Kai Wiesinger

Man kann den Leuten jetzt nicht plötzlich Literaturverfilmungen vor die Nase knallen und sagen: Guckt’s doch!

Schauspieler Kai Wiesinger über die Serie „Die Anwälte“ und die von Marcel Reich-Ranicki angestoßene Qualitätsdebatte in Bezug auf das deutsche Fernsehen

Kai Wiesinger

© ARD Degeto/Boris Laewen

Herr Wiesinger, ich vermute, Sie haben von der Debatte um die Qualität des Fernsehens gehört, die Marcel Reich-Ranicki angestoßen hat?
Wiesinger: Absolut. Ich habe gelesen, was er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises gesagt hat. Ich habe mir daraufhin die Sendung „Aus gegebenem Anlass“ angesehen und war von Ranickis Aussagen sehr enttäuscht: er hat einfach kein Fernsehen gesehen und pauschal das Programm abgeurteilt. Das kann man nicht machen. Man muss differenzieren und wissen, wovon man redet! Er hat eine Diskussion angestoßen, aber dann war er zu schlecht informiert, um diese Debatte fortzusetzen.

Fühlen Sie sich von der Debatte bestärkt oder befremdet?
Wiesinger: Ich finde prinzipiell jede Debatte um Kunst und Kultur gut. Die Auseinandersetzung um die Fragen: Was machen wir? Wer sind wir? Was wollen wir sein? finde ich gut. Allerdings muss man das weit spannen. Man kann nicht einfach sagen: So, jetzt machen wir Qualitätsfernsehen und damit ist die Sache gegessen. Intellektuellere Programme schalten die meisten Zuschauer nicht ein, weil sie so etwas nicht sehen wollen.

Mit dem Verweis auf die Bedürfnisse des Zuschauers wird geringe Programmqualität stets gerechtfertigt. Da stellt sich zunächst die Frage: Warum wollen die Zuschauer kein anspruchsvolleres Programm?
Wiesinger: Vorweg muss man sagen: es gibt ja Literaturverfilmungen und ähnliches, nur haben die in der Regel recht wenige Zuschauer. Die meisten Menschen wollen sich durch unbeschwerte und fröhliche Dinge unterhalten lassen, sie wollen ihren Alltag ausblenden und sich amüsieren. Das hat natürlich auch mit Bildung zu tun, mit Lernen, mit einer bestimmten Wahrnehmung von sich und der Welt. Wir leben offenbar in einer Gesellschaft, die sich in erster Linie relativ oberflächlich durch Häme, Spott und Schadenfreude unterhalten fühlt. Ein Sender muss finanziert werden, also muss er ein Programm machen, das die Menschen auch einschalten. Andererseits sind unter denen, die von Herrn Reich-Ranicki als blödsinnig dargestellt wurden, ganz viele Filmemacher, die ihre Arbeit machen, um Geld zu verdienen, aber genauso ein Interesse daran haben, Kunst und Kultur voran zu bringen. Man kann den Leuten jetzt nicht plötzlich Literaturverfilmungen vor die Nase knallen und sagen: Guckt’s doch! Das muss man lernen. Um aber andere Wertmaßstäbe und Wahrnehmungen zu verankern, muss man im Kindergarten anfangen.

Vor wenigen Wochen erst hat einer Ihrer Kollegen, Sascha Hehn, harsche Kritik an der Qualität einer Fernsehproduktion geübt, in der er gerade erst selbst vor der Kamera gestanden hatte. Im Gegensatz zur Schelte von Reich-Ranicki war das schon eine Überraschung.
Wiesinger: Ich finde, es ist eine große Qualität, wenn das jemand so offen sagt. Solche Diskussionen führe ich zuhause auch permanent, mit meiner Frau, die ja auch Schauspielerin ist, und meiner Schwester, die meine Agentin ist. Wir fragen uns immerzu, welche Bücher möchte man selber verfilmt sehen und ich suche nach dem, was mich selber unterhält. Ich finde es aber immer ein bisschen gefährlich, so arrogant daher zu kommen und zu sagen: Das andere ist nichts für mich, deswegen ist das schlecht. Auch das Dschungel-Camp hat eine gewisse Berechtigung in der Gesellschaft, so wie sie jetzt ist. Es hat sich eben vieles verändert; wir können nicht mehr so tun, als gäbe es kein Internet, keine Computerwelten, in die wir interaktiv eingreifen können. Woran die Leute sich gewöhnt haben, ist im Fernsehen zum Teil kaum mehr herzustellen.

