Kirsten Harms

Wir sind nicht die Politik

Kirsten Harms über die "Idomeneo"-Debatte, ihre Arbeit als Intendantin, Ausbildung und Handwerk der Opernregie, Publikumsgeschmack, zeitgenössisches Musiktheater, wichtige Buh-Rufe und die Oper "Germania"

Kirsten Harms

© Bernd Uhlig

Frau Harms, was haben Sie aus der Debatte um die „Idomeneo“-Absetzung gelernt?
Kirsten Harms: Ich musste eine Entscheidung fällen, die, wie auch immer ich mich entschieden hätte, nur umstritten sein konnte. Ich habe der Verantwortung für mein Haus den Vorzug gegeben. Hinterher ist man natürlich immer klüger. Hinterher kann man natürlich sagen: Ich hätte die Einschätzung des Innensenators und der Sicherheitsbehörden genauer hinterfragen müssen. Aber das ist ein diffiziles Thema. Schließlich hat man es mit der Warnung von Fachleuten zu tun. Wie hätte man über mich geurteilt, wäre etwas passiert? Den großen gesellschaftlichen Schulterschluß, den es nun auf einmal gibt, der sich emphatisch für die Freiheit der Kunst einsetzt, den begrüße ich natürlich. Es ist ein gesellschaftliches Bewusstsein entstanden, das offensiv formuliert: Keinen Schritt zurück, koste es was es wolle. Wenn „Idomeneo“ wieder gespielt wird, liegt die Verantwortung nun bei den politisch Verantwortlichen. Und da gehört sie auch hin.

Inwiefern wird die Diskussion Ihre zukünftige Arbeit beeinflussen – sowohl als Regisseurin als auch als Intendantin?
Harms: Ich finde es eigentlich wohltuend zu erleben, wie sehr Oper in das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein gerückt worden ist – und das weltweit.

Konnten Sie das große Ausmaß der „Idomeneo“-Diskussion nachvollziehen?
Harms: Es hat alles zusammengepasst, wie in einem Drehbuch. Wir waren sozusagen die „Vorgruppe“ für die Islamkonferenz. Die Journalisten, die Kamerateams waren alle schon in der Stadt und plötzlich gab es einen aktuellen Aufhänger, zu dem sich jeder, aber wirklich jeder äußern konnte. Mit den Schlagworten „Terrorangst“ und „Freiheit der Kunst“ konnte man tagelang Titelseiten füllen, bis hin zu der These, der Westen sei mit allen seinen Grundrechten nun endgültig verloren.

Glauben Sie, die künstlerische Freiheit ist in Deutschland durch religiösen Fanatismus ernsthaft gefährdet?
Harms: Ich finde, dass der Begriff der künstlerischen Freiheit in letzter Zeit sehr inflationär und pauschal in den Mund genommen wird. Es wird im Extremfall immer Tabuzonen geben, bei der Anhänger der einen oder anderen Glaubensrichtung sich gestört fühlen werden, das hat gar nichts mit Fanatismus zu tun. Trotzdem ist die künstlerische Freiheit überhaupt nicht gefährdet. Nach dem großen Aufruhr um „Idomeneo“ vielleicht weniger als zuvor.

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Berlin im Juni 2006. Frau Harms, vor zwei Jahren sind Sie von der Kieler Oper an die Deutsche Oper Berlin gekommen – welche Vorzüge hat für Sie das große Haus gegenüber der relativ kleinen Bühne in Kiel?
Harms: Ich weiß nicht, ob man das vergleichen sollte. Wenn Sie mich fragen, was den Reiz ausmacht, in Berlin eine Oper zu leiten – darauf könnte ich antworten.

Also gut.
Harms: Ich finde, dass ich hier in einer unglaublich spannenden Zeit an den Start gehe, in der Berlin sich neu findet, eine neue Identität entwickelt. Das alte West-Berlin und das alte Ost-Berlin haben ihre Zeit gehabt jetzt geht es darum, Berlin in die Zukunft zu führen.
Genauso geht es darum, die Deutsche Oper in die Zukunft zu führen, vor allem auf dem Gebiet der großen Oper, wo ich denke, dass wir besonders die Werke Richard Wagners wieder ganz neu ins öffentliche Interesse rücken werden. Da spüre ich auch unter der jungen Generation sehr viel Aufmerksamkeit, von Menschen, die nicht erlebt haben, wie jene Werke in anderen politischen Zusammenhängen benutzt wurden, sondern die diese Opern als Meisterwerke für sich neu entdecken. Und das ist für mich natürlich eine große Herausforderung.

