Julie Delpy, in „Lolo“ spielen Sie Violette, die Mutter eines 19jährigen Soziopathen…
Julie Delpy: Bevor Sie weitersprechen, dieser Film hat nichts mit meinem eigenen Leben zu tun. Das Opfer eines Soziopathen zu sein, ist etwas Schreckliches. Aber ich fand es einfach amüsant, mich zu fragen: Was wäre, wenn dieser Soziopath dein eigener Sohn ist? Wenn dein Sohn dein Leben ruiniert, was willst du da machen? Wie kann man sein eigenes Kind loswerden? Das geht nicht. Es handelt sich hier sozusagen um die schrecklichste aller möglichen Situationen. Aber sie ist auch ziemlich komisch.
Man kann von Glück sagen, dass dieses Problem wahrscheinlich nicht allzu weit verbreitet ist.
Delpy: Natürlich. Andererseits, es gibt Kinder, die das Leben ihrer Eltern auf verschiedene Weisen zur Hölle machen. Dazu müssen sie nicht einmal Soziopathen sein. Es reicht, dass sie in die Pubertät kommen. In dem Film redet Violettes beste Freundin Ariane ein wenig darüber mit ihrer 16jährigen Tochter, die ihr wirklich das Leben schwer macht. Karin Viard, die Ariane spielt, hat selbst eine Tochter in diesem Alter und aus ihrer Erfahrung hat sie bestimmt Einiges für ihre Rolle übernommen.
Violettes Sohn Lolo, der vonVincent Lacoste gespielt wird, wirkt wie eine Satire auf einen typischen Macho.
Delpy: Er benimmt sich wie der König des Hauses. Meinen eigenen Sohn nenne ich seit er klein ist „Mein kleiner Imperator“. Eines Tages nahm er sich ein rotes Handtuch und wickelte es um sich herum, als wäre er Cäsar. Da dachte ich: Vielleicht sollte ich aufhören, ihn so zu nennen. (lacht) Aber mein Sohn ist ein sehr empathischer, süßer Typ. Ich muss mir da nicht wirklich Sorgen machen. Der Film ist eben nur eine Fantasie, die mir aber viel Spaß gemacht hat.
Es ist interessant, wie die Mutter im Film mit kleinen Sätzen und Gesten Lolos Verhalten fördert.
Delpy: Ja, es ist eben eine zweischneidige Sache, wenn sie ihrem Sohn sagt: Du bist die Liebe meines Lebens. Natürlich ist ein Kind die Liebe deines Lebens, aber eben nur auf eine bestimmte Art und Weise. Aber es ist eben nicht die einzige Person, mit der man sein Leben verbringen möchte. Der Film spielt mit der Idee, dass man als Mutter die Balance finden muss zwischen der unbedingten Liebe zum Kind, und dem eigenen Leben. Man darf als Mensch, als emotionales Wesen und Frau auch nicht komplett verschwinden. Die Frau im Film hat nichts außer ihrer Arbeit und ihrem Kind. Davor sollte man sich hüten.
Aber diese Balance muss man sich auch leisten können. Violett arbeitet zum Beispiel im Modebusiness. Da dürfte es nicht gerade elternfreundlichen Arbeitszeiten geben.
Delpy: In diesem Geschäft wird das Privatleben durch die große Anzahl von Arbeitsstunden ganz besonders beeinträchtigt. Und dann müssen die Kinder eben in gewisser Weise auch oft den Raum ausfüllen, den sonst ein Partner übernehmen würde. Sie werden zu Ansprechpartnern für die Probleme von Erwachsenen.
Ich denke viel darüber nach, wie man Kinder aufzieht.
Im Film zeigen Sie in einer albtraumhaften Schwarzweiß-Szene, dass Lolos Probleme noch früher begannen: In dem Moment, wo er als Kleinkind von der Brust seiner Mutter weggerissen wurde….
Delpy: Es macht mir einfach Spaß, solche Bilder zu erfinden, um die Psychologie der Figuren zu erzählen – auch wenn es sich in diesem Fall zugegebener Maßen um ein sehr offensichtliches freudianisches Klischee handelt. Das Kind wird nicht mehr gestillt und von da an projektiert es die Brust auf etwas anderes .
Für Lolo werden seine Frühstückseier zum Mutterbrust-Ersatz…
Delpy: Genau. Als mein Sohn drei Jahre alt war, habe ich einen Psychologen gefragt, warum mein Kind mich immer beißt. Er sagte: Das wird schon weggehen, wenn er aufhört, seine Mutter als Essen zu betrachten. Normalerweise wächst man eben aus dieser Phase heraus, aber es hat mir Spaß gemacht, mich zu fragen, was passiert, wenn ein Sohn nicht damit aufhört seine Mutter zum Fressen gern zu haben. (lacht)
Beschäftigen Sie sich viel mit Psychologie?