Ist letztlich doch alles eine Frage des Geschmacks?
Wiesinger: Schon, aber so einfach ist das eben auch nicht. Ich beschäftige mich viel mit Kunst und Kultur. Und auch da gibt es permanent Streitfragen. Was sagt man zum Beispiel zu Damien Hirst?  Ist es Kunst, einen Hai in Formaldehyd einzulegen, oder ist das eher ein Tierpräparat?

Wäre das Dschungel-Camp Kunst, wenn es auf Arte liefe?
Wiesinger. Man kann natürlich alles ad absurdum führen. Dann ist man irgendwann beim Readymade, wo man seine Unterschrift auf eine Klobürste setzt und sie damit zur Kunst erklärt. Das finde ich aber eher schwierig.

Was ist also das Faszinierende am Dschungel-Camp?
Wiesinger: Ich finde es schon spannend, wie sich da Leute verhalten, die wissen, dass sie beobachtet werden. Das ist eine experimentelle Situation, in der sie möglichst gut dastehen wollen. Wenn man das Drumherum wegnimmt, sind es letztlich Menschen, die man beobachtet und das ist immer spannend. Problematisch finde ich aber diesen Lästerreflex, der damit offenbar bedient wird. Dass man sich etwas anschaut, um sich über andere Menschen zu erheben, befremdet mich komplett. Ich halte das Lästern für eine grundnegative, ganz schwache Eigenschaft von Menschen

Dieser Anstand…
Wiesinger: Nein, das hat nichts mit Anstand zu tun. Es geht mir immer um Wahrnehmung. Wie nehme ich mich selber wahr in der Gesellschaft? Wer bin ich, wer ist der andere? Stattdessen geht es nur darum, über andere schlecht zu reden, wie andere sich benehmen, welche Frisur sie gerade tragen. Ich weiß gar nicht, woher manche Leute die Energie hernehmen, sich über so was Gedanken zu machen.

Kann man aber überhaupt konstruktive Kritik am Fernsehen üben, ohne über andere schlecht zu reden?
Wiesinger: Über manche Formate kann man gar nicht ernsthaft reden. Manches ist einfach totaler Kitsch und Scheiß. Dann soll man aber auch so ehrlich sein und sagen, das soll auch totaler Kitsch und Scheiß sein. Wenn man Geld braucht, kann doch jeder machen, was er will, solange er dem anderen keinen Schaden zufügt. Und wenn sich Millionen Menschen durch Kitsch und Scheiß auch noch fröhlich entspannen können, ist doch viel gewonnen. Ich möchte da nur nicht überall mitmachen.

Das Ärgerliche ist ja auch nicht die bewusste Produktion von Trash, sondern durch Anmaßung und Nachlässigkeit missglückte Produktionen, die mit mehr Mut und Sorgfalt besser geworden wären.
Wiesinger: Es gibt auch Leute, die immer nur eine bestimmte Art Film drehen, die noch nie einen Tiefgang hatte und plötzlich erkennen, was sie da für einen Mist gemacht haben. Ich versuche, so was zu vermeiden und trotzdem gerät man hin und wieder in Projekte rein, die an sich einen großen Anspruch stellen, der dann aber nicht gehalten werden kann. Der Versuch ist es dann aber wert gewesen; dafür schäme ich mich nicht. Ich habe zum Beispiel bei einem der schlechtesten deutschen Filme aller Zeiten meine Frau kennen gelernt.

Verraten Sie seinen Titel?
Wiesinger: Naja, das kann man ja nachgucken. Es war ein miserabler Film, bei dem aber tolle Leute mitgemacht haben und eben auch jene Frau, mit der ich seit fast sechzehn Jahren zusammen bin. Also war das für mich doch der dollste Film überhaupt. (lacht) Ich finde, man darf sich da auch bei allem nicht so wichtig nehmen. Da macht man dann eben mal einen Film, der nicht so gut ist, solange das Bestreben bleibt, immer wieder was Gutes machen zu wollen.

Zitiert

Ich finde prinzipiell jede Debatte um Kunst und Kultur gut.

Kai Wiesinger

Kommen wir zum konkreten Beispiel. Sie spielen in der Serie „Die Anwälte“, die einst von RTL als betont niveauvollere Unterhaltung in Auftrag gegeben worden war. Sie bekam gute Kritiken, aber nur 10% der 14-49jährigen schaltete die erste Folge ein. Die Serie wurde sofort abgesetzt und läuft nun in der ARD. Wie kommt man eigentlich auf so eine Altersgruppe, wie die 14-49jährigen?
Wiesinger: Ich weiß es nicht, ich habe mir diese Zahlen nicht ausgedacht. Gerade in einer zunehmend überalternden Gesellschaft ist es doch hirnrissig, diese so genannte „werberelevante Gruppe“ bei 49 aufhören zu lassen. Als würde ein 50jähriger nichts mehr kaufen. Aber über so was denke ich als Schauspieler ja nicht nach. Ich versuche meine Figur so darzustellen, dass sie beim Zuschauer Emotionen auslöst. Diese zum Teil absurden Einteilungen, was für wen an welchem Wochentag gesendet werden darf, haben nur mit wirtschaftlichen Senderrealitäten zu tun. 