Nun ist aber auch die Vergangenheit des Hauses sehr stark im Spielplan präsent, viele Inszenierungen stammen noch aus den 80er Jahren. Wie verknüpfen Sie das Neue mit der Tradition?
Harms: Man geht natürlich durch neue Produktionen und Interpretationen immer wieder voran und setzt neue Akzente. Auf der anderen Seite gibt es eben aufgrund der großen Vergangenheit, die diese Oper hatte, sehr viele Stücke im Repertoire, die tatsächlich Meisterwerke der Regie-Kunst sind und zugleich auch wichtige Zeitdokumente. Ich finde es überaus spannend, Stücke aus den 60er, 70er, 80er Jahren zu erleben, manche von ihnen haben auch eine Größe, die sogar zeitlos ist.
Dann gibt es wiederum andere Stücke, die vielleicht zu sehr zeitpolitisch gebunden gewesen sind, die haben wir aussortiert. Aber das, was wir im Repertoire behalten haben, ist nach wie vor aktuell und hat Größe und Bestand.

Viele Wagner-Inszenierungen stammen noch von Ihrem Vorgänger Götz Friedrich – wird es da in Zukunft neue Interpretationen geben?
Harms: Ja, es wird zum Beispiel einen neuen „Tannhäuser“ geben, allerdings werden wir den alten „Tannhäuser“ ebenfalls im Repertoire behalten. Der ist hervorragend und nach wie vor aktuell, so dass wir unser Repertoire einfach erweitern und das alte beibehalten. Und es wird auch Neuinszenierungen vom „Fliegenden Holländer“, „Rienzi“ und „Tristan“ geben.

Wird sich aber generell etwas am Regietheater an der Deutschen Oper ändern?
Harms: Ja, ich habe einen Wechsel der Regisseure vor, da gehören auch einige der großen Namen dazu, die hier etwas machen werden. Genauso wird es Regisseure der neueren Generation zwischen 35 und 45 geben. Was im Moment nicht vorgesehen ist, dass Hans Neuenfels hier weiterarbeitet oder Peter Konwitschny. Das sind natürlich große Regisseure – dennoch möchte ich jetzt neue Akzente setzen.

Werden auch Regie-Experimente darunter sein?
Harms: Also, die Basis wird sein, dass die Regisseure, die ans Haus kommen, sehr stark aus der Opernkenntnis heraus arbeiten sollen, der Kenntnis der Musik und der Dramaturgie. Ich glaube auch, dass Neuerungen bei der Kunstform Oper eigentlich immer aus der Kenntnis und aus einem Verständnis von Regie entstehen. Das ist vergleichbar mit der Architektur: niemand lässt sein Haus von einem Laienarchitekten bauen. Sicher, es gibt bei der Oper auch die Herangehensweise, die mit dem Zufallsprodukt spielt, doch ich habe mich für eine andere Herangehensweise entschieden.

Sie lieben in dieser Hinsicht also nicht das Risiko?
Harms: Das hat mit Risiko nichts zu tun. Aber mir wäre das einfach zu wahllos. Und man sollte auch bedenken: eine Oper ist ein sehr aufwendiges Kunstwerk, als Regisseur hat man sehr viel Verantwortung, mit dem ganzen Geld und dem großen Personal umzugehen. Ich glaube, da sollte man nur Könner ranlassen.

Aber besteht nicht auch eine Chance darin, Leute aus anderen Bereichen wie dem Film einmal Regie führen zu lassen?
Harms: Natürlich. Es gibt Filmregisseure, die einen musikalischen Hintergrund haben, oder die früher vielleicht schon Opernregie gemacht haben, das finde ich vollkommen in Ordnung.
Es ist auch denkbar, dass ein Schauspielregisseur Oper macht, so eng sehe ich das gar nicht. Ich setzte nur voraus, dass sich derjenige mit Oper gut auskennt. Und dann sollte die Herangehensweise nicht in der Zertrümmerung und Negierung des Ganzen bestehen, sondern in der Innovation aus dem genauen Lesen heraus.

