Herr Böhm, Sie haben den Kaiser Franz Josef in den „Sissi“-Filmen gespielt und wurden zum TV-Liebling. Sie spielten den sadistischen Frauenmörder in „Peeping Tom“ und wurden zum Buhmann der Nation. Gibt es eine Figur aus Film oder Theater, die Sie Ihrer Meinung nach tatsächlich am besten charakterisiert?
Karlheiz Böhm: Also, der Kaiser Franz Josef aus den „Sissi“-Filmen ist es auf alle Fälle nicht. Nein, es gibt da eine Rolle, die lustigerweise auch meine Abschiedrolle von der Bühne war: „Der Schwierige“ von Hugo von Hofmannstahl. Zu der Rolle würde ich mich sehr bekennen.
Nun ist „Der Schwierige“ ein Mensch, der zwar unter Adligen lebt, aber diese Gesellschaft eher verabscheut. Das ist interessant, denn die Rolle, die sie berühmt gemacht hat, war die des Kaiser Franz Josef – und die „Sissi“-Filme bedienten das Bild, das ein Großteil der Fernsehzuschauer vom Adel hat.
Karlheinz Böhm: Aber ich habe in meinem Leben mindestens achtzig Personen gespielt, die anders waren als mein persönlicher Charakter. Und es war ja nicht so, dass mich die Leute auf einmal mit dem Feudalismus oder Imperialismus identifiziert haben, nur weil ich einmal einen Kaiser gespielt habe.
Ihr persönliches Verhältnis zum Adel?
Karlheinz Böhm Ich bin mit dem Adel und den ganzen Spielchen, die da dranhängen, nie zurechtgekommen. Das bedeutet nicht, dass ich unter Adligen nicht auch mal einen Menschen kennengelernt hätte, der mir gut gefallen hat, weil er anders war in seiner Art und sich alles andere als adlig benommen hat. Doch ansonsten hatte ich damit große Schwierigkeiten.
Womit konkret?
Karlheinz Böhm: Vor allem mit dem Benehmen und Verhalten der Adligen habe ich Probleme. Das ist bis in die heutige Zeit erhalten geblieben, dass diese Menschen sich gegenüber anderen nicht normal benehmen. Irgendwie sitzt ein gewisses Herrschertum im Unterbewusstsein dieser Menschen. Auch wenn sie nicht darüber reden – fühlbar ist das immer.
Sind Sie während Ihrer Schauspielerzeit viel auf Bällen gewesen?
Karlheinz Böhm: Nein, ich kann mich nur erinnern, dass ich einziges Mal auf dem Wiener Opernball gewesen bin.
Konnten Sie gut tanzen?
Karlheinz Böhm: Beruflich ja. Privat bin ich aber nur sehr selten tanzen gewesen. Natürlich bin ich in der Zeit, wo man so ein bisschen rumflirtet, ab und zu mit einer frischen Liebe in einer Tanzbar gewesen. Aber sonst war Tanzen nicht mein Fall.
Würden Sie gerne mal wieder auf den Wiener Opernball gehen?
Karlheinz Böhm: Oh Gott! Niemals. Nicht einmal im Traum. Natürlich gibt es den Ausnahmefall, dass der Initiator zu mir kommt und mir 500.000 Euro gibt, für die Menschen in Äthiopien. Ich war einmal mit meiner Frau in Heidelberg auf einem Ball, wo man mir 100.000 Mark gegeben hat. Deswegen bin ich hingegangen. Nur wegen der Spende.
Drei Jahre nachdem der dritte „Sissi“-Film abgedreht war, spielten Sie in Michael Powells „Peeping Tom“ einen Frauenmörder. Der Film löste seinerzeit einen Skandal aus und verschwand schnell aus den Kinos. Wann haben Sie den Film das letzte Mal gesehen?
Karlheinz Böhm: Vor zwei Jahren vielleicht.
Mit Ihrer Frau zusammen?
Karlheinz Böhm: Ja. Sie war am Anfang ganz entsetzt. Inzwischen hat sie den Film mehrmals gesehen und ihn als filmisches Kunstwerk akzeptiert. Trotzdem: Als Frauenmörder bin ich meiner Frau nach wie vor nicht sympathisch.
