Karl Bartos, Ende letzten Jahres schmückten Plakate der Beatles die Innenstädte, um ihre Platte „On Air – Live at the BBC Volume 2“ zu bewerben. Interessierte Sie das oder ist das für Sie kalter Kaffee?
Karl Bartos: Kalter Kaffee ist das nicht, irgendwann höre ich da mal rein. Ich finde auch gut, dass Paul McCartney immer noch aktiv ist. Ich habe ihn mal im Konzert gehört, das dauerte über zwei Stunden. Man muss sich mal vorstellen, man würde sich in die Ecke stellen und zwei Stunden mit voller Intensität singen. MeineShow ist 90 Minuten lang. Das ist zwar nicht wirklich vergleichbar, weil ich kein Sänger bin, eher so ein Nachrichtensprecher, aber schon das ist wahnsinnig anstrengend. Das ist eine Übung, wie Sport. Man muss es regelmäßig machen.
Die Beatles sollen ja die Initialzündung für Ihr Interesse an der Musik gewesen sein.
Bartos: Ja, das war 1964. Da brachte der Freund meiner Schwester die Single „A Hard Day’s Night“ aus England mit und legte sie bei uns in Berchtesgarden auf den Plattenspieler.
Was lief sonst bei Ihnen zuhause? Als „A Hard Day’s Night“ im Sommer 1964 erschien, war in Deutschland „Liebeskummer lohnt sich nicht“ auf Platz 1 der Hitparade.
Bartos: Die Medienlandschaft von damals lässt sich mit unser heutigen ja überhaupt nicht vergleichen. Eine wichtige Funktion hatte die Firma Bertelsmann, die 1950 ihren Buchclub gegründet hatte. Deren Vertreter liefen zwischen den Mietshäusern herum, bis eines Tages auch meine Mutter diesen Vertrag unterschrieb. Von da an wurden ständig Bücher zu uns nach Hause geschickt, diese ganzen Kitsch-Dinger, „Unbezähmbare Angélique“ und solche Sachen. Ein paar Jahre später hatte Bertelsmann dann auch Schallplatten im Programm.
Das Prinzip dieser Clubs ist ja, dass ihre Mitglieder einmal im Quartal etwas bestellen müssen. Wenn sie das nicht tun, werden sie mit einem Produkt zwangsbeliefert.
Bartos: Und deshalb kamen dann Platten zu uns ins Haus, die damals ohnehin angesagt waren: Vico Torriani, Max Greger, Dixieland-Musik, Roy Black. So etwas hörte auch meine Schwester. Die Beatles schlugen daher ein, wie eine Bombe. Das war ein Kulturschock, eine neue Tür in der Wand. Und durch die sind die Jugendlichen damals gegangen.
Die GEMA ist in etwa so flexibel wie die Deutsche Bahn.
Haben Sie dann ein paar Jahre später in Düsseldorf Klassische Musik studiert, weil es noch keine Popakademie gab?
Bartos: Popmusik lag damals auf der Straße. Nachdem wir von Berchtesgarden nach Düsseldorf umgezogen waren, bin ich dort in Bilk, einem Arbeiterviertel, groß geworden. Jungs neigen ja dazu, sich mit ihren Eigenschaften einer gemeinschaftlichen Ordnung unterzuordnen. Und wie man sonst in den Fußballclub ging und einer Mittelstürmer, der andere Verteidiger wurde, entstanden plötzlich in einer einzigen Straße zehn Bands. Einer wurde der Schlagzeuger, der andere Gitarrist oder Sänger.
Und gespielt wurde…?
Bartos: Man spielte eben die Musik der Charts nach, die ließ sich damals ja sehr gut reproduzieren. Man machte ein paar Jahre lang Karriere in der eigenen Stadt, dann kam die nächste Stadt dran oder man wechselte in eine größere Band. So kam ich mit 15, 16 in die Oberliga und konnte mit der Musik schon ein bisschen Geld verdienen. Und in dem Moment fiel mir ein – das war möglicherweise der typische Gedanke eines braven Deutschen: Das hier könnte mehr werden, als nur im Jugendzentrum zu spielen.
Sie waren damals eine Weile auch Bandkollege von Marius Müller-Westernhagen und hätten eine ähnliche, kommerziell aussichtsreichere musikalische Richtung einschlagen können.
