der Tod der Schwester ist der Auslöser dafür, noch einmal hinzuschauen. Die Erzählerin möchte genauer werden. Sie hatte ihre Schwester ja auch schon einem bestimmten Typus Frau zugeordnet. Sie hat ein Bild, in gewisser Weise eine Opferperspektive von ihr. Die muss sie erzählend revidieren.
Offensichtlich spielt das Verschwinden in Ihrem Buch eine große Rolle. Orte verschwinden und Menschen. Was bedeutet das Erinnern in diesem Zusammenhang?
Schoch: Ich glaube, die Schwester vollzieht das Verschwinden des Städtchens, in dem sie so viele Jahre gelebt hat, mit ihrem Körper nach. Gleichzeitig rettet sie sich aber in die Erinnerung. Sie ist der einzige Ort, an dem ihre Biografie einen Sinn hat. Mithilfe ihres Liebhabers beamt sie sich immer wieder in eine frühere Zeit, in der sie näher am Leben dran war als in der Gegenwart. Erinnern heißt für sie also auch Leben erhalten.
In welcher Version von Realität hätte die Schwester am Leben bleiben wollen?
Schoch: Genau das versucht das Buch herauszufinden. Die Schwester sagt im Traum am Ende des Buches, dass dieser Platz, ein Platz für das absolut gelingende Leben, nicht zu finden ist. Ob noch nicht, ist die Frage. Selbstmord an sich ist ja etwas sehr Privates. Ich wollte aber wissen, ob es nicht doch einen Zusammenhang gibt zwischen der Gesellschaft und dieser privaten Entscheidung eines Einzelnen.
… dann ist Privates für Sie als Autorin politisch?
Schoch: Ja. So habe ich es geschrieben. Das heißt nicht, dass ich an eine Gesellschaft glaube, in der Selbstmord abgeschafft sein könnte. Aber ich empfinde es als Zumutung, Leben und Tod nur als private Probleme zu betrachten. Ich wollte beschreiben, wie viel Anteil die Gesellschaft hat.
Inwieweit hängen denn Ihres Erachtens das politische System und ein gelingendes Leben zusammen?
Schoch: In der DDR war das Privatleben durch und durch politisiert, heute ist das Gegenteil der Fall. Wir müssen unsere Entscheidungen heute nicht rechtfertigen. Wir müssen nicht in Kriege ziehen, können heiraten wen wir wollen, leben wie wir wollen, keine Obrigkeit befiehlt uns einen Lebenslauf, wir werden ja eigentlich nie belangt von Politik. Alles, woran man heute scheitert, scheint also die eigene Unfähigkeit zu sein. Das kann ein Problem für den Einzelnen werden. In Diktaturen hingegen kann man jedes Misslingen delegieren. Die Verhinderungen passieren immer von oben. Die Schuldfrage ist immer eindeutig: Man lebt einfach im falschen Staat, unter der falschen Regierung.
Und das Scheitern der Schwester in Ihrem Buch?
Schoch: Eigentlich steht sie ja gut da: das Eigenheim, die Kinder in der Schule, alles ist an seinem Platz. Aber da ist eben noch was, das im Inneren rotiert. Eine Unruhe, eine Sehnsucht, die ewig unerfüllt bleibt. Sie kommt sich klein und mickrig vor in der neuen Zeit. Früher fühlte sie sich größer. Sie wurde für eine Zukunft getrimmt, die plötzlich ausgeblieben ist. Und an dieser Veränderung hat sie keinen Anteil.
In der DDR war das Privatleben durch und durch politisiert, heute ist das Gegenteil der Fall. Wir müssen unsere Entscheidungen heute nicht rechtfertigen.
Sie beschreiben die Ödnis von Gegenden in Mecklenburg-Vorpommern, Ortschaften, die aussterben. Werden diese Wüstungen in der Umgebung auch zur Wüstung im Menschen selbst?
Schoch: Auf jeden Fall. Weil das Verschwinden ja mit der eigenen Biografie zu tun hat. In dem Moment, an dem ein Ort verschwindet, der mit einem zu tun hat, geht natürlich auch ein Stück der Biografie verloren. Aber das gibt es nicht nur im Osten. Im Unterschied zu anderen Landstrichen oder Ländern erfolgte das Verschwinden hier nur massiver und flächendeckender. Dadurch wurde das Ganze zu einem seltsamen Kollektiverlebnis und eben nicht zu einem privaten. Es ist schon etwas Besonderes, wenn kollektives und privates Erleben zusammen fallen.
Wenn man Ihr Buch liest denkt man Unwillkürlich an Heimat. Würden Sie sagen, der Heimatbegriff war in der DDR ein anderer als in der BRD?
Schoch: Irgendwer hat mal gesagt: Heimat ist da, wo man sich aufhängt. Als Jungpionier hatte man natürlich ganz andere Assoziation zu diesem Begriff. Erst im Nachhinein ist mir aufgegangen, dass Heimat in der DDR, so wie ich es verinnerlicht habe, immer nur ein ideologischer Raum war und nie ein landschaftlicher. Deshalb kommt es vielleicht vielen so vor, als hätten sie ihre Heimat verloren.
Fühlen Sie sich persönlich Ihrer Heimat beraubt?
Schoch: Schon, aber ich weiß nicht, ob das dramatisch ist. Vielleicht ist das auch ein Charakteristikum von Zeit. Zeit vergeht und damit vergehen auch Orte. Ich würde es daher nicht als Verlust beschreiben. Aber dass dieses Verschwinden ein Teil meines Lebens ist, das kann ich auf jeden Fall sagen.