Sie haben bereits selbst Opernregie unterrichtet, an der Musikhochschule in Hamburg. Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste einer solchen Ausbildung?
Harms: Das ist natürlich vergleichbar mit der Frage, wie man überhaupt junge Menschen unterrichtet. Wichtig ist, dass sich eine Persönlichkeit entwickelt und dafür kann man bestimmte Angebote machen, die auch Anreize schaffen. Allerdings kann man Opernregie auch nicht jedem beibringen. Sondern da müssen zwei Dinge zusammenkommen: die Begabung und die Persönlichkeit einerseits und spannende Angebote, die so eine Ausbildung anreichern, andererseits.

Wobei der Praxisbezug so einer Ausbildung nicht einfach herzustellen ist, oder?
Harms: Ja, das ist durchaus schwierig, wobei es das in Form von Praktika und Arbeiten am Theater auch gibt, das ist die zweite Seite eines solchen Studiums. Nur, der Fall, dass man allein über die Praxis in diesen Beruf kommt birgt manchmal auch die Gefahr, dass man zu wenig von der konzeptionellen Seite mitbekommt, weil man als Regie-Assistent oft mit den fertigen Konzepten konfrontiert wird.
Und das Studium der Opernregie, vier Jahre lang eine fundierte musikalische Ausbildung zu bekommen, das ist unersetzbar. Schon um musikalische Analyse machen zu können, sprich, dass man weiß, was ein neapolitanischer Sextakkord ist, oder was ein verminderter Akkord bei Wagner bedeutet, was bedeuten Perioden, die nicht zu Ende geführt sind und und und. Die Auseinandersetzung mit Musikästhetik ist wichtig und auch das reine Handwerk zu lernen, wie geht man organisatorisch damit um, wenn man 187 Takte „Meistersinger“-Fuge hat, mit Chor, wie strukturiert man das? Es gehört einiges dazu, wenn man so einen Apparat auf der Bühne dirigieren will.

Und wie schätzen Sie die Wechselwirkungen ein, zwischen dem, was der Student bei seinem Professor lernt, und seinen eigenen Opern-Erfahrungen?
Harms: Also, es ist klar, dass sich ein Student oft aus dem Gegenteil definiert und in eine ganz andere Richtung geht, als der große Professor, der vor ihm sitzt. Das gehört auch dazu, es soll sich ja eine Persönlichkeit herausbilden, die sich dann auch durchsetzt.

Wie wichtig ist es für einen Opernregisseur, eine eigene Handschrift zu entwickeln, die das Publikum immer wieder erkennt?
Harms: Das ist sehr wichtig. Es gibt natürlich Handschriften, die sind so ausgeprägt, dass sie immer wie ein und dasselbe Konzept erscheinen, egal auf welche Stücke man sie anwendet. Robert Wilson wäre da ein extremes Beispiel, egal ob er eine „Zauberflöte“, einen Wagner oder eine Operette inszeniert, es wird immer sehr ähnlich aussehen. Er ist einer der Regisseure, die so arbeiten, dass man sie sozusagen an ihrem „Strickmuster“ erkennt.
Andere lassen sich stärker auf ein Stück ein und dazu würde ich mich auch zählen. Weil ich es wichtig finde, sich auf eine bestimmte Ästhetik einzulassen, die Opern sind in ihren Ästhetiken ja ganz verschieden. Sprich, sich auf Inhalt, Ästhetik, und etwas, was man zum Ausdruck bringen will, immer wieder neu einzulassen, dafür neue Bilder und szenische Lösungen zu finden, das ist für mich die große Herausforderung.

Welche Rolle spielt denn bei der Ästhetik der Publikumsgeschmack?
Harms: Also, wir sind nun nicht die Politik, die es möglichst vielen Recht machen will und ihre Fahne deswegen immer in den Wind hängt. Sondern wenn man den Anspruch hat, wirklich künstlerisch zu arbeiten, geht es eigentlich immer wieder um das genaue Analysieren von Zeit und einer bestimmten Geschichte, die man in einem bestimmten Zusammenhang erzählen möchte. Und da gelten andere Maßstäbe als der Publikumsgeschmack, wobei es natürlich auch um die Frage geht, ob man möglicherweise etwas auf den Punkt bringt, was das Publikum in irgend einer Weise berührt.