Delpy: Ich lese kaum Romane. Wenn ich das tue, hat das einen zu großen Einfluss auf mein Hirn. Ich beginne dann zu viel zu träumen. Ich lese also meistens Sachbücher, wissenschaftliches Zeug über Geschichte, Psychologie, Politik oder Geographie. Und als ich selbst Mutter wurde, habe ich viel über die Psychologie zwischen Mutter und Sohn gelesen.
Hat Ihnen diese theoretische Vorbereitung praktisch geholfen?
Delpy: Naja, man fragt sich als Eltern doch oft, ob man auch das richtige tut. Manche haben Kinder bevor sie viel Zeit haben, darüber nachzudenken. Ich habe mit 39 mein erstes Kind bekommen und hatte viel Zeit vorher darüber nachzudenken. Ich denke immer noch viel darüber nach, wie man Kinder aufzieht, was man gut oder schlecht machen kann. Wahrscheinlich liegt es auch einfach daran, das ich schreibe und generell die Neigung habe, viel zu recherchieren und mich in meiner Gedankenwelt zu bewegen. Ich kann wohl nicht anders, als ständig zu reflektieren, welchen Effekt mein Leben auf meinen Sohn haben könnte. Ist es zum Beispiel gut, wenn ich ihn „Mein kleiner Imperator“ nenne?
Haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
Delpy: Es geht wohl einfach darum, die richtige Balance zu finden. Einerseits gibt es den kurzzeitigen Effekt, dass er sich wohler in seiner Haut fühlt, wenn ich ihn so nenne. Andererseits sollte ich es auch nicht übertreiben. Ich finde es auch sehr interessant, wie mein Sohn jetzt darauf reagiert, dass ich einen neuen Ehemann habe. Manchmal, wenn er mich umarmt, geht mein Sohn dazwischen und sagt: „Kämpft für das Mädchen!“ (lacht) Das ist so lustig und es bringt auch meinen Mann zum lachen. Es ist nicht so, dass mein Sohn wirklich besonders eifersüchtig wäre, aber er sagt trotzdem: „Kämpft für das Mädchen!“ Und dieses Mädchen bin ich.
Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie eine Tochter auch Ihre „Kleine Prinzessin“ nennen würden?
Delpy: Als Mutter hebe ich meinen Sohn auf ein Podest. Ich weiß aber nicht, wie das mit einem Mädchen ist. Es ist wahrscheinlich schrecklich, so etwas zu sagen, aber es ist wohl besser, dass ich einen Sohn habe. Ich weiß nicht, ob ich zu einer Tochter so nett wäre. Es ist für Mädchen nicht einfach. Zu meinem Sohn habe ich wirklich eine Beziehung, ich glaube mit einem Mädchen wäre das anders. Ist das nicht schrecklich, so etwas als Frau zu sagen? Ich habe Freunde mit Töchtern und ich verstehe nicht, wie deren Beziehung funktioniert.
Was hat Sie besonders am Muttersein überrascht?
Delpy: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich es so genießen würde, dass ich überhaupt irgendetwas so genießen würde, wie das Muttersein. Ich habe immer gedacht, Schreiben und Regieführen wäre mir das Liebste auf der Welt. Ich will das auch niemals aufgeben, aber tatsächlich liebe ich es mehr als alles andere, Mutter zu sein. Ich liebe es zu geben, meinem Sohn etwas beizubringen, mit ihm Vergnügungen zu teilen, ist das Schönste. Als Kind habe ich die Wissenschaft geliebt, aber ich war eher allein damit in meiner Welt. Und nun habe ich diese Jungen, der das auch liebt. Wir gehen alle zwei Wochen ins Wissenschaftsmuseum.
Ihr Sohn ist sieben. Hat er schon Berufswünsche geäußert?
Delpy: Er sagt: Wissenschaftler oder Regisseur. (lacht) Ich habe ihn dann gefragt, ob er auch Komponist werden wollen würde, denn sein Vater ist Komponist. Und er sagt: Nein, das ist langweilig. Er fragt mich: Mama, was ist besser, soll ich Wissenschaftler oder Regisseur werden? Ich habe nur gesagt: Du musst dich jetzt nicht entscheiden. Du hast noch ein paar Jahre. Aber: Als Regisseur kann du so etwas wie „Star Wars“ machen. Das ist für ihn dann auch so interessant wie die Wissenschaft.
Danny Boon, der in „Lolo“ Ihren neuen Partner spielt, erwähnte in einem Interview, dass die Franzosen immer noch unter dem Erbe der Kinderpsychologin Françoise Dolto leiden würden, deren Theorien vor allem in den 1960er und 70er Jahren populär waren.