Wie erleben Sie den öffentlichen Umgang mit der DDR als Heimatraum?
Schoch: Anlässlich der Jubiläen „20 Jahre friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ wird das Erinnern von Staatsseite ja reichlich betrieben. Grundsätzlich ist das sicher richtig. Aber vielleicht kann man auch etwas zu Tode erinnern. Wenn man sich eher der Vergangenheit als der Zukunft zuwendet, lenkt man natürlich auch ab von der Tatsache, dass man keinerlei Hoffnung oder Vorstellung für eine mögliche Zukunft hat, dass das alles diffus ist. Die Vergangenheit ist ja immer schön überschaubar.
Wird, Ihrer Ansicht nach, die DDR als Heimat zugelassen?
Schoch: Wenn der „Spiegel“ die wichtigsten Deutschen auf das Titelbild setzt, dann sind das Menschen von Boris Becker bis ich weiß nicht wen. Da kommt der Osten nicht vor. Das ist eine Art des Aburteilens, bei der man verschweigt, verniedlicht oder verharmlost. In der Kunst, bei den Malern, den Schriftstellern, passiert eine viel interessantere, genauere Auseinandersetzung mit Heimaträumen oder dem Verschwinden.
In Ihrem Buch sprechen Sie nie von der Wende immer von der Revolution. Warum?
Schoch: Das war eine grundsätzliche Vokabelentscheidung. Der Begriff Wende wurde von Egon Krenz geprägt. Er kommt mir immer wie eine Verniedlichung vor. Es war natürlich eine Revolution. In Osteuropa sprechen sie alle von Revolution in ihren Ländern. Und wenn man in anderen Sprachen dann das Wort Wende benutzen will, bemerkt man diese kleine deutsche Nuance, diese Mini-Unterscheidung.
Der Topos des untergegangenen politischen Systems spielt bei Autoren Ihrer Generation, zumindest wenn sie einen DDR-Hintergrund haben, immer wieder eine Rolle. Glauben Sie, dass die Zeit nach ‘89 oder die zurückgelassene DDR für diese Autoren etwas Ähnliches sein wird wie die Zeit nach ‘45 für die Generation Christa Wolf?
Schoch: Ich glaube, jeder Mensch hat nur ein, maximal zwei Erlebnisse, die sein Leben wesentlich prägen. Selbst wenn ich es nicht jedesmal ausdrücklich thematisiere, ist bis heute das Erleben von ‘89 der Hintergrund, vor dem ich die Gegenwart betrachte. Man kann auch nicht zu Günter Grass sagen: Wann sind Sie denn nun endlich durch mit Ihrem Danzig? Das ist halt sein Thema, das ist sein Urerlebnis.
Beim Lesen des Buches meint man eine leise Verwandtschaft zu spüren zu den Büchern und Figuren anderer Autoren mit einem DDR-Hintergrund, zum Beispiel zu Christa Wolf und Christoph Hein. Fühlen sie sich verbunden mit diesen Autoren?
Schoch: Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich einen Zeitenraum beschreibe, den auch diese Autoren beschreiben. Ich glaube nicht, dass man diese Art des Schreibens oder diese Ästhetik wahllos auf jedes Ereignis anwenden könnte. Unsere Bundesrepublikanische Welt kann man zum Beispiel nicht genauso beschreiben. Vielleicht bringt dieser Raum DDR gleichzeitig eine spezielle Art des Nachdenkens, eine bestimmte Art des Fragens, des Schreibens mit sich… So wie sich ja auch die Postmoderne ganz andere Fragen stellt als die Moderne.
Ist dieser Raum eine geeignete Folie, allgemein menschliche Themen ernsthaft zu verhandeln?
Schoch: Ich gebe zu, mir hat eine gewisse Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung immer gefallen. Die genannten Autoren, auch wenn ich sie erst nach 1990 las, waren mir immer sehr nah. Ich habe es als sehr logisch empfunden, wie sie diese Welt bearbeitet und beschrieben haben. Dagegen hat zum Beispiel Thomas Brussig für diesen Stoff eine ganz andere Variante des Arbeitens gewählt.
In Ihrem Buch steht, dass Schreiben und Erinnern die Wahrheit verschleißen. Ist das ein Hemmnis oder ein Segen für Ihre Arbeit als Schriftstellerin?
Schoch: Beides. Man erinnert sich schreibend nicht an die Wirklichkeit, sondern nur an das, was man fantasiert. Ich habe das zum Beispiel in meinem ersten Buch bemerkt, in dem ich über Rumänien geschrieben habe. Da kommen dann manchmal Menschen, die dabei waren und sagen: Das war aber ganz anders! Je länger man über etwas nachdenkt, desto mehr gestaltet man es. Indem ich diesen Ort so beschrieben habe, ist er jetzt so. Beim Schreiben gelangt man ja nicht zur Wahrheit, sondern zu einer Wahrhaftigkeit. Eine Wahrhaftigkeit des Gefühls, des Ausdrucks.
Inwiefern ist es wichtig, eine Grenze zwischen sich und den Figuren zu ziehen?
Schoch: Zieht man die so genau? Das weiß ich nicht. In meinem Roman wollte ich jedenfalls suggerieren, dass Autorin und Erzählerin eins sind.
Aber Ihre Schwester hat sich nicht das Leben genommen…
Schoch: Ach, alle sind wohlauf. Ich wollte hauptsächlich über diesen verschwindenden Ort schreiben, der ja der Ausgangspunkt des Erzählens ist, und nur über einen Ort ohne Personen kann man eben nicht schreiben.