Wie sind Sie damals zu dieser Rolle gekommen? Die war ja das totale Gegenteil von dem, was Sie vorher gedreht hatten, ein Mörder, der seine weiblichen Opfer auch noch filmte, während er sie tötete.
Karlheinz Böhm: Ich war in London und habe einen Film gedreht, der hieß „Too Hot To Handle“. Eher zufällig habe ich im Studio einen Mann getroffen, von dem ich wusste, dass er einer der ganz großen Regisseure Englands war: Michael Powell. In unserem sehr kurzen Gespräch hat er mir einen Film angeboten, der „Peeping Tom“ heißen sollte. Das ist ja der englische Ausdruck für – wie nennt man noch die Leute, die mit dem Fernglas am Fenster sitzen und anderen beim Ausziehen zugucken?
Spanner.
Karlheinz Böhm: Genau. Ich las also wenig später das Drehbuch und war von der ersten Sekunde an fasziniert von diesem Stoff. Aber nicht nur das, ich war mir auch sicher, dass dieser Film meine Weltkarriere einläuten würde. Ich war der hundertprozentigen Überzeugung, ich würde durch diesen Film der nächste weltberühmte Hollywoodstar. Der Film hatte dann seine Premiere im Londoner Westend, in einem berühmten Filmtheater. Geladene Gäste, Mitglieder des Königshauses, hohes Publikum also, weil der Michael Powell zu der Zeit schon ein sehr bekannter Filmemacher war. Ganz am Schluss stand ich dann mit ihm im schönen Smoking draußen vor dem Kinosaal. Wir waren sehr erstaunt, dass es am Ende des Films keinen Applaus gegeben hatte. Dann kamen die Leute aus der Vorführung – und haben uns nicht einmal angeguckt. Kein einziger kam, um uns vielleicht nur mal die Hand zu schütteln. Wir waren völlig fassungslos. Am nächsten Morgen stand dann im Guardian eine Kritik von maximal vier Zeilen, die etwa so lautete: Das beste wäre, „Peeping Tom“ ins Klo zu werfen und runterzuspülen – aber selbst dann würde der Film noch stinken.
Ihnen war zu keiner Zeit bewusst, dass dieser Film solch heftige Reaktionen provozieren könnte?
Karlheinz Böhm: Nein, niemals. Ich war, wie auch Michael Powell, von diesem genialischen Drehbuch immer überzeugt gewesen. Wir waren tatsächlich völlig fassungslos. Für mich war das beruflich der totale Zusammenbruch. Ich wurde ja auch in Deutschland von der Kritik zerrissen. Überhaupt war das die größte Enttäuschung, die mir in meiner gesamten Filmlaufbahn passiert ist.
Was, würden Sie im Nachhinein sagen, war die Ursache dieser enorm negativen Reaktion?
Karlheinz Böhm: Dieser Film war seiner Zeit einfach weit voraus. Was „Peeping Tom“ vom Menschen gezeigt hat, das stand im großen Gegensatz zu dem, was es bisher auf der Leinwand zu sehen gab. Die Leute waren das nicht gewohnt. Eine weitere Ursache der Kritik war wohl auch, dass ich zuvor eine gewisse Sympathiefigur für das Publikum gewesen war. Von mir haben die wenigsten erwartet, dass ich auf einmal einen bösen Mörder spielen würde.
Und wie standen Sie persönlich zu der Rolle des Frauenmörders Mark Lewis?
Karlheinz Böhm: Ja, eigentlich konnte ich mich mit diesem Menschen, den ich da gespielt habe, unheimlich gut identifizieren.
Sie konnten sich mit ihm identifizieren?
Karlheinz Böhm: In der Tat. Die Menschen wissen ja meistens gar nicht, was den Beruf eines Schauspielers ausmacht. Dabei lernt der Schauspieler ein sehr schwieriges Handwerk. Er lernt, sich so auszudrücken, dass er beim Publikum etwas erreicht. Er muss sich so ausdrücken, dass das Publikum wirklich glaubt, er wäre die Figur, die er eigentlich nur spielt. Das ist die Identifikation, und das ist der Beruf des Schauspielers. Man muss als Schauspieler fühlen, wie sich ein Mensch fühlen könnte, und diese Gefühle muss man darstellen.
