Das folgende Interview entstand im Oktober 2020, die Veröffentlichung wurde angesichts geschlossener Kinos verschoben. Der Film „Und morgen die ganze Welt“ startet am 06.05. auf Netflix und ist auf DVD erhältlich.
Frau von Heinz, „Und morgen die ganze Welt“ ist ein Film über Radikalisierung. Bräuchten wir heutzutage nicht viel mehr einen Film über De-Radikalisierung?
Julia von Heinz: Ich glaube nicht, dass es ein Film über Radikalisierung ist. Dieses Wort bedient oft das Gefühl der Hufeisentheorie, also die Idee, es gäbe einerseits eine demokratische Mitte und andererseits Rechtsextreme, Linksradikale, also extreme Gedanken an zwei Rändern zu denen hin man sich radikalisiert. Das sehe ich nicht so und das widerlegt, glaube ich, auch mein Film.
Wir haben die Protagonistin Luisa, die vor ganz konkrete Entscheidungen in ganz konkreten Momenten gestellt wird, auf die sie reagiert. Die Ereignisse werden stärker, ihre Reaktionen werden auch stärker. „Radikalisierung“ ist dafür keine präzise Beschreibung.
Sie geben Einblicke in die Antifa-Szene, in der Sie früher selbst aktiv waren. Haben Sie für den Film auch in der rechten Szene, die im Film teilweise sichtbar wird, recherchiert?
von Heinz: Wir haben bewusst eine filmische Ich-Erzählung gewählt, die strikt aus der Perspektive von Luisa erzählt. Das heißt, man sieht von den Rechten nur so viel, wie es jemand aus der linken Szene, jemand wie Luisa, sehen würde. Dementsprechend steigen wir nicht so differenziert und vielschichtig in die rechte Szene ein. Dennoch wollte ich ein breiteres Spektrum davon abdecken: Man sieht im Film einen rechten Studenten, der aussieht wie ein konservativer Kommilitone, ich zeige eine rechte Parteisprecherin, die aussieht wie die nette Nachbarin von Nebenan– ich sehe aber auch die typischen militanten Nazis. Damit zeige ich eine Spannbreite, wie wir sie aus den Nachrichten kennen.
Ganz bewusst habe ich mich entschieden, keinen Film zu machen, der aus der rechten Szene heraus erzählt. Ich bin froh, dass solche Filme vielfach aus Deutschland heraus entstehen, ich fand nur nicht, dass ich den nächsten davon drehen muss.
Wie war es zu Ihrer eigenen Antifa-Zeit: Gab es da Kontakte mit dem ‚Gegner‘, gab es Dialogversuche?
von Heinz: In der Antifa, in der ich war, war man der Meinung, dass es nichts viel bringt, mit Nazis darüber zu diskutieren, warum sie diese menschenfeindlichen Ansichten haben. Das kann man heutzutage infrage stellen und sich überlegen: Würden wir durch Dialog, durch Schritte auf diese Menschen zu, sie vielleicht bewegen? – Genau diese Frage stellt ja auch der Film. Ich bin der Meinung: Im Jahr 1945 hat man zu lange versucht, im Dialog und mit Diplomatie, die Nazis dazu zu bewegen, demokratischer zu werden. Es konnte dann 1945 nur noch mit Gewalt beendet werden. Ich hoffe, dass es nie so weit mehr kommt.
Ich habe gemerkt, dass ein Film mehr Wirkung entfalten kann, wenn er mir Fragen stellt, anstatt mir Antworten zu liefern.
Die Genese von „Und morgen die ganze Welt“ erstreckt sich über einen langen Zeitraum, die Idee zu so einem Film hatten Sie bereits vor über 20 Jahren…
von Heinz: Ja, richtig.