Delpy: Ja, sie hatte einen besonderen Blick auf Kinder und eine ganze eigene Philosophie. Ich habe Freunde, die Kinderpsychologen sind und bei ihr studiert haben. Mit dem, was ich über ihre Theorien weiß, stimme ich auch nicht komplett überein, manchmal ist sie mir ein bisschen zu extrem – was ja typisch für die 60er Jahre war, in der es viele extreme Ideen gab. Aber sie war ohne Frage eine bedeutende Wissenschaftlerin.
Grob gesagt trat Dolto unter anderem dafür ein, mit Kindern von Anfang so umzugehen, als wären sie Erwachsene.
Delpy: Es ist gut, auch hier eine Balance zu finden. Aber an dieser Diskussion merkt man auch, wie viel wir Menschen noch in Sachen Psychologie zu lernen und zu forschen haben. Stattdessen rutschen wir in unserer Gesellschaft zunehmend in eine Phase der Regression, der schwindenden Intelligenz und Bildung.
Woran machen Sie das fest?
Delpy: Die Leute reden immer über CO2, aber Reality Shows sind nicht weniger schlecht für die Menschheit. Donald Trump und ISIS sind im Grunde das Gleiche. Ihre Erfolge basieren auf Dummheit, auf all dem, was unsere Konsumwelt befördert. Es setzt sich durch, was am schnellsten emotional erfasst werden kann. Das macht die Menschen leer und empfänglich für so simple Dinge, wie Fundamentalismus oder die Celebrity-Kultur. Diese geistige Umweltverschmutzung ist wirklich gefährlich für die Gesellschaft, sie kann uns genauso schädigen, wie CO2 die Erde beschädigt. Terrorismus ist doch nur das Symptom einer kranken Gesellschaft, das gleiche gilt für Marine Le Pen.
Warum sollte das Publikum von Reality-Shows jemanden wie Marine Le Pen wählen? Die Rechtspopulisten propagieren ja in der Regel einen eher reaktionären Kulturbegriff…
Delpy: Le Pen ist doch nur ein Symptom von Traurigkeit und Angst. Die Leute wählen Extremisten in der Regel weil sie sich vor etwas fürchten. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt und ich mache mir manchmal wirklich Sorgen um unsere Gesellschaft und was ihr Wandel für meinen Sohn bedeuten wird. Aber wenn er wirklich Regisseur oder Wissenschaftler werden sollte, wäre das sicher etwas Gutes. Mit diesen Berufen kann man einiges bewirken.
Im Film ist Ihr Sohn Lolo ein ehrgeiziger Nachwuchskünstler. Ungewöhnlich ist, dass niemand eine Wertung zu seinen Werken abgibt. Was halten Sie von seiner Kunst?
Delpy: Ich wollte da nicht zu sehr ins Detail gehen, aber ich würde sagen, dass seine Kunst auf jeden Fall sehr selbstbezogen ist. Sie dreht sich nur um ihn selbst. Eines seiner Werke nennt er „Litho-Bio-Graphie“, was überhaupt keinen Sinn macht. Es verbindet das Wort „Bio“, das auch in Frankreich vor allem Lebensmittel kennzeichnet, mit einer Kunsttechnik und der Beschreibung seines eigenen Lebens. Ich fand es sehr lustig, auf diese Weise seine manische, egozentrische Persönlichkeit zu zeigen.
Erkennen Sie sich auch selbst ein wenig in ihm wieder?
Delpy. Ich denke, alle Künstler sind ein bisschen wie Lolo, sogar große Künstlerinnen wie Sophie Calle. Sie behält zum Beispiel ein Papier von einem ihrer Ex-Freunde, rahmt es ein und macht es so zu ihrem Kunstwerk. Auf gewisse Weise ist Lolos destruktive Persönlichkeit auch ein Kunstwerk für sich. Er zelebriert Zerstörung als Kunst. Wenn man darüber nachdenkt, ist das ein interessantes Konzept.
Haben Sie schon einmal etwas um der Kunst willen zerstört?
Delpy: Vielleicht mach‘ ich das als nächstes. (lacht) Aber lieber würde ich einen Science-Fiction-Roman schreiben. Da eine Frau niemals die Gelegenheit bekommen wird, einen Science-Fiction-Film zu drehen, wäre ein Roman die einzige Möglichkeit für mich, das Schreiben und die Wissenschaft zusammenzubringen.
Wovon könnte Ihr Roman handeln?
Delpy: Ich bin mir nicht sicher, ob er gut werden würde. Ich bin ganz gut im Schreiben von Dialogen, Dinge zu beschreiben liegt mir nicht besonders. Aber ich denke da an eine Art pornographische Science-Fiction. Wenn ich all das raus ließe, was in meinem Kopf ist, das wäre sicher ein großer Spaß.