Wie haben Sie sich gefühlt mit dieser Rolle?
Karlheinz Böhm: Ich habe diesen Menschen sehr geliebt – und gleichzeitig unendlich tief bedauert in dem Leiden, was er durchgemacht hat. Mich hat diese Figur auch ungeheuer berührt, weil für mich die Geschichte des Mark, der als Kind von seinem Vater ständig mit dem Tod konfrontiert wurde, eine Verbindung zum Nationalsozialismus hatte. Nämlich, dass eine junge Generation von den Vorfahren so beeinflusst wurde, dass sie einem Menschen wie dem Hitler gefolgt und selbst eine Generation von Mördern geworden ist. Die Geschichte stammte ja von einem jüdischen Autoren, und für mich ergaben sich da erschreckende Parallelen zu der Vergangenheit.
Doch die Kritiker haben diese Parallelen kaum erkannt.
Karlheinz Böhm: Nein, aber ich habe mich damit eben sehr intensiv beschäftigt und habe auch mit Michael Powell viel darüber gesprochen. Das sind Parallelen und Identifikationen, die wir gezogen haben, die aber das Publikum nicht unbedingt erkennen musste.
Interessant ist auch die Metapher, dass der Peeping Tom seine Opfer mit einem Dolch tötet, der in sein Kamerastativ eingebaut ist. Er tötet mit Hilfe der Kamera.
Karlheinz Böhm: Da kann ich Ihnen von einer interessanten Parallele erzählen: Es gibt in Ostafrika ja den Volksstamm der Massai. Dieser Stamm hat sich noch bis vor ungefähr zwei Generationen nie fotografieren lassen, weil sich die Stammesangehörigen gesagt haben, dass die Kamera tötet. Sie nimmt einen Moment aus dem Leben eines Menschen weg, der nie wieder zurückkommen kann – das war für sie Mord.
„Peeping Tom“ erfuhr erst zwanzig Jahre nach der Premiere das Lob der Kritik.
Karlheinz Böhm: Die New York Times hat ihn ja sogar als einen der besten zehn Filme des letzten Jahrhunderts bezeichnet. Das hat mir dann gezeigt und bewiesen, was ich damals noch nicht begriffen hatte, dass dieser Film seiner Zeit weit, weit voraus war. Und witzigerweise ist mir so etwas später noch einmal passiert. Ich habe 1974 meinen ersten Film mit Rainer Werner Fassbinder gedreht, „Martha“. Der wurde damals kaum zur Kenntnis genommen und in Zeitungen nur nebenbei erwähnt. Zwanzig Jahre später aber haben ihn viele als den größten Film Fassbinders bezeichnet.
Sie haben mit Fassbinder ja sogar mal in einer WG gewohnt.
Karlheinz Böhm: Ja, ich habe in Berlin für kurze Zeit – ich glaube etwa zwei Wochen – in einer Wohngemeinschaft mit ihm gewohnt. Allerdings nicht nur mit ihm allein, sondern mit einer ganzen Gruppe von Film- und Theaterleuten.
Wie kam es dazu?
Karlheinz Böhm: Na ja, wie kam es dazu? Ich habe ja mit denen zusammengearbeitet, zwei Jahre lang habe ich mit Fassbinder und seinen Leuten ununterbrochen gearbeitet.
Und mit den Leuten, mit denen Sie gearbeitet haben, haben Sie auch zusammengewohnt?
Karlheinz Böhm: Ja, das war so ein Resultat der Achtundsechziger. Es gab doch Hunderttausende von Wohngemeinschaften. Da haben drei, vier Ehepaare zusammengewohnt, ganz gleich, ob die nun homosexuell oder heterosexuell waren. Ganze Häuser gab es, wo draußen dranstand: „Wohngemeinschaft“.
Sie haben es dann aber doch nur zwei Wochen in der Wohngemeinschaft ausgehalten.
Karlheinz Böhm: Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass ich da einfach nicht mitkam. Das war nicht meine Art zu leben. Ich bin ein Einzelmensch. Ich lebe zwar gerne mit meiner Frau zusammen und mit meinen Kindern. Aber in so großen Gemeinschaften leben – das kann ich nicht.