Nun thematisiert der Film das Widerstandsrecht, welches in Art. 20 des Grundgesetzes Abs. 4 formuliert ist. Sehen Sie Deutschland heute näher an einer Situation, die den Gebrauch dieses Rechtes rechtfertigen würde, als noch vor 20 Jahren?
von Heinz: Es haben sich seit den 90er Jahren zwei Dinge verschärft: Zum einen ist rechtes Gedankengut mehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Eine rechte Partei, die eine große Veranstaltung durchführt kann dafür ohne Weiteres eine Veranstaltungshalle mieten und bekommt sie auch gefüllt. Das war in den 90er Jahren so noch nicht denkbar. In den 90er Jahren hingen die Plakate der Republikaner immer weit oben an den Laternenpfählen, damit sie nicht heruntergerissen werden. Heute muss die AfD das nicht mehr tun, sondern kann ihre Plakate auf Augenhöhe anbringen. Das ist neu.
Neu ist für mich auch, dass wir fast täglich in den Nachrichten erfahren, wie staatliche Organe mit rechten Strukturen eng verbunden sind. Es gib Polizisten, die sich in Whatsapp-Gruppen rassistisch untereinander austauschen, bei Razzien in rechten Strukturen werden Waffen der Bundeswehr gefunden. Dann die rätselhafte Rolle des Verfassungsschutzes beim NSU-Prozess. Oder dass Informationen über politisch unliebsame Leute aus Polizeicomputern den Weg in rechte Strukturen finden. Entweder wir erfahren heute mehr über solche Dinge, oder es ist tatsächlich mehr geworden.
Das Grundgesetz und der Widerstands-Paragraph werden in den letzten Monaten auch von Menschen zitiert, die auf Demonstrationen ihren Glauben zum Ausdruck bringen, hinter den Corona-Einschränkungen stecke eine Art Verschwörung. Was halten Sie davon?
von Heinz: Das zeigt mein Film ja auch: Der rechte Student zu Beginn des Films sagt, er möchte das Widerstandsrecht für sich in Anspruch nehmen, weil die deutsche Demokratie durch Masseneinwanderung in Gefahr sei. Das finde ich zynisch, denn dieser Artikel wurde aus einem anderen Grund im Grundgesetz verankert, nämlich um die Demokratie vor faschistischer und rechter Übernahme zu schützen. Diesen Artikel zu verkehren und im Sinne einer unmenschlichen Ideologie auszulegen ist zynisch.
Sie sagen im Presseheft zum Film, dass Sie „viele Jahre Flugblätter geschrieben“ haben. Heute drehen Sie Filme – was hat das eine noch mit dem anderen zu tun?
von Heinz: Es hat zum Glück nichts miteinander zu tun. Ich habe das erwähnt, gerade weil das Filmemachen so anders ist. Auf den Flugblättern waren wir der Meinung: Es gibt eine einzige Wahrheit und die bringen wir jetzt unter die Menschen. Ein Film, der in diesem Sinne sprechen würde, wäre langweilig, das wäre ein Propaganda-Film. Ich habe im Laufe der Zeit für mich als Künstlerin gemerkt, dass ein Film mehr Wirkung entfalten kann – auch bei mir selbst – wenn er mir Fragen stellt, anstatt mir Antworten zu liefern.
Heißt das, dass Sie auch ‚einer guten Sache‘ als Regisseurin mehr dienlich sind, wenn Sie Fragen stellen, statt Antworten zu geben?
von Heinz: Ja, richtig.
Gibt es Filme, die Sie beeinflusst haben, weil sie viele Fragen gestellt haben?
von Heinz: Ja, einige. „Die bleierne Zeit“ von Margarethe von Trotta war ein wichtiges Vorbild für mich. Auch die Filme von Jacques Audiard, die sehr politisch verankert sind mit ihren sehr persönlichen Geschichten, oder die Arbeiten von Andrea Arnold. Diese Filme haben mich geprägt.
Wie schwer ist es, einen politischen Film einerseits wirkungsvoll zu gestalten und andererseits mit ihm ein breites Publikum zu erreichen?
von Heinz: Ich als Filmemacherin würde mich immer darum bemühen, einen unterhaltsamen, emotionalen und spannenden, intellektuell herausfordernden Film zu machen, um in einen möglichst breiten Dialog mit viel Publikum zu treten.
