Kelly Reichardt

Wir wollen nicht die Wahl treffen, wessen Leben weniger Wert ist.

Im Öko-Thriller „Night Moves“ planen Umweltaktivisten einen Anschlag auf einen Staudamm – als Zeichen gegen den hohen Strombedarf der Konsumgesellschaft. Ausgedacht hat sich dies US-Regisseurin Kelly Reichardt. Ralf Krämer sprach mit ihr über iPhone-Fabriken, Fundamentalismus und Inspiration durch Dostojewski.

Kelly Reichardt

© Godlis

Frau Reichardt, in „Night Moves“ beklagt sich ein Öko-Aktivist, seine Mitbürger würden über Leichen gehen, nur um ihr iPhone „24 Stunden am Tag in Betrieb“ zu haben. Sie sind keine Freundin mobiler Kommunikationstechnologie?
Kelly Reichardt: Ich? Ich bin da sehr heuchlerisch, ich benutze diesen ganzen Mist auch. (lacht) Aber was Sie da zitieren sage ja nicht ich selbst, sondern ein Charakter in meinem Film. Dieser Josh ist es, der das alles nicht mag. Trotzdem war das Thema bei unseren Dreharbeiten auch im Team sehr präsent. Zu der Zeit gab es die Proteste gegen die Zustände in einer chinesischen iPhone-Fabrik. Mein Produzent zeigte nur vielsagend auf mein iPhone und ich dachte: Oh mein Gott, ich bin der schlechteste Mensch aller Zeiten. (lacht)

Kritisiert werden in Ihrem Film allerdings keine Arbeitsbedingungen sondern der hohe Strombedarf der Konsumgesellschaft. Um dagegen ein Zeichen zu setzen, soll ein Anschlag auf einen Staudamm verübt werden. Wie kamen Sie auf diese Geschichte?
Reichardt: Freunde meines Co-Autors Jon Raymond haben eine Bio-Bauernhof im Süden von Oregon. Er hat mich mal zu ihnen mitgenommen. Das war wirklich ein besonderer Ort, in einer wunderschönen Landschaft. Mich hat auch die politische Kultur, die dort gepflegt wurde sehr beeindruckt. Von da an entwickelte sich die Idee zu einem Film, in dem sich jemand so einer Gemeinschaft anschließt, der sich schließlich als radikaler Fundamentalist entpuppt.

Das heißt, Sie wollten vor allem einen Film über Fundamentalismus machen?
Reichardt: Ja, er hätte durchaus auch im Milieu der Tea-Party-Bewegung spielen können. Aber so ein Hof schien mir interessanter. Jon Raymond nennt den Film ein „moralisches Gedankenexperiment“: Wenn man davon ausgeht, dass die Menschheit dabei ist, ihren eigenen Planeten zu zerstören, warum sind wir dann nicht alle da draußen und jagen etwas in die Luft? Wenn die Mächte, die man bekämpft, an der Auslöschung der Menschheit arbeiten, muss man dann nicht sagen, dass man den Verlust einiger Menschenleben in Kauf nehmen muss, wenn es hilft die Dinge wieder mehr ins Gleichgewicht zu bringen?

Was ist Ihre Antwort?
Reichardt: Nun, die meisten von uns würden solche Anschläge nicht verüben wollen, weil sie nicht dafür verantwortlich sein wollen, wenn etwas schief geht, wenn ein Mensch bei so einer Aktion zu Schaden kommt. Wir wollen nicht die Wahl treffen, wessen Leben weniger Wert ist, als das der anderen. Um uns für unseren Hauptprotagonisten inspirieren zu lassen, haben wir also nochmal „Schuld und Sühne“ gelesen, weil Dostojewskis Romanheld ja genau diese Entscheidung bewusst trifft. Unseren „Roskalnikov“ haben wir dann in eine Art klassischen Thriller transformiert, einen von jener Sorte, in dem sich ein paar Typen im Keller treffen, um einen Banküberfall planen. Einer von ihnen bringt dann seinen Freund mit, den sonst keiner kennt. Ein anderer fragt: Wer ist das? Können wir ihm trauen? Und so weiter. Dieses durchaus unterhaltsame Filmgenre haben wir dann wiederum auf den Umweltaktivismus übertragen.