Trotzdem: Sie tauchen auf einer der sogenannten Fassbinder-Listen auf, auf denen Fassbinder in den letzten Monaten vor seinem Tod Personen aus den verschiedensten Bereichen notiert hat, die ihm wichtig waren. Teilweise hat er den Personen auch Noten von Eins bis Sechs gegeben.
Karlheinz Böhm: In der Tat, aber die Note für mich steht nicht drin. Allerdings denke ich, dass es eine gute hätte gewesen sein müssen. Immerhin hat er mir in vier seiner Filme eine Hauptrolle gegeben.
Erinnern Sie sich noch an die erste Begegnung zwischen Ihnen und Fassbinder?
Karlheinz Böhm: Kurz bevor ich Fassbinder das erste Mal begegnet bin, hatte ich seine Inszenierung von Carlo Goldonis „Kaffeehaus“ am Münchner Universitätstheater gesehen und auch seinen Film „Katzelmacher“. Ich war von beidem absolut begeistert. Und durch einen großen Zufall kam es, dass ich kurze Zeit später in den Studios am Geiselgasteig in München einen Film synchronisiert habe und in der Mittagspause Fassbinder mit seiner Gruppe in der Kantine sitzen sah. Ich bin förmlich auf ihn zugerannt, er hat gegessen. Ich habe ihn angesprochen: „Mein Name ist Karlheinz Böhm, ich bin Schauspieler, ich habe Ihren Film gesehen und das Theaterstück – ich bin so begeistert!“ Ich habe geredet, geredet, geredet – und als ich nach einer Weile still war, hat er den Kopf gehoben, mich mit seinen kleinen Schweinsäuglein einen Moment lang angeguckt und kurz gebrummt: „Rrr“. Ende. Da habe ich eine solche Wut bekommen, bin rausgelaufen und wollte mit diesem blöden Typen nichts mehr zu tun haben.
Aber?
Karlheinz Böhm: Am nächsten Tag hat mich meine Agentin angerufen und gefragt, ob ich denn nicht den Fassbinder kennen würde. Ich sagte nur, dass ich diesen Namen nie wieder hören wollte, aber die Agentin sagte zu mir: „Der Herr Fassbinder hat dir ein ganz phantastisches Drehbuch geschickt, lies das doch mal.“ Der Film hieß „Martha“, und wir haben etwa zwei Wochen später angefangen zu drehen.
Und über die Begegnung in der Kantine …
Karlheinz Böhm: … haben wir nie geredet.
Was war das Besondere an Fassbinder?
Karlheinz Böhm: Für mich war es faszinierend, wie dieser Mensch in der Lage war, seinen Schauspielern in Worten auszudrücken, wie man etwas darstellt. Er war in der Lage, auf seine merkwürdige Art, mit der er kommuniziert hat, die Schauspieler zu darstellerischen Leistungen zu bringen, wie ich es bei anderen Regisseuren nur selten erlebt habe. Fassbinder war auch ein sehr offener Mensch, ich habe ihn ja auch viel privat erlebt, mit seinen Freunden, mit seinen Freundinnen. Er hat nichts verborgen, auch nicht seine klare Bisexualität.
Obwohl Sie als Schauspieler berühmt waren, verbindet man Ihren Namen heute vor allem mit dem Wohltäter und Entwicklungshelfer Karlheinz Böhm. In Ihrem Wohnort bei Salzburg wurde eine Straße nach Ihnen benannt und in Hessen sogar eine Schule. Können Sie sich an Ihre Schulzeit noch erinnern?
Karlheinz Böhm: Zu einem gewissen Teil ja, allerdings kaum an Details. Ich weiß noch, auf welche Schulen ich gegangen bin, und ich habe gewisse Erinnerungen an das Internat in der Schweiz, wo ich während des Krieges war.
Wie war für Sie die Erfahrung Internat?
