Kirsten Bruhn

Wir sehen die kleinen Dinge nicht mehr.

Die Schwimmerin Kirsten Bruhn gewann mehrfach paraolympisches Gold. Im Interview spricht sie über die Rolle des Glücks im Leben und im Sport, wie sie nach einem Motorradunfall ins Leben zurückfand, wo sie Deutschland beim Thema Barrierefreiheit sieht und das anstehende Ende ihrer Sportlerkarriere.

Kirsten Bruhn

© Parapictures Film

Frau Bruhn, im November 2013 sind Sie Patin der ARD-Themenwoche „Zum Glück“. Was bedeutet Glück für Sie?
Kirsten Bruhn: Glück ist für mich eine Art Belohnung. Wenn ich mir eine To-do-Liste mache und am Abend alles abhaken kann, dann bin ich glücklich und das ist dann eine Belohnung. Wenn nach einem schlechten Tag mit viel Schmerzen ein Tag kommt, an dem ich mich wohl fühle und ich sagen kann ‚Das Leben bringt Spaß‘, dann ist das auch Glück für mich. Glück ist für mich ebenfalls, wenn ich weiß, dass es den Menschen, die ich lieb habe, gut geht.

Uns geht es in Deutschland im Verhältnis zu anderen Ländern ziemlich gut. Wissen wir Glück eigentlich noch zu schätzen?
Bruhn: Nein. Insbesondere sehen wir die kleinen Dinge nicht mehr. Glück ist für uns ein Sechser im Lotto, der Ferrari vor der Tür, eine Villa und das Pferd im Garten noch obendrauf. Glück ist immer nur das Ultimative. Sich diese Grenzen zu stecken ist natürlich ein Risiko, denn die Wahrscheinlichkeit, Glück dann überhaupt noch zu verspüren, ist sehr gering. Das sollte man sich einfacher gestalten, indem man sich kleinere Hürden vornimmt und dann eben öfter belohnt wird.

Was sind kleine Dinge, die für Sie Glück bedeuten?
Bruhn: Für mich ist es ein ganz großes Glück, wenn ich meinen heißgeliebten Latte Macchiatto genießen kann. Einfach mal 20 Minuten meine Ruhe dabei habe, in einem Café sitze und Menschen betrachten kann. Oder auch mit meinem Freund da sitze und es einfach genießen kann.

© WDR/Herby Sachs

© WDR/Herby Sachs

Ist es auch eine Frage des Elternhauses, ob man sein Glück zu schätzen weiß?
Bruhn: Ganz bestimmt. Meine Eltern haben immer darauf geachtet, dass wir Kinder das Leben selbst in die Hand nehmen. Es ist wichtig, Kleinigkeiten wertzuschätzen und einfach mal zufrieden sein zu können. Außerdem es sehen zu können, was man alles schon hat und erreicht hat. Und nicht immer nur daran denkt, was man noch nicht hat.

Ihr Co-Pate bei der ARD-Themenwoche Eckart von Hirschhausen plädiert für ein Schulfach „Glück“
Bruhn: Das finde ich genial. Es wäre gut, wenn man sich wieder die Bedeutung des Begriffs „Glück“ klarmacht und sich bewusst macht, wo man überhaupt steht und was man in diesem Leben eigentlich erreichen möchte. Ganz wichtig ist aber auch, sich zu vergegenwärtigen, was man alles schon hat.

Sind Sie religiös? Glauben Sie an einen Gott?
Bruhn: Ich glaube ganz ganz fest an mich und was in mir steckt. Ich bin nicht religiös und bete nicht. Ich glaube auch nicht an eine Instanz, die sich Gott nennt. Ich würde aber trotzdem nicht sagen, dass ich ungläubig bin. Ich glaube an mich und meine Ziele.

Welche Rolle spielt Glück im sportlichen Wettkampf?
Glück ist im sportlichen Wettkampf genauso so eine wichtige Komponente wie Talent, Fleiß, Disziplin und Ehrgeiz. Das kleine Quäntchen Glück ist manchmal im Wettkampf das Missgeschick oder Unglück der Kontrahenten oder Konkurrenz. Im Sport sind Höhen und Tiefen allgegenwärtig und das eine Hoch des einen, ist das Tief des anderen.

Wie fühlt man sich als mehrfache Gewinnern von paralympischem Gold?
Kirsten Bruhn: Ich denke mal, nicht anders als man sich sonst fühlt, wenn man Dinge erreicht hat, die man sich als Ziel gesetzt hat. Das macht einfach stolz. Es ist auch ein bisschen Genugtuung, weil man die einen oder anderen Hürden und Hindernisse überwinden musste und dies geschafft hat.