Zitiert

Ich bin der schlechteste Mensch aller Zeiten.

Kelly Reichardt


Es ist bemerkenswert, dass Sie für Ihre Figur eines US-amerikanischen Radikalen ein Vorbild aus der russischen Literatur heranziehen, während derzeit in der realen Politik kaum mehr für möglich gehaltene Gräben zwischen Russland und dem sogenannten Westen aufreißen.

Reichardt: Ich bin keine Politikwissenschaftlerin. Der Ukraine-Konflikt liegt also außerhalb meiner Kompetenzen. Aber ich finde diese Entwicklung auch interessant. Sie gibt mir das Gefühl, ein bisschen zu begreifen: So in der Art muss es damals zur Zeit des Kalten Krieges gewesen sein. Ich kann mich allerdings zur Zeit nur schlecht auf dem Laufenden halten. Ich bin viel in der Welt unterwegs und sobald ich irgendwo Nachrichten höre, wo schon wieder von einem Flugzeugabsturz die Rede ist, sage ich sofort: „Mein Gott, schaltet das bitte aus!“

Etwas ähnliches hat hierzulande mancher gedacht, als Ihr Präsident Barack Obama im März den Europäern riet, mehr auf die umstrittene Fracking-Technologie zu setzen, um sich unabhängiger vom Energielieferanten Russland zu machen.
Reichardt: Das ist einfach unglaublich. Das Fracking ist wirklich eine abgefuckte Sache. Die Schäden, die dieses Bohrverfahren anrichten kann, sind irreversibel. Und was das Thema Umweltschutz angeht, halte ich Obama schlicht für einen Lügner. Zum Beispiel wurde 2009 in der Stadt Dimock in Pennsylvania das Trinkwasser durch Fracking-Bohrungen verunreinigt. Es gab dann eine Langzeitstudie der Umweltbehörde EPA, deren Resultate kurz vor den Wahlen in der USA 2012 das Problem bestätigte. Obama versprach, sich darum zu kümmern und auch die Studie fortzuführen. Dann wurde er wiedergewählt und hat sich danach an keines seiner Versprechen gehalten. Aber Sie in Deutschland haben Fracking noch nicht, oder?

Jedenfalls noch nicht in der Art und Weise, wie es in den USA betrieben wird.
Reichardt: Wie auch immer, mit unserem Fracking müssen Sie trotzdem leben. Schließlich soll es ja auch den Klimawandel beschleunigen. Interessant ist, dass Fracking wirklich jeden betrifft, das Grundwasser macht keinen Unterschied zwischen arm und reich. Deshalb bekommt dieses Thema auch so viel Aufmerksamkeit, im Gegensatz zum Beispiel zu dem Steinkohle-Tagebau, der dafür sorgt, das ganze Berge in den Appalachen verschwinden. Aber dort leben eben nur Leute, die sehr arm sind. Sie selbst können sich nicht dagegen wehren und haben auch keine Lobby.

Es wundert nicht, dass Sie gerade die Zerstörung von Landschaftsbildern anprangern, denn Ihre Filme nehmen sich viel Zeit für ihre Schauplätze, die oft auch in der freien Natur, vor allem im Bundesstaat Oregon liegen. Wie kam es zu dieser Vorliebe?
Reichardt: Zunächst hat auch das damit zu tun, dass Jon Raymond dort lebt und immer wieder darüber schreibt. Auch einige andere meiner Mitarbeiter leben dort. Oregon ist sehr vielseitig, es gibt dort einen Regenwald, eine Wüste und die Küste. Es ist ein starker Kontrast zu Florida, wo ich aufgewachsen bin und natürlich zu New York, wo ich in den letzten 25 Jahren gelebt habe. In der Zeit habe ich viel Zeit damit verbracht, zwischen New York und Oregon zu pendeln. Wann immer ich von meine geregelten Leben in New York Richtung Westen aufbracht, war das wie eine Fahrt ins Ungewisse, in ein weite und extreme Landschaft. Diese Erfahrung findet sich ganz bestimmt in meinen Filmen wieder. Immer wenn ich auf dem halben Weg nach Oregon durch Dakota fahre, finde ich mich bereits in einer positiven Gedankenwelt wieder – zumindest, wenn ich dann keinen Internetzugang habe.