Karlheinz Böhm: Sehr deprimierend, denn diese Erfahrung lief bei mir parallel zur Pubertät. Ich kam mit zwölf Jahren ins Internat, und mit 17 bin ich wieder herausgekommen. Dazu kam, dass ich als Einzelkind im Internat war, das war sehr belastend. Wenn man Geschwister dabei hat, ist das ja noch etwas anderes, aber einem Einzelkind würde ich das, auch heute nicht, nie antun. Damals war außerdem noch Kriegszeit, und Kommunikation wie heute war gar nicht möglich. Ich konnte mit meinen Eltern nicht telefonieren, ich war völlig auf mich angewiesen. Meine Eltern hatte ich 1943 das letzte Mal in Wien gesehen. Und im Februar 1945 habe ich den Schock meines Lebens erlitten, als in einer Basler Zeitung stand, dass mein Vater bei einem Luftangriff auf Dresden am 13. Februar ums Leben gekommen sei. In Wirklichkeit hat es sich um einen Namensvetter gehalten, der hieß Dr. Karl Hans Böhm und war in Dresden Direktor eines Schauspielhauses. Aber ich habe natürlich angenommen, dass meine Eltern nicht mehr am Leben wären.
Wann haben Sie die Wahrheit erfahren?
Karlheinz Böhm: Ich habe es erst nach Kriegsende, Mitte Mai 1945, erfahren, durch eine Sängerin, die mit einem amerikanischen Offizier befreundet war. Dieser kam damals in die Schweiz und hat mir einen Brief von meinen Eltern überbracht.
Glauben Sie, die damalige Zeit hat Sie geprägt in Bezug auf Selbstständigkeit?
Karlheinz Böhm: Schon möglich. Ich habe noch nie darüber nachgedacht, muss ich gestehen. Ich weiß nur, dass es für mich unheimlich schwer war, Kommunikation zu anderen Menschen, auch zu anderen Kindern, aufzubauen. Ich habe nur zwei Freunde im Internat gehabt, einen Schweizer und einen Bulgaren. Ansonsten war ich ein Einzelmensch, der sich nur sehr schwer Gruppen anschließen konnte. Das ist mir erst viel später in meinem Leben gelungen.
Was haben Sie in der Schule über Afrika gelernt?
Karlheinz Böhm: Ich habe von der Entwicklung Afrikas, der Natur und der Tierwelt schon als Kind sehr viel gelesen und gelernt. Afrika hat mich immer fasziniert. Allerdings habe ich wenig gewusst über den Kolonialismus, über den man ja überhaupt an den Schulen sehr wenig lernt, egal ob heute oder vor sechzig Jahren. Man wusste wenig vom Kolonialismus, obwohl er zu meiner Jugendzeit ja noch in voller Blüte war und erst 1948 mit der Gründung der UNO beendet wurde. Aber richtig bewusst wahrgenommen habe ich Afrika erst im Jahr 1976. Ich spielte an den Münchner Kammerspielen Theater, als ich eine sehr schwere Bronchitis bekam und der Theaterarzt mir einen Aufenthalt in Kenia verschrieb. Ein Kellner im dortigen Kurhotel hat mir auf meinen Wunsch hin das Dorf gezeigt, in dem er wohnte.
Sie haben von diesem Tag an, insbesondere durch Ihre Aktivitäten in Äthiopien, Afrika so kennen gelernt, wie es heute höchstens ein Bruchteil der Europäer von sich behaupten kann. Wie beurteilen Sie dieses weitverbreitete Unwissen über den zweitgrößten Kontinent der Erde?
Karlheinz Böhm: Ich finde es sehr deprimierend, dass man in den Zeitungen fast nur noch über Afrika liest, wenn wieder ein Bürgerkrieg oder eine Dürrekatastrophe ausbricht. Dass Afrika ein Kontinent ist, dessen Entwicklung 480 Jahre lang durch die reichen, europäischen Kolonialmächte verhindert wurde – davon redet niemand. Es gab zwar diesen Film „Amistad“ von Steven Spielberg, der gezeigt hat, wie die Schwarzafrikaner von den Europäern nach Amerika gebracht wurden, um die Drecksarbeit zum Aufbau der Vereinigten Staaten von Amerika zu erledigen, dass sie schon auf dem Transport zu Hunderttausenden gestorben sind und in Amerika immer nur Menschen zweiter Klasse waren. Aber trotzdem sind diese Dinge zu wenig bekannt, auch, dass der ganze Kontinent sich noch in einem Entwicklungsstadium befindet, weil sich die Menschen aufgrund der Unterdrückung durch die Europäer nicht entwickeln konnten. Uns ist heute viel zu wenig bewusst, was wir mit diesem Kontinent getrieben haben und dass die Menschen in Afrika genauso intelligent oder dumm, faul und fleißig, sauber und schmutzig sind wie wir.