Zitiert

Wir waren sozusagen die „Vorgruppe“ für die Islamkonferenz.

Kirsten Harms

Es gibt heute ja im Grunde keine einheitliche Opernästhetik mehr. Birgt diese Vielfalt nicht auch die Gefahr, dass man immer wieder Publikumsschichten verliert, die sich von neuen Ästhetiken zu sehr vor den Kopf gestoßen fühlen?
Harms: Man kann sich sowieso nicht vornehmen, alle gleichzeitig zu erreichen, das ist ja schlechterdings nicht möglich und zwar deshalb, weil jeder einzelne eine Oper ganz unterschiedlich erlebt, aus einer ganz anderen Situation heraus. Oft ist es ja so, dass zwei Leute sich eine Oper anschauen, der eine ist danach tief gerührt und der andere denkt nur „So ein lauer Abend!“ Da ist der eine emotional zugänglich, der andere dagegen nur rational, der eine ist ein Bildmensch, der andere geht übers Gehör…

Und wie nehmen Sie Publikumsreaktionen wahr?
Harms: Also, das Bild, das vom Publikum kommt, ist keinesfalls einheitlich, da gibt es wirklich ganz verschiedene Vorlieben. Es gibt Abende, da sagen die einen „das ist Kult“ und die anderen finden’s schrecklich. Was aber beide Seiten nicht hindert, oft zu kommen, und das finde ich spannend. Derjenige, der „Buh“ schreit, ist meistens auch jemand, der häufig kommt. Er bringt an dem Abend dann etwas Vitales mit hinein, manchmal ist es auch ein bisschen Selbstdarstellung, weil man so natürlich seine Werkkenntnis zum Ausdruck bringt, oder ob man einen Sänger besser oder schlechter findet, wie man den Regisseur und den Dirigenten einschätzt. Manchmal steckt dahinter natürlich auch Politik, weil einer dafür sorgen möchte, dass bestimmte Künstler oft kommen oder eben nicht so oft.

Und wenn Sie selbst nach der Premiere einer eigenen Inszenierung auf der Bühne stehen, wie reagieren Sie dann auf Buh-Rufe? Freut man sich manchmal auch darüber, weil man vielleicht provozieren wollte?
Harms: Einerseits wünscht sich jeder, dass er überschüttet wird mit Bravo-Rufen, das ist doch klar. Auf der anderen Seite weiß man aber auch, dass ein gewisses künstlerisches Vorangehen immer nötig ist. Man muss immer wieder etwas wagen und das ist gleichzeitig auch immer mit einer Gradwanderung verbunden. Am spannendsten sind vehemente Bravos und Buhs. Schlecht ist es, wenn es gar keine Bravo-Rufe gibt, wobei es auch berühmte Beispiele gibt, wo es nach der Premiere einhellige Buhs gab, es dann aber legendäre Inszenierungen geworden sind. Es kommt halt immer drauf an, was für Buhs das sind. Wenn man ausgebuht wird, weil man niveaulos musiziert, niveaulos singt oder niveaulos Regie geführt hat, dann sollte man vielleicht schon den Beruf wechseln. Wenn es aber Buhs sind, weil man Grenzbereiche berührt hat, dann kann man sich damit auf einer anderen Ebene auseinandersetzen.

Sie sagten vorhin „wir sind nicht die Politik“, doch zumindest als Intendantin unterliegen sie auch politischen Forderungen und Zwängen. Ist Ihnen der Posten als Intendantin nicht zu wenig künstlerische Arbeit?
Harms: Ich stehe ja nicht alleine an der Spitze des Hauses, sondern ich habe einen der besten Geschäftsführer, den ich mir vorstellen kann, der den nicht-künstlerischen Bereich ganz toll managt. Es ist schon sehr wichtig, so einen Betrieb auch organisatorisch in die Zukunft zu führen. Das machen wir mit sehr viel Einsatz und das ist auch ein schönes Arbeiten, wenn man vorankommt. Insofern kann ich jetzt nicht sagen, ob das mühsam ist oder nicht, es gehört einfach dazu.
Und es ist natürlich zu Recht eine Forderung der Politik, dass man wirtschaftlich arbeitet und dass man organisatorisch auf dem neuesten Stand der Dinge ist.