Bartos: Mein Gedanke war: Wenn ich der Musik auf den Grund gehen will, dann richtig. Ich fing an, Unterricht zu nehmen und merkte, dass mir das leicht fiel. Im Gegensatz zur Mathematik beispielsweise hatte ich bei der Musik das Gefühl: die spricht zu mir, die verstehe ich sofort. Dann ging ich einfach mal bei der Robert-Schuhmann-Hochschule in Düsseldorf vorbei.
Wo man ja aber klassisch ausgebildet wird.
Bartos: Ich hatte nie zuvor ein Sinfoniekonzert gehört, meine Eltern kommen nicht aus der Bildungsbürgerecke. Plötzlich hörte ich den Klang von Holzblasinstrumenten. Ein Junge in meinem Alter lief da mit einem Fagott herum, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Und dann sah ich durch ein Fenster eine Orchesterprobe, sah Menschen in meinem Alter Musik spielen, die war kein Rock oder Pop sondern auf unglaublich sinnvolle Art geordnet. Vorne wedelte einer rum und hielt alles zusammen. Dieses Gefühl der Logik und Ordnung hat mich begeistert und ich wusste: da muss ich hin.
1975 wurden Sie Mitglied von Kraftwerk, als die Band sich zu einer Electro-Formation wandelte. Wenn heute die Zeitschrift Rolling Stone schreibt, Kraftwerk hätte seitdem nicht mehr mit „echten Instrumenten“ gespielt, als würde es sich seitdem nicht mehr um „echte Musik“ handeln – ärgert Sie das?
Bartos: Ach, solche Kategorisierungen sind ein Relikt der Nachkriegszeit, aus den goldenen Zeiten des Musikmarktes. Als wäre man in der Modeindustrie rief man regelmäßig die neueste Kollektion aus: Gothic war das neue große Ding, das wurde dann abverkauft. Als nächstes kam Grunge. Dann wurde gehypt, was „echt“ war oder „unplugged“. Ralf Hütter hatte dieses Spiel mitgemacht, als er sagte: „Die Gitarre ist ein Instrument aus dem Mittelalter!“ Das war eine super Headline. Aber bei Licht betrachtet, ist eben auch das Klavier ein Instrument des Mittelalters und den Synthesizer gab es 1975 auch schon ein halbes Jahrhundert. Spätestens die Art, wie wir heute Musik hören, hat diese Unterscheidungen sinnlos gemacht. Auf i-tunes steht die Musik von heute neben der von vorvorgestern. Kategorien wie „echt“, „E-“ oder „U-Musik“ sind reines Marketing, das hat mit Musikkultur nichts zu tun.
Werden Kraftwerk bei der GEMA immer noch als U-, also als Unterhaltungs-Musik geführt, obwohl Kraftwerk-Konzerte mittlerweile auch in Museen stattfinden?
Bartos: Ja, die machen das immer noch so. Die GEMA ist in etwa so flexibel wie die Deutsche Bahn. Dabei beweist die elektronische Popmusik an sich schon, wie absurd die Unterscheidung von U- und E-Musik ist. Sie ist ja letztlich eine Ableitung von der Musik Karlheinz Stockhausens und Pierre Schaeffers, der sich wiederum auf Filippo Tomassi Marinetti berief, der Anfang des 20. Jahrhunderts die futuristische Bewegung begründete. Man hat sich damals gefühlt, als stünde man am Ende der europäischen Musiktradition. Und der Gedanke tauchte auf, dass organisierte Klänge auch dann Musik genannt werden müssten, wenn sie aus der Umwelt stammen, nicht von einem klassischen Instrument. Damals wurde mit Straßen- und Fabrikgeräuschen komponiert. Das war im Grunde das Gleiche, was wir heute mit unseren Laptops machen. Es ist nur viel einfacher geworden.
Einige der berühmtesten Kraftwerk-Songs wie „Radioaktivität“ handelten von Technologien oder Ingenieursleistungen. Warum haben Sie nun auf Ihrem aktuellen Album „Off the Record“ mit „Atomium“ dem gleichnamigen Bau von 1958 ein Denkmal gesetzt?