Meinen Sie, dass es einen Unterschied zwischen Sportlern mit angeborener und nicht angeborener Behinderung gibt?
Bruhn: Da gibt es mit Sicherheit einen Unterschied. Die ganze Art und Weise wie man sich damit arrangiert und damit aufwächst. Aber im Sport selbst gibt es keine Unterschiede.

Ist ein Mensch, der durch einen Unfall behindert wurde, nicht motivierter, weil er denkt „Früher konnte mein Körper viel mehr“?
Bruhn: Die Frage kann ich nicht wirklich beantworten, weil ich es nur aus einer Perspektive kenne. Sportlichen Eifer spüren wir alle. Wenn jemand über seine Grenzen hinaus geht, dann ist es wirklich irrelevant, ob er von Geburt an behindert ist oder nicht. Ich glaube auch nicht, dass es mentale Unterschiede gibt.

Zitiert

Glück ist im sportlichen Wettkampf genauso so eine wichtige Komponente wie Talent, Fleiß, Disziplin und Ehrgeiz.

Kirsten Bruhn

2014 hören Sie auf mit dem Profisport. Trainieren Sie gegen Ende Ihrer Karriere anders?
Bruhn: Im Moment gibt es noch keine Veränderungen im Trainingsplan, da nächstes Jahr noch die Europameisterschaften anstehen. Nach den Meisterschaften im August werde ich abtrainieren, das muss man ja. Das dauert anderthalb bis zwei Jahre. Dabei fährt man den Umfang und die Intensität des Trainings runter. Das macht man, um den Körper daran zu gewöhnen, dass er künftig nicht mehr mit der Intensität und auf dem hohen Niveau arbeiten muss wie er es jetzt muss. Man muss Muskeln genauso abtrainieren wie man sie antrainiert hat. Das wird oftmals unterschätzt und das kann gesundheitliche Probleme mit sich ziehen.

Welche Pläne haben Sie für die Zeit nach dem Sport?
Bruhn: Ich bin berufstätig, am Unfallkrankenhaus Berlin angestellt. Ich bin dort Sportbotschafterin. Das geht einher mit dem Film „Gold- Du kannst mehr als Du denkst“ den wir in diesem Jahr auf der Berlinale vorgestellt haben und in ganz Deutschland zeigen. Darüber hinaus wollen wir ihn ins Schulsystem einbringen. Er wäre toll wenn er ab der 4. Klasse gezeigt werden würde, um den Schülern Integration und Inklusion näher zu bringen.

Sie waren eine der Protagonisten in „Gold“. Wie war es für Sie, die Kamera so nah an sich heranzulassen?
Bruhn: Ganz sicher nicht immer leicht. Es gab eine Situation, in der ich in das Krankenzimmer zurückkehren musste, in dem ich während der 7-monatigen Rehabilitation 1991 gelegenhabe. Dabei sollte ich emotional nachempfinden, wie es damals war. Das waren schreckliche Momente und ganz sicher auch Momente, die man nicht wiederholen möchte. Manchmal wiederum habe ich die Kamera aber überhaupt nicht bemerkt.

Auch der jüngst gestartete Film „Mein Weg zu Olympia“ dokumentiert die Paralympics, zeigt Sportler, denen zum Beispiel ein Bein und ein Arm fehlt. Für den Kinozuschauer muss das manchmal ein ziemlich seltsamer Anblick von etwas Unbekanntem sein.
Bruhn: Wenn man etwas nicht kennt, dann geht man da erst mal mit Distanz und Respekt ran. Aber man kann in diesem Film auch sehen, was ein Mensch erreichen kann. Das ist ein ganz anderer Film als „Gold“. Vergleichen würde ich sie ungern. Mir hat am Anfang die Einstellung des Regisseurs Niko von Glasow nicht gefallen, die da war „Ich hasse Sport und die Paralympics.“ Damit wollte er provozieren.