Aber offenbar waren Sie für „Die Anwälte“ zum ersten Mal bereit, auch in einer Serie eine Hauptrolle zu übernehmen.
Wiesinger: Na, was heißt „bereit war?“ Ich habe mich gefreut. Ich hatte dazu Lust, weil ich das vorher nicht gemacht habe. Ich habe früher gedacht, nur Kino ist ein Garant für Qualität, dann habe ich aber festgestellt, dass das nicht so ist. Als ich in Argentinien drehte, habe ich viele Fernsehserien geguckt und gesehen, was für tolle Schauspieler da mitspielen. Diese klare Trennung von Serienschauspielern und Filmschauspielern gab es da gar nicht Ich habe mir gedacht, wenn die das machen, will ich das auch. Schließlich kann man in einer Serie eine Figur über einen längeren Zeitraum entwickeln und ist länger mit denselben Kollegen zusammen, statt alle sechs Wochen in einen neuen Topf geworfen zu werden. Ich habe mir davon eine andere Kontinuität versprochen, die leider nach acht Folgen abbrach.

Können Sie die Ernüchterung nachvollziehen, wenn man entdeckt, dass gelungene Serienformate, wie „Stromberg“ ihre Konzepte von US- oder britischen Produktionen, wie „The Office“ übernommen haben?
Wiesinger: Ich kenne das Vorbild von Stromberg nicht. Ungeachtet davon, dass es möglicherweise ein Original gibt, dass noch großartiger ist, schaue ich mir „Stromberg“ sehr gerne an. Die Idee und wie die Schauspieler sie umsetzen – das finde ich großartig.

Auch bei „Die Anwälte“ scheinen mir die Vorbilder offensichtlich zu sein.
Wiesinger: Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich kenne Serien allerdings auch viel zu wenig, um da vergleichen zu können. Mir ist lediglich gesagt worden, dass wir mir „The Practice“ einige Ähnlichkeit haben. Die habe ich aber nie gesehen.

„The Practice“ stammt von David E. Kelley, der unter anderem auch „Ally McBeal“ erfand. Von letzterer Serie scheinen „Die Anwälte“ viel übernommen zu haben: von der Figurenkonstellation bis zur Ausstattung, nur nicht den Humor.
Wiesinger: Ich kenne „Ally McBeal“ nicht. Was den Look angeht, da habe ich schon mal von jemandem gehört, selbst die Fenster in unserer Kanzlei sähen aus, wie in einer anderen Serie. Da kann ich nur sagen: so sehen die Fenster eben in dem Gebäude aus, in dem wir gedreht haben. Die waren schon da. Zum Thema Humor kann ich sagen, dass unsere Folgen schon sehr unterschiedlich sind, sich ein gewisser morbider Humor aber durch alle Folgen zieht. Vor allem aber denke ich, dass die Bücher vollkommen losgelöst sind von irgendwelchen US-Vorbildern. Es geht um Fälle, die sich hier in Deutschland tatsächlich zutrugen, die unsere Autoren zum Beispiel in Zeitungsmeldungen gefunden haben. Und pro Folge gibt es mindestens einen Fall, bei dem es sich wirklich lohnt, mal nachzudenken, wie man sich selbst verhalten würde. In „Die Anwälte“ geht es auch um gesellschaftliche Relevanz, nicht nur um die Frage: „Wo waren sie gestern Abend um acht Uhr?“

Dem Zuschauer dürfte letztlich auch egal sein, ob ein Serienkonzept neu erfunden, oder übernommen wurde, solange er gut unterhalten wird.
Wiesinger: Soweit ich weiß, gibt es ja sowieso nur zwölf verschieden Plots. In dem großartigem Buch „Aristoteles in Hollywood“ dröselt Ari Hiltunen auf, wie das Geschichtenerzählen eigentlich funktioniert. Das ist erstaunlich simpel und alle Guten halten sich an das Simple. Jeder der denkt, er erfindet das Erzählen noch mal neu, scheitert.