Wie begegnet man Ihnen heute in Äthiopien – und wie Ihrer äthiopischen Frau in Deutschland beziehungsweise Österreich?
Karlheinz Böhm: Ich habe ja nie die kolonialistische Idee verfolgt, sondern ich bin nach Äthiopien gegangen, um herauszufinden, was diesen Menschen fehlt. Ich bin mit offenen Armen und einem Lächeln auf sie zugegangen, habe keine Bedingungen an die dortige Regierung gestellt und habe natürlich im Gegenzug darum gebeten, dass man auch mir keine Bedingungen stellt. Es hat sich mir gegenüber nie jemand irgendwie aggressiv verhalten. Meine Frau, die jetzt seit 16 Jahren mit mir zusammenlebt, ist noch nie für einen Europäer eine Last gewesen. Sie ist ungeachtet ihrer Hautfarbe vom ersten Tag an in Deutschland und Österreich aufgenommen worden, da gab es eigentlich nie irgendwelche rassistischen Probleme. Nur ein einziges Mal, kann ich mich erinnern, als wir in Haar bei München in einer Drogerie einkaufen waren, kam ein Mann auf uns zu und sagte zu ihr: „Du schwarze Drecksau“. Der Mann war schon etwas älter, und wir sind uns hundertprozentig sicher, das war ein ehemaliger Nazi. Der hat so ausgesehen, und der hat auch so gesprochen.
Werden Sie in Äthiopien oft nach Ihrer Heimat gefragt?
Karlheinz Böhm: So gut wie nie. Die Menschen sind so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass sie zwar manchmal Dinge fragen, die mich persönlich betreffen – aber wo zum Beispiel das Geld herkommt, und wie wir in Europa leben, dazu habe ich bisher noch keine Frage erlebt. Man darf aber natürlich nicht vergessen, dass achtzig Prozent der äthiopischen Bevölkerung in den abgeschiedensten Regionen des Landes leben und von dem, was außerhalb ihrer kleinen Welt passiert, kaum eine Ahnung haben. Sie sind auch nicht daran interessiert. Sie interessiert nur, ob sie morgen noch etwas zu essen haben werden.
Nun liest man heute sehr viel über die Dinge, die Sie bereits für Äthiopien getan haben. Einmal anders herum gefragt: Was würden Sie sagen, verdanken Sie heute Äthiopien?
Karlheinz Böhm: Ich muss ehrlich gestehen, ich habe in meinem Leben, was ja jetzt schon 75 Jahre alt ist, drei Mal versucht, auf eine fast verzweifelte Form, die Ehe meiner Eltern zu kopieren. Ich habe meine Eltern immer sehr bewundert für ihre Ehe, sie sind über fünfzig Jahre lang verheiratet gewesen. Das wollte ich kopieren, aber an diesem Versuch bin ich drei Mal gescheitert, und natürlich auch die drei Frauen, die daran beteiligt waren. Ich bedaure das heute noch zutiefst.
Durch meine Arbeit in Äthiopien, in einem ganz anderen Kulturkreis und mit einer ganz anderen Generation – denn meine Frau Almaz ist 36 Jahre jünger als ich -, habe ich dann aber diesen Wunsch erfüllt bekommen. Das hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht mehr zu hoffen gewagt. Jetzt leben wir seit 16 Jahren zusammen, und in dieser Zeit hatte ich auch nicht nur eine Sekunde den geringsten Zweifel daran, dass das die Erfüllung meines Wunschtraums ist. Meine Frau und meine Kinder sind die größte Belohnung meines Lebens – für meinen Versuch, den Menschen in Äthiopien in irgendeiner Form zu helfen.
Haben Sie in Äthiopien geheiratet?