In den letzten Jahren kamen immer mehr Filme mit und über behinderte Menschen in die Kinos wie „Me too“, „Ziemlich beste Freunde“, und „The Sessions“. Glauben Sie, dass diese Filme in der Gesellschaft einen anderen Umgang zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen bewirken sollen und können?
Bruhn: Ich denke, dass die Filme etwas bewirken können und auch sollen. Til Schweigers „Wo ist Fred?“ war ein genialer Film, wie ich finde. Er war zwar auf eine gewisse Art böse und gemein, da Fred nur so tat als hätte er eine Behinderung und wäre auf den Rollstuhl angewiesen. Der Film provozierte, was meiner Meinung nach auch sehr gut war. Man sollte einen Menschen nicht verurteilen, weil er sabbert oder fettige Haare hat. Das sind oft intelligentere Menschen, als man das anfangs meinen mag.

Es mag vielleicht sein, dass der Kinozuschauer von einem behinderten Protagonisten beeindruckt ist. Ist er dann am nächsten Tag der Chef und ein behinderter Bewerber sitzt ihm gegenüber, dann überlegt er es sich drei mal, ob er ihn einstellt…
Bruhn: Ja, aber er überlegt schon mal. Das ist was anderes, als wenn er nur optisch und visuell den Menschen beurteilt und ihn von vorne herein deshalb ablehnt. Das ist eine Verbesserung. Wir brauchen mit Sicherheit noch eine Generation, bis man sagen kann „Integration und Inklusion wird gelebt“. Das braucht seine Zeit und da brauchen wir eben Geduld und immer wieder Vorbilder und weiterhin so gute Filme.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie zehn Jahre gebraucht haben, um nach Ihrem Motorradunfall ins Leben zurückzufinden. Wie war diese Zeit?
Bruhn: Die Zeit war schlimm. Wenn ich daran zurückdenke, dann ist das alles sehr peripher, dunkel und nebelig. Ohne viel Freude oder Glück. Ich hatte immer das Gefühl, ich bin zwar auf dieser Welt, aber ich gehöre hier nicht hin.
Als ich dann 2002 bei den Internationalen Deutschen Meisterschaften des DBS (Deutschen Behinderten Sportverband) erstmals gestartet bin und den Sport intensiv wieder betrieben habe, habe ich mich verbessert und dadurch entwickelt. Da hatte ich das Gefühl, dass ich Parallelen zum ersten Leben als Fußgängerin aufbauen kann. Das hat einfach Spaß gebracht. Dann bekam ich irgendwann das Gefühl, dass ich nicht anders bin, als ich vorher war.

Ist der Schwimmsport ein verbindendes Element zu beiden Phasen Ihres Lebens- vor und nach dem Unfall?
Bruhn: Ja, mit Sicherheit. Deswegen spreche ich davon, dass man sich Parallelen aufbauen muss. Um so wieder ein Stück Normalität ins Leben zu bringen. Um nicht das Gefühl zu haben, dass es ein zweites, ein anderes Leben ist. Sicherlich ist dies auch oft der Fall, aber man muss versuchen, so viel Normalität wie möglich wieder ins Leben reinzubringen. Wenn man diese Möglichkeit hat, ist das eine große Hilfe.

Was würden Sie Betroffenen raten, wie kann man die Zeit der „Rückkehr“ verkürzen?
Bruhn: Wir sind alle Individuen und da muss jeder selbst durch und damit fertig werden. Aber ich glaube, es ist immer gut, wenn man sich vergegenwärtigt, was man alles machen kann und nicht immer nur daran denkt, was man alles nicht mehr kann und in einer Art Erinnerungswelt versinkt. Man sollte versuchen, diese negativen Gedanken zu löschen und sich darauf konzentrieren, was jetzt halt noch geht. Auch auf das, was man noch verbessern kann. Dann kann man Weiteres aufbauen und verbessern. Dies gibt einem mehr positive Energie, als das man immer nur daran denkt, was nicht mehr geht.

Sie kamen als Athletin schon viel um die Welt. Wie weit ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern in der Barrierefreiheit?
Bruhn: Deutschland ist bei weitem nicht führend, eher im hinteren Bereich. Wenn ich an Skandinavien denke, England, Canada, die USA und Niederlande, dann haben wir hier noch viel zu lernen und zu verändern.
Ich frage mich dann immer, warum wir noch nicht so weit mit der Barrierefreiheit sind. Vielleicht haben wir einfach nicht die Weitsichtigkeit und Toleranz wie andere Nationen?

Kirsten Bruhn, 42, ist dreifache Gewinnerin von paraolympischem Gold im Schwimmen und mehrfache deutsche, europäische und Weltmeisterin. Seit sie 1991 durch einen Motorradunfall auf der griechischen Insel Kos eine inkomplette Querschnittlähmung mehr

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