Nun ist die lange Entstehungszeit des Projekts mitunter dem Umstand geschuldet, dass Sie keine Finanzierungszusage erhielten. Warum wurde Ihnen das versagt, angesichts des wichtigen Themas?
von Heinz: Ich glaube, dass manchmal die Sorge besteht, dass politische Themen zu aktuell sind fürs Kino. Kinofilme müssen durch langwierige Finanzierungsprozesse gehen, die im Schnitt vier Jahre dauern. Es besteht die Sorge, dass ein Film, der heute erdacht wird, in vier Jahren auf die Welt kommt und dann bereits Schnee von gestern ist. Daher finden solche Themen selten in Kinofilmen statt und sind öfter bei uns im Fernsehfilm aufgehoben, was ich schade finde.
Sie haben über den Zusammenhang zwischen Kino und öffentlich-rechtlichem Rundfunk promoviert. Und Sie sagten 2019 in einem Interview: „Fiktionale Filme im deutschen Fernsehen sind fast ausschließlich Krimis. Das Verbrechen dient der Entspannung.“ Das klingt so, als bräuchte es im Fernsehen mehr Mut.
von Heinz: Das ist sehr verkürzt und um das zu beantworten bräuchte es viel mehr Zeit. Lassen Sie mich zumindest eines klarstellen: Ein Film wie „Und morgen die ganze Welt“ kann nur entstehen, weil wir das öffentlich-rechtliche Fernsehen haben. Ohne den SWR hätte es diesen Film nicht gegeben, ohne den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hätte es auch „Die fetten Jahre sind vorbei“ nicht gegeben, auch nicht „Die bleierne Zeit“.
Wenn Sie es vergleichen, den Einfluss als Aktivistin in einer Gruppierung wie der Antifa und Ihren Einfluss heute als Regisseurin…
von Heinz: Ich kann mit meinen Filmen deutlich mehr Menschen erreichen als ich es damals in meiner örtlichen Antifa-Gruppe konnte. Ich bin der Meinung, dass ich mit Filmen Bilder erschaffen kann, die auf die Wirklichkeit zurückwirken. Zum Beispiel: Wie zeige ich Frauen? Wie zeige ich Beziehungen? Und ich denke, dass ich damit unterm Strich mehr erreiche.
Was sind in Ihren Augen die Verdienste der Antifa?
von Heinz: Wenn es die Antifa nicht gegeben hätte und bis heute gibt, wären Nazis viel sichtbarer gewesen, auch im Straßenbild. Sie hätten viel mehr dafür gesorgt, dass Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen, sich nicht frei bewegen können. Die Antifa hat immer dafür gesorgt, dass Nazis nicht zu viel Raum bekamen.
Ich sprach unlängst mit dem Gründer von EXIT, Bernd Wagner, der sich seit 20 Jahren mit De-Radikalisierung beschäftigt. Er hält bestimmte Methoden der Antifa, wie zum Beispiel Outing-Kampagnen, für falsch und ist der Ansicht, sie würden eher eine Radikalisierung der anderen Seite bewirken. Er spricht von einem „sich gegenseitig-fütternden Aggressionssystem“.
von Heinz: Das knüpft an den Gedanken an, Gewalt erzeuge Gegengewalt. Das ist aber eine Vereinfachung. Denn selbst wenn es keinerlei linke Gewalt gäbe, gäbe es rechte Gewalt. Ein Haus in Solingen, das angezündet wird, ein Haus in Mölln, Rostock-Lichtenhagen – das hat nichts mit einer Gewaltspirale zu tun, sondern das ist eine einseitige Aggressivität gegen Menschen, die ein friedliches Leben leben wollen. Diese Leute beim Namen zu nennen, im Sinne von Brecht „das Unrecht hat Namen und Adressen“, oder auch zum Teil die Arbeit der Polizei und des Verfassungsschutz zu übernehmen, ist immer ein Verdienst der Antifa gewesen.