Da wären wir wieder beim Thema iPhone. Fällt es Ihnen schwer, es mal auszuschalten oder zu Hause zu lassen?
Reichardt: Wenn ich in der U-Bahn unterwegs bin, lese ich tatsächlich eher ein Buch. Aber ansonsten muss ich Sie nochmal enttäuschen (lacht). Ich habe das iPhone eigentlich immer dabei. Am Ersten Tag der Dreharbeiten zu „Night Moves“ waren wir auf dem Stausee in einem Ponton-Boot unterwegs. Wir hatten unseren Boots-Führer zwar gebeten, er möge seine Frau zu Hause lassen, aber er hatte nicht nur sie dabei, sondern auch noch ihren Hund. Sie stand irgendwann auf, machte ein paar Schritte, das Boot schwankte und innerhalb einer Sekunde standen alle Storyboards, meine Notizen von drei Jahren Arbeit und mein iPhone unter Wasser. Sie sagte nur: „Ich sag’s doch immer: Wenn du nicht willst, das etwas nass wird, bring es nicht an Bord.“ Das wurde dann unser geflügeltes Wort für den Rest der Dreharbeiten. (lacht)

Ihre Filme werden stets zu einem geringen Budget produziert. Haben Sie da überhaupt Zeit, um mit den Schauspielern zu proben?
Reichardt: Nicht viel. Es läuft eher so: Hallo, schön dich kennenzulernen. Weißt du wie man ein Boot fährt? Gut! Das erste Gespräch mit Peter (Sarsgaard. Er spielt einen der Aktivisten, Anm.) fand im Boot statt und ich musste ihn anschreien, um den Motor zu übertönen: „Nein, du kannst die Sonnenbrille nicht aufbehalten!“

Macht es dann einen Unterschied, ob Sie einen vielbeschäftigten Star wie Michelle Williams als Hauptdarstellerin haben oder jemanden wie den Sänger Will Oldham, der nur gelegentlich in Filmen auftaucht?
Reichardt: Will hatte in „Old Joy“ ja einen Hund an seiner Seite und sagte damals: Es ist egal, was du dir vorher für Gedanken gemacht hast, wenn es ernst wird, hast du nur damit zu tun, darauf zu reagieren, was der Hund macht. Dein Plan wird dem Fenster geweht und du bist nur noch im Moment. Genauso war es mit Michelle. In „Meek’s Cutoff“ hatte sie es mit echten, nicht ganz ungefährlichen Bullen zu tun, das zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Dakota Fanning muss nun in „Night Moves“ ihr Boot so steuern, dass es nicht frontal auf den Staudamm prallt. Und so gibt es bei meiner Art Filme zu machen eben viele Faktoren, die nicht vorhersehbar sind. Diese Umstände spiegeln sich dann auch in in den Filmen wieder. Wenn es plötzlich hagelt, kann ich mich auch als Regisseurin nicht hinstellen und rumheulen: Als ich mir das hier ausgedacht habe, schien aber die Sonne!

Aber wie arbeiten Sie mit den Schauspielern an ihren Rollen?
Reichardt: So einen Film kann man zum einen nur mit Schauspielern machen, die auch die notwendige physische Stärke mitbringen. Und wenn ich erstmal die richtigen Schauspieler gefunden habe, gehe ich ihnen aus dem Weg und lasse sie machen, oder ich hole sie dort ab, wo sie gerade sind und nehme sie bei der Hand. Dakota will zum Beispiel über gar nichts reden. Sie will nur ihr Ding machen. Du kannst ihr sagen, was du dir vorstellst und bevor du deinen Satz beendet hast, unterbricht sie dich: Alles klar. Hab’s kapiert.“ Das ist ihre Art, sie will nicht analysieren was sie tut. Ich weiß nicht, wie sie es dann hinkriegt. Jesse hört hingegen nie auf zu fragen. Er zweifelt jede Bewegung an: „Warum macht meine Hand jetzt genau das?“ Er hält einen ständig auf Trab. Dieser Prozess, die Schauspieler in ihrer Eigenart zu erkennen und sie so zu nehmen wie sie sind, dauert ein paar Tage und dann finden sie sich auch normalerweise schnell in ihrer Rolle zurecht.