Welche Beziehung haben Sie zum Beruf des Anwalts? Anwälte werden ja gerne in Anspruch genommen, haben aber gemeinhin keinen besonders guten Ruf.
Wiesinger: Meine Schwester ist Rechtsanwältin, ich kenne auch andere Wirtschaftsanwälte und Filmanwälte. Wie überall gibt es in dem Berufsstand schwarze Schafe, aber ich kann nicht sagen, dass das generell eine verschrobene, winkeladvokatige Mischpoke wäre. Wir alle wissen, das Recht haben und Recht bekommen, nicht immer das gleiche ist. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, erhöht eben seine Chancen, einen Prozess zu gewinnen. Ich habe mich schon für meine Rollen in „14 Tage lebenslänglich“ und „Nichts als die Wahrheit“ intensiv mit dieser Materie beschäftigt, allerdings ging es für mich als Schauspieler da nur um Äußerlichkeiten, Formalien und die Atmosphäre im Gericht, nicht um das BGB.

In der ersten Folge von „Die Anwälte“ bekamen Sie es mit einer Klientin zu tun, die der Meinung ist, Verordnungen seien dazu da, von Anwälten umgangen zu werden. Das hat doch schon etwas Anarchisches?
Wiesinger. Tja, aber ob das nun immer sinnvoll ist, alle Regeln zu umgehen? Ich habe vor zwei Jahren den Dokumentarfilm „Eruv – The Wire“ über orthodoxe Juden in New Jersey gedreht. Da wird mit viel Humor vorgetragen, wie man die Regel, dass man am Sabbat außerhalb seines eigenen Grundstücks nichts tragen darf, umgehen kann, ohne sie in ihren Grundzügen außer Kraft zu setzen.

Wie funktioniert das?
Wiesinger: Das ist recht kompliziert: Man benutzt in diesem Falle öffentliche Telefonleitungen, welche man mithilfe ihrer Masten und ein paar zusätzlich angebrachte Leisten in eine virtuelle Stadtmauer umfunktioniert, so dass man auch am Sabbat kaum noch eingeschränkt ist. Das ist sehr lustig und spannend. Damit werden einige Regeln umgangen, aber ohne Regeln kann man schlecht in einer großen Gesellschaft leben.

Sind  Sie als Produzent Ihres eigenen Films an die Grenzen des formatierten Fernsehens gestoßen?
Wiesinger: Natürlich ist es schwierig, mit so einem Film einen Fuß in die Tür zu kriegen. In einer Medienlandschaft, die in erster Linie aus Tochterfirmen großer Unternehmen besteht, haben unabhängige Firmen kaum Überlebenschancen. Es sind eben nur wenige große Produzenten, die das meiste herstellen. Und das ist oft vorgegeben, von der Art und Weise, wie ein Stoff zu behandeln ist, bis zur Länge des Films, seiner Ausleuchtung und dem Sendeplatz. Deswegen fehlt teilweise schon eine gewisse Vielfalt und Andersartigkeit.

Abschließend noch mal zum Stichwort Regelüberschreitung. Gegen welche Regeln würden Sie als erstes vorgehen, wenn Sie ein Anwalt wären?
Wiesinger: Wenn die Frage darauf zielt, was ich gerne ändern würde, dann würde ich das wohl eher auf der politischen Ebene tun: Ich würde bei der Bildung anfangen, beim Schulsystem. Das ist etwas, was mich im Moment am meisten beschäftigt. Ich wäre für die Abschaffung der Hauptschulen. Ich halte die für komplett falsch. Ich finde das so traurig, dass Kinder und Jugendliche wissen, sie sitzen auf einem Abstellgleis, ihnen wird nicht die Möglichkeit gegeben, mit und von anderen Kindern zu lernen. Sie werden da in eine Dösbaddel-Abteilung abgeschoben, in der es nur noch darum geht, aufzupassen, dass die Kinder möglichst nicht gewalttätig werden.

Sarkastischer Weise könnte man sagen, die Fernsehzuschauer müssen ja irgendwoher kommen….
Wiesinger: Da wären wir wieder bei der Theorie des Unterschichtenfernsehens, die vor ein paar Jahren von Harald Schmidt in den Raum gestellt worden ist. Ich wette auch Abiturienten gucken das „Dschungel-Camp“! Aber das wäre eine sehr weitschweifige Diskussion, für die fehlt hier leider Raum und Zeit.

2 Kommentare zu “Man kann den Leuten jetzt nicht plötzlich Literaturverfilmungen vor die Nase knallen und sagen: Guckt’s doch!”

  1. Bettina |

    Inhaltlich: Schade.

    Auf der einen Seite findet er das viel Scheiß und Kitsch läuft und kritisiert die Gesellschaft, aber die richtigen Konsequenzen scheint er auch nicht daraus zu ziehen.

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  2. Bettina |

    Ein Lob

    Ein Lob an den Interviewer. Tolle Fragen

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