Herr Seiler, Sie waren dieses Jahr mit Ihrem Buch „Die Zeitwaage“ für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und sind kürzlich mit dem Fontane-Preis für Literatur 2010 ausgezeichnet worden. Was halten Sie von Preisen?
Preise haben eine sehr wichtige Funktion, weil sie auf die Bücher aufmerksam machen. Wenn man selbst für einen Preis nominiert wird, freut man sich natürlich, dass es noch einmal eine zusätzliche Aufmerksamkeit für das eigene Buch gibt. Wenn es Erzählungen sind, wie in meinem Fall, dann freut man sich noch mehr. Denn Erzählungen rangieren im deutschen Literaturbetrieb eher an zweiter Stelle. Die Interessen der Käufer, der Buchhandlungen und der meisten Verlage liegen beim Roman. Aber vielleicht ändert sich das auch gerade ein wenig.
Im Rahmen einer solchen Nominierung wie für den Leipziger Buchpreis stehen etliche Pressetermine an. Wie stehen Sie zum öffentlichen Teil des Schriftsteller-Lebens? Das heißt den Messen, den Lesungen, der Öffentlichkeitsarbeit…
Im Grunde genommen ist es eine völlig fremde Art des Daseins. Man wirft, wenn man von zuhause losgeht, noch einmal einen Blick zwischen die Bäume und sagt sich: Ich komme wieder. Da muss ich jetzt durch. Man erinnert sich dann, währenddessen man durch diesen Durchlauferhitzer Messe geht, an das Stück Erde zwischen den Bäumen und weiß, das gibt es noch. Du wirst schon bald wieder dorthin zurückkommen und zwar, schon morgen. Der Medientrubel ist etwas ganz Fremdes und nimmt einen auf eine Art gefangen, die zur eigenen Existenz so nicht gehört. Ein Autor ist vor allem jemand, der einsam und allein seine Arbeit verrichtet, der sich das ausgesucht hat und der das wahrscheinlich auch braucht. Denn das fühlt sich richtig an.
Wie ertragen Sie dann Szenarien wie die das in Klagenfurt bei der Vergabe des Ingeborg-Bachmann-Preises, den Sie 2007 gewonnen haben?
Ja, Klagenfurt ist sehr speziell. Man muss sich gut überlegen, ob man sich dem aussetzen will. Jeder kann vorher sehen, was der Ingeborg-Bachmann-Preis bedeutet, in welches mediale Umfeld er sich begibt. Und dann muss man sich ganz klar entscheiden. Ein Jahr zuvor hatte ich mich dagegen entschieden. Aber im Jahr darauf kam die Anfrage noch einmal und da habe ich zugesagt. Ich dachte: Ich habe einen Text, mit dem ich unter allen Umständen zufrieden bin. Der Text war, für mich zumindest, so gut, dass ich quasi unter dem Schutz des Textes dorthin gehen und mich dem aussetzen konnte.
Preise bedeuten immer, dass es Gewinner und Verlierer gibt. Im Fall von Buchpreisen also bessere und schlechtere Autoren. Vergleichen Sie sich mit anderen, die schreiben?
Das mache ich eigentlich weniger. Vielleicht bin ich dann, wie im Falle Bachmann-Preis, schon so lange dabei, dass man gelernt hat, sich auf seine eigene Arbeit zu konzentrieren, sich selbst zu vertrauen. Man vertraut dem, was man selber kann und versucht das Bestmögliche herauszuholen. Das heißt nicht, dass man nicht auch liest was Kollegen machen und das auch gut findet. Aber es ist keine Anfechtung für die eigene Arbeit. Wenn ich einen wirklich guten Text von einem Kollegen lese, dann gibt es nur Freude. Überhaupt, jedes gute Buch, was man in die Hand bekommt, ist Freude. Denn eigentlich ist man immer auf der Suche nach guten Texten, die einem Anregungen geben können.