Jesse Eisenberg ist ja nicht zuletzt durch seine Rolle als facebook-Gründer Mark Zuckerberg in „Social Network“ auf den Typus Computer-Nerd abonniert. Wie haben Sie aus ihm einen Öko-Aktivisten gemacht?
Reichardt: Das war nicht so schwer, er hatte selbst den Wunsch, zur Vorbereitung eine Zeit lang auf dem Bio-Hof zu leben und zu arbeiten. Nach ein paar Wochen rief Jesse dann an und sagte: „Okay, ich hab’s verstanden. Kommt her und holt mich. Ich will endlich mal wieder ein Bad nehmen.“ (lacht) Bei Michelle hat es immer etwas länger gedauert. Sie hat mir mal mitten bei den Dreharbeiten gesagt: „Ich denke, jetzt habe ich meine Rolle verstanden.“ Ich sagte nur: „Wie schön. Zum Glück haben wir noch fünf Drehtage vor uns.“ (lacht)

Wie gehen Sie damit um, dass sich Ihre Arbeit ein Stück weit Ihrer Kontrolle entzieht?.
Reichardt: Ich muss akzeptieren, dass es eine Suche ist, die stattfindet, während wir drehen. Man lebt mit dieser Idee eines Films im Kopf, die hat aber nichts mit dem Leben zu tun. Man kann sich ja auch selbst verändern, deine Stimmung kann von Tag zu Tag wechseln. Plötzlich realisiert man: deine Idee wird gerade konkret, hat aber ein eigenes Leben und zeigt dir: Ich werde anders sein, als du es erwartet hast. Das ist sowohl aufregend, als auch traurig. Man muss es dann einfach so hinnehmen. Ich meine… Ich schaue mir am Ende eines Drehtages nie Dailys an, das Material, das im Laufe des Tages gedreht wurde. Im Gegensatz zu Todd Haynes, zum Beispiel. Er hat mir gerade erst ein paar Dailys von den Dreharbeiten zu seinem neuen Film gemailt mit den bangen Worten: „Schau’s dir mal an. Funktioniert das überhaupt?“

Sind Sie auf Jesse Eisenberg durch „Social Network“ aufmerksam geworden?
Reichardt: Ich habe den Film gesehen, aber damals noch nicht daran gedacht, mit ihm mal zu arbeiten. Das geschah, als ich mal wieder auf meinem Weg durchs Land war, in einem Hotel pausierte und dort in meinem Zimmer den Fernseher einschaltetet. Es lief „Verflucht“ von Wes Craven. Da verwandelt sich Jesse in einen Werwolf. Ich dachte: Wow, dieser Junge schafft es irgendwie meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich verspürte das Bedürfnis, mich um ihn zu kümmern. Das war seltsam. Normalerweise würde ich so einen Film gleich wegzappen. Aber wegen Jesse blieb ich dran. Naja, zumindest bis zur Hälfte. (Lacht)

Hatten Sie ihn dann beim Schreiben von „Night Moves“ schon für die Hauptrolle im Kopf?
Reichardt: Nein, ich bekam dann irgendwann von meinen Casting-Assistenten sein Foto geschickt. Es lag da die ganze Zeit rum und ich dachte immer mal wieder: Jesse wäre wirklich eine schräge Wahl. Aber so ist es manchmal. Wenn man sich nicht wirklich vorstellen kann, ob etwas funktioniert, wird es gerade dadurch interessant. Irgendwann ist man soweit zu sagen: Lass uns das einfach machen. Wenn man von Anfang an seine perfekte Besetzung hat, birgt es dagegen die Gefahr, dass man von ihr schon gelangweilt ist, bevor man überhaupt angefangen hat zu drehen. Als würde der Film schon existieren, nur weil man ihn im Kopf schon komplett zu Ende gedacht hat.