Bartos: Das Atomium wurde ja in einer Zeit errichtet, als viele die Atomenergie für eine saubere Energieform, für die Rettung der Menschheit gehalten haben. Und nun steht dieser Bau eben auch für einen historischen Irrtum, für die atomaren Katastrophen. Und ohne die Katastrophe von Fukushima wäre nun auch der Song „Atomium“ nicht entstanden.
Ich stand mal vor langer Zeit unter dem Atomium, guckte hoch und bekam kaum mehr Luft. Das Gebäude soll ja eine Zelle aus neun Atomen darstellen und ich fühlte mich plötzlich wie ein kleines Nanowesen inmitten des Kosmos. Ich kann jedem nur empfehlen, da mal hinzufahren, es wirkt ganz anders, als wenn man es nur auf einem Foto sieht.
Würden Sie auch einen Song über ein aktuelles Bauvorhaben wie den neuen Berlin Brandenburg Airport schreiben?
Bartos: Das würde wohl bedeuten, dass sein Ende offen bleibt und ich immer von vorn anfangen müsste (lacht). Das wäre mir zu mühsam. Aber im Ernst: Walther Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ von 1927 ist der interessantere Ansatz, dieser Stadt gerecht zu werden. Daran müsste ich mich orientieren und einen Zeitbezug herstellen. Rhythmus ist auf jeden Fall das erste, was mir zu Berlin einfällt.
Laut Wolfgang Müllers Buch „Subkultur Westberlin“ haben Synthesizer in den 80ern in Berlin nach „Moder“ gerochen – im Gegensatz zur westdeutschen „glasklaren Perfektion“ von Kraftwerk. Haben Sie diesen Gegensatz auch so empfunden?
Bartos: Eigentlich nicht. Mein erstes Konzert in Berlin war 1981, mit Kraftwerk im Metropol. Ich hatte damals nicht den Eindruck, dass wie es in der Mauerstadt schwer hatten. Die Atmosphäre war großartig. Gerne denke ich daran zurück. Was „glasklare Perfektion“ angeht, so halte ich es eher mit Nam June Paik: „When too perfect, lieber Gott böse“.
Ihre Deutschland-Tour führte Sie auch nach Halle (Saale). Wissen Sie etwas über die Rezeption von Kraftwerk in der DDR?
Bartos: Sehr wenig. Als wir 1981 auf Welttournee gingen, spielten wir auch einige Konzerte in Polen. In „Die Roboter“ gibt es ja die zwei russischen Zeilen: „Ja tvoi sluga,
ja tvoi Rabotnik“ – zu deutsch: Ich bin dein Sklave, ich bin dein Arbeiter. In Warschau haben wir uns vorher erkundigt, wie das ankommen würde, aber man sagte uns: kein Problem, wir könnten das machen. Beim Konzert standen dann in den ersten Reihen ein paar hundert Soldaten mit Maschinengewehren. Das war ja zur Zeit des Eisernen Vorhangs, kurz bevor in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde. Das war keine tolle Situation. Bei den anderen Konzerten in Polen haben wir dann mitbekommen, dass viele Bürger aus der DDR im Publikum waren, die gesagt haben, dass sie Kraftwerk ganz toll finden. Aber es gab keinen wirklichen Austausch.
Sie haben einmal gesagt, die Musik würde uns über unsere Sterblichkeit hinwegtrösten. Können Sie das erklären?
Karl Bartos: In der ganzen Kunst geht es doch darum, etwas herzustellen, das größer ist, als man es selbst ahnt. Mit Musik kann ich Dinge zum Ausdruck bringen, die ich selbst gar nicht verstehe. Sie beantwortet Fragen, die man gar nicht gestellt hatte. Der Trost über die eigene Sterblichkeit bleibt dabei natürlich trotzdem nur ein theoretischer. Ganz praktisch wirkt vor allem die Befriedigung am Handwerk. Das ist das, was ich damals bei der ersten Orchesterprobe in der Robert-Schuhmann-Hochschule empfunden habe: die Kommunikation zwischen Menschen, die Musik sehr unterschiedlich wahrnehmen, die sehr verschiedenen sind und trotzdem an etwas Gemeinsamen arbeiten. Das ist das, was der abgebrochene Kunststudent John Lennon meinte, als er mit den Beatles „Come Together“ sang. Im Hier und Jetzt versammeln wir uns alle um einen Klang herum — am besten in einem Konzert. Und das lässt einen für Sekunden glücklich werden.