Ein Beispiel ist die Bürgermeisterin von Köln Henriette Reker, die ein Messer in den Hals bekommen hat: Da wurde immer gesagt, es sei ein ‚irrer Einzeltäter‘ gewesen, aber die Antifa Bonn/Rhein-Sieg wusste, dass es kein irrer Einzeltäter war, sondern Frank Steffen. Der hat damals schon die „Freiheitliche Arbeiter Partei“ (FAP) in Bonn gegründet und ist ein bekannter Neonazi. Die Polizei ist da manchmal auf dem rechten Auge blind.
Sie bezeichnen die Arbeit an „Und morgen die ganze Welt“ als „sehr persönliche Angelegenheit“. Wie schwer war es, beim Verfassen des Drehbuchs auch kritisch mit sich selbst zu sein?
von Heinz: Mit dem Abstand der Jahre ist mein Blick auf eine solche Gruppe ehrlicher und präziser geworden. Vor 20 Jahren hätte ich so ein Antifa-Gruppe vielleicht noch romantisiert, es wäre mir ein Anliegen gewesen, sie ohne Konflikte zu zeigen, als Persönlichkeiten, die vielleicht nur mit positiven Charaktereigenschaften ausgestattet sind. Die Jahre der Filmentstehung haben mir die Möglichkeit gegeben, einen präziseren, ehrlicheren und damit auch kritischeren Blick darauf zu werfen.
Das ZDF kritisierte 2019 mit einem Beitrag, dass Spiegel-Journalisten und ein ARD-Moderator an einer Geburtstagsfeier (von Mathias Matussek) teilnahmen, bei der auch Vertreter der Neuen Rechten eingeladen waren. Dieses Aufzeigen von ‚wer verkehrt mit Rechten‘, ist das eine Methode, die Sie begrüßen?
von Heinz: Ich finde es interessant, jemand herauszufordern, und zu fragen: Was verbindet dich mit diesem Menschen? Ich selbst war Teil einer Aktion, wo wir diese Frage Prof. Dr. Mendig von der Hessischen Filmförderung gestellt haben, nachdem er sich mit Jörg Meuthen von der AfD getroffen hat. Den haben wir öffentlich dazu aufgefordert, uns zu erklären, inwieweit er sich mit diesem AfD-Politiker konstruktiv austauscht.
Gelegentlich werden AfD-Politiker in Talkshows eingeladen. Kann das aus Ihrer Sicht sinnvoll sein, oder lehnen Sie das konsequent ab?
von Heinz: Es bringt zumindest dann nichts, wenn man ihnen nur Raum gibt und ihre Thesen unwidersprochen stehen lässt. Ich bezweifle, dass Talkshows Orte sind, an denen ausführlich über ihre Thesen gesprochen werden kann. Im Grunde gibt man ihnen damit vorallem ein öffentliches Forum.
++ VERLOSUNG ++ Gewinner ++
Wir haben 3 Exemplare der DVD von „Und morgen die ganze Welt“ verlost. Für die Teilnahme war folgende Frage zu beantworten: Welchen Film können Sie empfehlen, der Ihnen mehr Fragen gestellt als Antworten geliefert hat?
Hier sind die Antworten der 3 Gewinner:
– „L’Animale“ (Regie: Katharina Mückstein, Wikipedia)
– „An Interview with God“ (Regie: Perry Lang, Wikipedia)
– „The Five People You Meet in Heaven“ (Regie: Lloyd Kramer, IMDb)
Das Widerstandsrecht im Grundgesetz war gegen die 68er gerichtet. Die APO wurde als ernste Gefahr gesehen. Das wurde geschickt uminterprediert.
Die verfassungswidrigen Kriege in aller Welt findet Baerbock gut.
Also Widerstandsrecht ist formal zur Zeit gegen alle Parteien gerechtfertigt.
@murks
Was für ein Stuss. Das Widerstandrecht steht seit Kriegsende im Grundgesetz, da war von den 68ern noch gar nicht die Rede. Wenn Sie den Artikel oben richtig gelesen und verstanden hätten, würden Sie hier nicht so einen Bullshit schreiben.