Night MovesWie hat man eigentlich in der Szene der Öko-Aktivisten auf Ihr Projekt reagiert?
Reichardt: Als ich zu recherchieren begann, waren viele sehr misstrauisch und haben uns auf Distanz gehalten. Trotzdem war es nicht schwer zu recherchieren, weil die Szene gerade in Oregon und Seattle sehr groß und aktiv ist. Wer dort hinzieht, lernt mit Sicherheit schon innerhalb kurzer Zeit ganz automatisch jemanden aus der Szene kennen. Zudem kamen in der Zeit unserer Recherche praktischer Weise einige neue Dokumentationen zum Thema heraus, „If a Tree Falls“ über die Earth Liberation Front zum Beispiel. Einer meiner Produzenten, Larry Fessenden, hat sich bereits während der Arbeit an unserem Film „Across the River“ geradezu besessen mit Büchern beschäftigt, die von diesem neuen Ding namens „Klimawandel“ berichteten. Das war Mitte der Neunziger. All die Autoren, die damals schon darüber geschrieben haben, sagen heute nur noch: „Es ist zu spät. Wenn ihr eure Flaschen recyceln wollt, macht nur. Aber wir sind am Arsch.“

Wie reagiert die Szene jetzt auf Ihren fertigen Film?
Reichardt: Ich war mir sicher, dass der Film angegriffen werden wird. In Paris gab es dann auch eine Vorführung, nach der der Verleiher eine Podiumsdiskussion organisiert hatte. Auch ein Vertreter von Greenpeace war eingeladen worden. Viele Aktivisten saßen im Publikum und waren dann vor allem damit beschäftigt, diesen Mann von Greenpeace nieder zu machen, nach dem Motto: Was bringt es, auf irgendwelchen Atom-Kraftwerken eure Fahnen wehen zu lassen? Das reicht nicht! Ich dachte nur: Es ist ja okay, wenn man radikalere Schritte einfordert, aber was ist so schlimm an diesen Aktionen von Greenpeace? Brauchen wir nicht jeden? Haben wir nicht ein gemeinsames Ziel? Jeder sollte dazu das beitragen, was er für richtig hält. Meinen Film hat nur eine Zuschauerin erwähnt. Sie meldete sich und sagte: Ich mochte bisher alle ihre Filme, aber… Und dann hat sie sich darüber aufgeregt, was in „Night Moves“ nach dem Anschlag passiert.

Ohne zu viel zu verraten: Die zweite Hälfte von „Night Moves“ wird zum Psychodrama, weil jeder Aktivist mit einer nicht vorausgesehenen Folge des Anschlags anders umgeht.
Reichardt: Sie sind zwar nur dritt, aber ihnen passiert, was fast immer in solchen Gruppen passiert: Sie reiben sich in internen Konflikten auf. Das zu zeigen wird mir dann vorgeworfen: „Warum hacken sie auf den Linken rum?“ Ich kann dazu nur sagen: Es gibt keine „Linke“ in den USA. Der Film folgt auch keiner Agenda. Ich hatte lediglich diese Fantasie, dass alle „Twilight“-Fans ihn sich ansehen würden, weil Dakota Fanning mitspielt. (lacht)

Haben Sie sich die „Twilight“-Filme angesehen?
Reichardt: Einen, weil ich mir Dakota ansehen wollte. Ich hatte allerdings keine Ahnung, dass diese Filme so eine konservative christliche Moral propagieren. Und dann habe ich mir auch noch den falschen Teil angeschaut – Dakota kam darin nicht vor. Aber danach war mir klar: Noch einen Teil davon schaffe ich nicht. (Lacht)