Wie schwierig war es für Sie, das Erbe von Götz Friedrich anzutreten, der die Deutsche Oper fast 20 Jahre lang geleitet hat?
Harms: Ich glaube, für mich ist es ein Glücksfall, Götz Friedrich als Vorgänger gehabt zu haben. Und zwar weil ich hier ein großes Repertoire als riesige Säule dieses Hauses habe, was exzellent und großartig ist. Weshalb mein Engagement u.a. auch dahin geht, bestimmte Inszenierungen zu restaurieren, top zu besetzen und alles dran zu setzen, dass jeder Abend Premieren-Qualität hat.
Hinzu kommt, dass der Idealismus von Götz Friedrich und seine Ernsthaftigkeit dieses Haus geprägt haben und genau diesen Dingen fühle ich mich verpflichtet. Natürlich führt man bestimmte Dinge immer wieder weiter und deutet sie neu aus. Aber in dem einen Punkt bin ich wirklich gerne seine Schülerin gewesen, in der ernsthaften Herangehensweise an ein Stück mit dem man umgeht und dass man erzählt. Natürlich verändert sich die Ästhetik, verändern sich Bühnenbild-Lösungen, Personenführung, die Regie und auch die Sichtweise des Publikums, doch muss man sich diese Ernsthaftigkeit als Methode bewahren.

Um einmal auf die zeitgenössische Oper zu sprechen zu kommen, Sie haben Ihr Studium ja mit einer Inszenierung von „Nouvelles Aventures“ des kürzlich verstorbenen György Ligeti abgeschlossen. Wie war damals Ihr Kontakt zu Ligeti?
Harms: Herr Ligeti war ein sehr charmanter Herr und hat sich wirklich über die Inszenierung gefreut. Er ist damals zu mir gekommen, hat sich auf die Knie geschmissen und gesagt, dass wir noch ganz oft zusammenarbeiten müssten.

Gab es danach noch einmal eine gemeinsame künstlerische Arbeit?
Harms: Nein. Es ist nicht unbedingt eines meiner Lieblingsgebiete. Wenn Oper zu abstrakt wird, habe ich am liebsten die Finger davon gelassen.

Aber als Hochschulabsolventin haben Sie sich doch an diese Form des Musiktheaters herangewagt?
Harms: Sicherlich. Es ist mir damals auch sehr gut gelungen, aber trotzdem bevorzuge ich Opern, die es mir auch erlauben, menschliche Geschichten nicht nur formal zu erzählen. Ich liebe eher das Dramatische und weniger die formale Spielerei.

Von welchen Kriterien gehen Sie aus, wenn Sie eine zeitgenössische Oper in die zukünftige Spielplangestaltung einbeziehen?
Harms: Meine Kriterien sind natürlich sehr subjektiv und sie sind sowohl bei neuen Stücken als auch bei Ausgrabungen sehr ähnlich. Ist die Geschichte wirklich spannend im Sinne einer starken Geschichte? Was findet man andererseits in der Musik, ist sie einfallsreich, mit vielen Ideen, hat sie Ausdruckskraft, die förmlich nach theatralischen Umsetzungen ruft? Und vor allem, hat das Stück eine spannende Ästhetik? Da bleibt bei zeitgenössischer Komposition einfach vieles unbeantwortet, weil die Geschichten manchmal kaum verständlich sind, man sich auch häufig um starke Geschichten herumdrückt und die Musik oft relativ langweilig ist.

Ist Politik auch ein Kriterium?
Harms: Politische Stoffe können durchaus spannend sein, aber natürlich müssen es auch gute Stoffe sein. Ein gewisse Politisierung haben wir ja auch vor mit Alberto Franchettis „Germania“.