Karlheinz Böhm: Nein, wir haben in Graz geheiratet, lustigerweise auf Wunsch meiner Frau. Sie hatte ein Jahr zuvor in Graz ein Treffen meiner Familie organisiert, sprich: der Familie meines Vaters, von der Familie meiner Mutter gab es schon keine Überlebenden mehr. Wir saßen damals alle zusammen in so einer billigen Kneipe am Schlossberg in Graz und haben Almaz dafür gedankt, dass sie uns alle wieder zusammengebracht hatte. Denn teilweise hatten wir uns untereinander gar nicht mehr gekannt. Wir waren völlig begeistert, wir waren wieder eine Familie, wobei meine Frau anfangs einfach nur neugierig gewesen war.
In Äthiopien steht momentan eine neue, schwere Dürrekatastrophe bevor. In diesem Zusammenhang haben Sie jüngst das mangelnde Interesse der Medien und der Menschen in Europa kritisiert.
Karlheinz Böhm: Die Medien berichten natürlich sehr wohl über diese großen Katastrophen, aber nur in kleinen Artikeln auf Seite drei oder vier. Man wartet mittlerweile erst darauf, dass die Bilder kommen mit den verhungerten Müttern und Kindern – anstatt, dass man mit dem Wissen und angesichts der Möglichkeiten über die man verfügt, bereits jetzt etwas tut. Der äthiopische Regierungschef hat ja bereits gewarnt, dass 15 Millionen der sechzig Millionen Äthiopier vom Hunger bedroht sind, weil nicht genügend Getreidereserven vorhanden sind. Da fragt man sich natürlich: Warum reagiert die deutsche Regierung nicht?Warum reagieren die Kirchen nicht? Warum reagieren überhaupt die Menschen nicht?
Sie haben das Jahr 1968 erlebt. War das für Sie eine Zeit, wo die Leute reagiert haben, wo sich etwas bewegt hat im reichen Deutschland?
Karlheinz Böhm: Ich war zu der Zeit zufällig in Frankfurt, da gab es diese Kneipe, die hieß „Tonis Künstlerkneipe“ – die Besitzerin war eine wunderbare, unvorstellbar dicke Frau aus Würzburg, einer der wundervollsten Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. In dieser Kneipe traf sich die gesamte alternative Szene von Frankfurt, auch die RAF-Leute. Vom ersten Tag an wurde das meine Kneipe, weil ich mit diesen Menschen konfrontiert wurde, in einer Art und Weise, wie mir das zuvor noch nicht passiert war. Nur, egal ob die Meinhof oder der Baader – das waren ja alles Kinder aus ganz reichen Familien! Ich habe mich damals gefragt: Warum geht eine Generation reicher Leute Kinder auf die Straße? Das habe ich nicht kapiert. Mir wurde erst ganz langsam und nach vielen Gesprächen mit den Leuten klar, dass die Deutschen, aber genauso auch die Österreicher, sich moralisch und ethisch mit den Verbrechen des Herrn Hitler und seiner Genossen in keinster Weise auseinandergesetzt hatten. Es gab zwar fünf Jahre nach Kriegsende verschiedene Filme, in denen man versucht hatte, sich mit den ganzen Problemen irgendwo auch künstlerisch auseinanderzusetzen. Das ist mit dem Amtsantritt von Kanzler Erhardt dann aber mehr und mehr verschwunden, weil man sagte: „Wir müssen Geld machen.“ Es entstand eine Gesellschaft, die im Geld beinahe erstickt ist, jeder hatte zwei Autos, eine Villa, es ging um Geld und noch mehr Geld. Ich erkannte also damals in Frankfurt, dass diese jungen Leute eigentlich gegen ihre Eltern und Großeltern protestiert haben, dagegen, dass die nichts getan haben. Sie haben sich gegen das Vergessen aufgelehnt. Das hat mich nicht nur nachdenklich gemacht, dass hat mich auch dazu bewegt, 1969 zum ersten Mal in einen Wahlkampf zu gehen, für den Bruno Kreisky von der Sozialistischen Partei Österreichs. Und, wenn ich ganz ehrlich bin, dann liegt der Grundstein für mein Engagement in Äthiopien nicht bei jener Sendung von „Wetten dass…?“ 1981, sondern in Frankfurt 1968.
Haben sich die Politiker seitdem verändert?