Gehen Sie überhaupt noch ins Kino?
Reichardt: So gut wie nie. Wenn das Vorprogramm vorbei ist und ich all die ganz Werbung und die Filmtrailer gesehen habe, bin ich schon so voll mit all den Bildern und Geräuschen, mit denen man da geradezu bombardiert wird. Da gibt es keine Zeit und keinen Raum mehr, um selbst zu denken. Ähnlich ist es ja mit unserem beschleunigten Lebensrhythmus. Mit dem Tempo unserer Zeit geht natürlich jeder unterschiedlich um; nicht zuletzt kommt es ja auch darauf an, welchen Beruf man ausübt. Für mich selbst, kann ich nur sagen, dass ich es gerne langsamer habe, auch wenn das vielleicht etwas „alt“ klingt. (lacht)

Sie sagten eben, es gäbe keine „Linke“ in den USA. Wie würden Sie denn die Bio-Bauern-Kommune, die Sie in „Night Moves“ zeigen, politisch verorten?
Reichardt: Diese Farmer verstehen sich als super links. Sie vertrauen der Regierung nicht, sie essen ihr eigenes Essen. Und sie unterrichten ihre Kinder selbst. Aber eine Farm weiter denkt man eher rechts. Und auch dort vertrauen Sie der Regierung nicht, essen ihr eigenes Essen und sie unterrichten ihre Kinder selbst. Und obwohl sie eigentlich politische Gegensätze vertreten, verbünden sich diese beiden Farmen dann auch gegen ihre gemeinsamen Feinde, die großen Landwirtschafts-Konzerne.

Sie meinen, statt der Ideologie steht dort Pragmatismus im Vordergrund?
Reichardt: Sich gesund zu ernähren ist doch keine Frage der politischen Position. Das ist ein Ding für die Mittelschicht. Bio zu essen, Bio-Kochbücher, das ist alles sehr teuer. Natürlich steckt dahinter auch eine Haltung. Aber sich die Frage zu stellen, wo das eigene Essen herkommt, ist nicht unbedingt links. Ich frage mich auch: Warum sollte ich der Lebensmittelindustrie trauen? Und dann fällt mir ein: Meine Beeren werden aus Chile eingeflogen, meine Avocado kommt aus Mexiko. Was das allein für Treibstoff kostet… Aber wie weit muss man wohl reisen, um Lebensmittel zu bekommen, die frei von Chemikalien sind? Es ist eben kompliziert.

Eine letzte Frage, Sie unterrichten Film am Bard-College, im Bundesstaat New York. Wollen Ihre Studenten eher Filme wie „Twilight“ drehen, oder Kelly-Reichardt-Filme?
Reichardt: Ich weiß nicht genau, wie diese jungen Leute ticken. Dieses College ist ein Blase und ich stecke mitten drin. Das Filmprogramm dort ist super avantgardistisch. Sie zeigen Werke von dem Landschaftsfilmemacher Peter Hutton. Peggy Ahwesh, die feministische Avantgarde-Regisseurin unterrichtet auch dort. Ich stehe als „die Narrative“ sozusagen für die kommerzielle Schiene. Peggy beschwert sich immer, die Studenten wären ihr nicht mehr schräg genug. Sie sind schräg, aber anders. Die Jugend in den USA gilt ja heute nicht ohne Grund als eine Jugend auf Medikamenten.

Wollen Sie damit sagen, Ihre Studenten sind alle auf Ritalin?
Reichardt: (Lacht) Nein. Das möchte ich damit natürlich nicht gesagt haben. Aber wo wir schonmal bei Generalisierungen sind: Meinen Studenten merkt man an, dass sie finanziell gut gepolstert sind. Das sieht man schon an ihren Autos auf dem Parkplatz. Und sie mögen ihre Eltern wirklich sehr. Sie sind mit ihnen befreundet. Das Leben hat es gut mit ihnen gemeint. Ich sage zu ihnen manchmal: Nehmt etwas von eurer Wut und packt sie in euere Arbeit. Sie schauen mich dann an und sagen: „Was meinen Sie damit, Wut?“ Gibt es nichts, was euch manchmal verrückt macht? „Wie meinen Sie das?“ (lacht) Stellen sie sich mal vor, Sie sind zwanzig und erfahren dann plötzlich am College: Hallo, wir haben nur eine Erde und sind dabei sie zu zerstören. Dabei möchte ich eigentlich gar nicht die sein, die meinen Studenten die schlechten Nachrichten überbringt.

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