Sowohl der Komponist als auch die Oper sind nur den wenigsten bekannt – haben Sie da einen großartigen Schatz ausgegraben?
Harms: Das ist ein Schatz, absolut. Wir haben damals schon „Cristoforo Colombo“ von Franchetti in Kiel gemacht, ein geniales Stück mit toller Musik, was auch ein Riesenerfolg war. Ich habe mir immer gesagt, „Germania“ bewahre ich mir auf, um es eines Tages in Berlin zu inszenieren, obwohl ich damals von meiner jetzigen Intendanz nicht das Geringste geahnt habe. Aber jetzt, wo sich zunehmend eine Deutschlanddebatte entfacht, wird „Germania“ ein sehr beachteter Beitrag werden.

Wobei Sie wahrscheinlich auch von den aktuellen Entwicklungen etwas überrascht wurden?
Harms: Deswegen haben wir das Stück ja angesetzt. Als ich vor drei Jahren von Herrn Flierl gefragt wurde, ob ich die Deutsche Oper übernehmen würde, habe ich gleich gesagt, dass dies meine erste Inszenierung als Intendantin sein würde.

Aber Sie haben zum damaligen Zeitpunkt wohl noch nicht einkalkuliert, dass 2006 die Fußball-WM in Deutschland stattfindet, oder?
Harms: Nein, das nicht. Aber man hat trotzdem ein Gespür dafür, ob es ein Thema wird und ob man überhaupt mit einem solchen Thema kommen kann. Es war ja lange ein tabuisiertes Thema, wir hatten aber einfach den Instinkt dafür, dass man sich an dieses Tabu heranmachen müsste. Was den aktuellen Bezug anbetrifft, kann man mit einem solchen Stück ja auch eine andere inhaltliche Debatte lostreten, als nur zu fragen, ob man jetzt mal wieder die Deutschlandfahne schwingen kann oder nicht. In diesem Stück geht es um viel mehr, um die Rolle der Dichter und Denker über Jahrhunderte beispielsweise. Und worin liegt eigentlich wirklich die deutsche Tragik angesichts dieser beiden Extreme von Verwicklungen in entsetzliche Kriege und andererseits der starken Rolle der Kunst in diesem Land. Wir haben ja über viele Jahre von der Maxime gelebt: nie wieder Krieg! Aber dass das heute keine neue Erkenntnis ist, sondern auch Jahrhunderte vorher immer nach Kriegen die Parole war, wird oft vergessen.

Der letzte Akt der Oper spielt auf einem großen Schlachtfeld.
Harms: Ja, fast keiner überlebt. Nur eine Frau, die fast wahnsinnig wird.

Und was passiert vorher?
Harms: Das Thema ist eine aufgeklärte Jugend, die ihre Zukunft gestaltet, auch ideell gestaltet über die Kunst, die Dichtung, über die Komposition – Weber, Kleist, Lessing kommen in dem Stück vor –, die sich dann aber doch tragischerweise in kriegerische Auseinandersetzungen verwickeln lässt. Wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs zieht sie schließlich mit Begeisterung und Patriotismus in die Schlacht. Wir wollen hinterfragen: Was ist das für ein Mechanismus? Wenn man eben nicht wie üblich die zwielichtigen Gestalten oder die Macht der Volksverdummung als Kriegstreiber heranzieht sondern guckt, was ist gerade mit denen, die ein sehr ausgeprägtes differenziertes Bewusstsein haben. Wieso greift dort ein solcher Mechanismus? Das ist natürlich eine sehr spannende Frage. In dem Moment kann man nämlich nicht sagen, dass nur ein bestimmter Teil einer politischen Gruppierung, die Verantwortung für diese Katastrophen trägt. Aufgabe sollte es sein, auch mal neu zurückzuschauen und sich nicht nur über den Zweiten Weltkrieg zu definieren, sondern noch weiter in die Vergangenheit zu gehen, wie wurde dort politische Geschichte erzählt.
Dieses Stück ist deshalb auch spannend, weil es von einem italienischen Juden geschrieben ist. Hier erleben wir also kein Deutschlandbild, dass mit falschem Pathos geschrieben wurde. Es kommt darin auch vor, aber es wird vorgeführt als ein Teil wirklich tragischer deutscher Geschichte.

Bei Opernsujets, wo die Kriegs-Thematik so präsent ist – entwickeln da Frauen noch einen anderen Blick, ein anderes Regiekonzept als Männer?
Harms: Ja, vermutlich. Mein Mann sagt das immer.