Karlheinz Böhm: Ich muss sagen, dass wir in der Nachkriegszeit noch mehr Persönlichkeiten unter den Politikern und Staatsoberhäuptern hatten als heute. Das ist heute, wenn man den Begriff der Demokratie genau nimmt, vielleicht sogar etwas Positives. Denn wenn eine Persönlichkeit dominant ist, ist das ja eigentlich nicht im Sinne der echten Demokratie, in der das ganze Volk etwas gemeinsam tut. Doch ich komme immer mehr dahin, dass ich sage, dass es in einer Demokratie, in der es keine wirklichen Köpfe, keine Leitfiguren für die Menschen gibt, sehr schwierig wird.
Reden Sie viel mit Politikern – in Deutschland und in Äthiopien?
Karlheinz Böhm: Mit Frau Wiezcorek-Zeul habe ich natürlich schon mehrmals gesprochen, und in Äthiopien treffe ich hin und wieder den dortigen Bundeskanzler – Äthiopien hat ja von Deutschland die Verfassung übernommen, und sie versuchen die auch umzusetzen. Und wenn ich Probleme habe, bei denen ich glaube, die könnten auf höherer Ebene gelöst werden, dann gehe ich zu den zuständigen Ministern.
Würden Sie gerne einmal dem amerikanischen Präsidenten etwas über Ihr Engagement und die Lage in Äthiopien erzählen?
Karlheinz Böhm: Also, wenn ich den Herrn Bush treffen würde, dann wäre ich mir gar nicht sicher, ob ich die Vereinigten Staaten danach noch als freier Mann verlassen dürfte. Und außerdem würde meine Organisation keinen einzigen Dollar von den Vereinigten Staaten bekommen, da bin ich mir sicher. Ich bin eben sehr ehrlich und direkt und sage den Leuten ins Gesicht, was ich denke – da würde mir ein Gespräch mit Herrn Bush sicher nicht weiterhelfen.
Jetzt sitzen wir hier in Berlin, an der Friedrichstraße – gefällt Ihnen das sogenannte „neue Berlin“?
Karlheinz Böhm: Ich habe viele Jahre meines Lebens, bedingt durch meinen Beruf als Schauspieler, in großen Städten gelebt, ob jetzt Los Angeles, Paris oder London. Ich bin dadurch mehr und mehr das geworden, was ich seit meiner frühesten Jugend war – kein Großstadtmensch. Wenn ich nicht in Äthiopien bin, lebe ich mit meiner Frau zusammen in einer Kleinststadt bei Salzburg, die hat etwa 7.000 Einwohner. Ich bin jemand, der gerne auf dem Land lebt, der Städte prinzipiell nicht mag.
Nun, ich spielte mit meiner Frage auch ein wenig auf die Ausbreitung der Luxusboutiquen und Schickeria-Läden an …
Karlheinz Böhm: … womit Sie jetzt direkt ausgedrückt haben, was ich Ihnen soeben indirekt gesagt habe. Gerade die Großstädte sind Beispiele für diesen unheimlichen Überfluss, an dem wir fast ersticken. Und das lehne ich grundsätzlich ab, das brauchen wir nicht. Darum bin ich gerne ein Landmensch. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich durch die Halbnomaden im Erer-Tal, wo ich meine Arbeit in Äthiopien begonnen habe, meine wirkliche Heimat gefunden habe, wo ich mich zu Hause fühle.
Mögen Sie denn eigentlich die afrikanische Küche?
Karlheinz Böhm: Beschränkt. Sie ist mir oft zu scharf.
Also macht man für Sie Ausnahmen?
Karlheinz Böhm: Ja, ich esse sozusagen immer die Ausnahmen. Und wenn ich eingeladen werde, zum Beispiel von einem Bauern, und sehe, dass der gewisse Dinge auftischt, die ich nicht essen soll – dann sage ich ihm eben, ich hätte Magenschmerzen.
Sie glauben nicht, dass Sie sich eines Tages an die äthiopische Küche gewöhnen könnten?
Karlheinz Böhm: Nein, dass glaube ich nicht. Sie ist einfach zu scharf.
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Stichwort: Menschen für Menschen – Karlheinz Böhm