Können Sie sagen, was Sie auf der Bühne anders machen?
Harms: Es wird mir bei „Germania“ nicht darum gehen, die Grausamkeiten des Krieges in Form von Blut- und Schlammschlachten auf die Bühne zu bringen. Das wäre nur ein krasses Beschreiben eines negativen Zustands, würde aber in keiner Weise einen Blick nach vorne oder eine konstruktive Haltung erlauben. Mich interessiert die eigene Tragik der Gestalten, worin liegt sie, wo sind die fatalen Missverständnisse des Zusammenlebens. Die Jugend in diesem Stück ist sich nicht einig, wie man sich im politischen Kampf engagieren sollte. Die einen sind Idealisten, kämpfen mit der Philosophie und die anderen sagen, dadurch wird nichts bewegt, wir müssen uns radikalisieren. Das heißt, wir müssen uns auch in die aktive Politik mit einschalten und müssen bereit sein, bis in den Tod zu kämpfen. Gleichfalls wird die tragische Geschichte zweier befreundeter Studenten gezeigt, die im Laufe des Stückes zu Gegnern werden und sich schließlich auf Leben und Tod bekämpfen. Man muss genau schauen, wo diese Figuren kippen. Es gibt nicht nur den Guten und den Bösen, sondern es gibt im Menschen immer beides und mir geht es darum, zu zeigen, wie dort die Zusammenspiele sind, wie solche tragischen Konstellationen entstehen.

Das Bühnenbild zu „Germania“ wird ihr Mann Bernd Damovsky entwerfen, mit dem Sie schon lange künstlerisch zusammenarbeiten.
Harms: Ja, bereits seit zwanzig Jahren.

Da lässt sich wahrscheinlich Berufliches und Privates nicht so einfach trennen, oder?
Harms: Uns geht der Gesprächsstoff jedenfalls nie aus, uns ist es in dieser Hinsicht nie langweilig. Das ist natürlich ein Teil unseres Lebens: immer wieder neue Ideen, Themen und vollkommen neue Entdeckungen. Aber natürlich schalten auch wir mal ab, gehen beispielsweise am Strand Steine sammeln. Ich muss sagen, mir gefällt das sehr.

Ist der eine auf den anderen böse, wenn er mal „fremdgeht“ und mit einem anderen Regisseur bzw. Bühnenbildner arbeitet?
Harms: Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Man diskutiert auch dort Konzepte, weil es einfach eine allgemeine Beschäftigung ist. Wichtig ist natürlich, wenn man zusammenarbeitet, dass nicht beide den gleichen Beruf ausüben. Wir haben sehr getrennte Bereiche, wo der eine den anderen auch respektiert. Man kann auch nicht alles gemeinsam entscheiden.

Hat man als Regisseur eigentlich nach der Premiere mit einer Inszenierungen abgeschlossen, oder denken Sie beim späteren Betrachten der eigenen Arbeit noch darüber nach, was sie anders oder besser hätten machen können?
Harms: Das gibt es schon, wobei ich an einem großen Haus den Vorteil habe, dass Stücke ins Repertoire gehen und ich mir nicht zu schade bin, auch ein Jahr später bei einer Wiederaufnahme bestimmte Dinge zu ändern. Wieso eigentlich nicht? Man stellt sich immer vor, dass alles, was am Abend entsteht, nur aus dem eigenen Kopf entstanden ist. Die Wahrheit ist allerdings, dass noch ganz viele unbekannte Faktoren hinzukommen. Zum Beispiel die Sänger, wie kommen sie mit einer Rolle zurecht, wie schaffen sie eine bestimmte Interpretation und welche Auswirkungen hat das auf das gesamte Konzept?

Wie wichtig sind Ihnen denn große Starbesetzungen?
Harms: Stars sind an diesem Haus unabdingbar. Andererseits wagen wir es auch immer wieder unbekanntere Namen zu bringen, um für die Stars von morgen zu sorgen. Entscheidend ist letztlich die wirkliche Qualität.

Frau Harms, wenn das Leben eine Oper wäre – für welche Rolle würden Sie sich entscheiden?
Harms: Die Oper ist so sehr Teil meines Lebens, da braucht es keine Rolle mehr.

Das Gespräch wurde im Oktober 2006 in Berlin geführt.

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