Sie begannen Ihre literarische Arbeit im lyrischen Bereich, mit „Turksib“ und „Die Zeitwaage“ haben Sie Erzählbände veröffentlicht, nun erscheint mit „im felderlatein“ wieder ein Gedichtband. Wie grenzen Sie die Gattungen für sich ab?
Die Prosa war einfach für mich noch einmal etwas ganz Neues, etwas völlig Anderes. Es ist eine andere Art in der Welt zu sein. Indem ich Prosa schreibe, sehe ich anders, höre ich anders, achte ich auf andere Dinge. Man ist mehr dabei, genau zu beobachten, auf Dialoge zu hören. Wie bewegen sich Leute? Welche Gesten machen Menschen, wenn sie sprechen? Das alles ist anders als in der Lyrik. Ich habe einmal gesagt, dass es eine Form der konzentrierten Abwesenheit in der Lyrik gibt. Man versucht das stärkste Bild abzuschöpfen, möglichst nicht so genau hinzusehen, um etwas ankommen zu lassen, mit dem man nicht gerechnet hat. Es gibt in der Lyrik mehr irrationale Momente.
Was genießen Sie am Erzählen?
Die Prosa verlangt mehr konzentrierte Anwesenheit. Am Anfang habe ich mich gequält und musste vieles lernen. Es hat eine ganze Weile gedauert, aber zugleich war die Freude dabei, etwas anderes zu machen.
Ich brauche lange bis etwas fertig ist. Man entwirft einen gewissen Widerstand gegen die Beschleunigung, die einen umgibt, um wahrzunehmen, zu können, worauf es einem eigentlich ankommt.
Man liest über Sie, das Ohr sei Ihre letzte Instanz beim Schreiben. Lesen Sie sich alles vor?
Ja, irgendwie muss das so sein. Während ich schreibe muss ich immerzu sprechen. Ich spreche so lange, bis ich hören kann, dass es stimmt. Ein Satz, auch in der Prosa, wird endlos von mir gesprochen und solange überarbeitet, bis ich das Gefühl habe, dass er vom Klang her stimmt. Es muss eine Syntax da sein, die einen Rhythmus hat. Das ist ein Erbe, das ich in die Prosa mitgeschleppt habe. Dieses Erbe hat auch Nachteile, weil man endlos überarbeiten muss. Weil man am Ende einer Seite noch hört, wie sie am Anfang geklungen hat. Man möchte eine Art rhetorische Skulptur aus einem Guss erzeugen. Ich höre sozusagen den Sound des ganzen Textes. Ich weiß genau, dass ich es hundertmal, tausendmal gesprochen habe, bevor es gedruckt wird. Deshalb kann ich mich bei Lesungen eigentlich nie verlesen.
Betrachtet man die Handlungsebene in den Geschichten Ihres Buchs „Die Zeitwaage“, geschieht jeweils nicht sehr viel, es wird sich Zeit genommen alles genau wahrzunehmen. Ist diese Langsamkeit und Genauigkeit Teil Ihrer Persönlichkeit, entspricht sie Ihrem eigenen Werdegang und Denken?
Das kann schon sein. Obschon das eine Konstruktion ist, von der ich nicht weiß, ob man sie ohne weiteres machen kann. Rückschlüsse zwischen Gangarten im Text und Gangarten, die man in sich als Mensch oder in seiner Biografie wiederentdeckt. Aber die Überlegung finde ich interessant. Langsamkeit ist ein gutes Stichwort. Es könnte sein, dass alles sehr langsam geht bei mir. Ich brauche sehr lange bis etwas fertig ist. Man entwirft einen gewissen Widerstand gegen die Beschleunigung, die einen umgibt. Man muss diesen Widerstand leisten, um wahrzunehmen, worauf es einem eigentlich ankommt, um das wahrzunehmen, was für das eigene Schreiben, für die Literatur, entscheidend ist.
Was ist eigentlich eine Zeitwaage?
Den Titel „Die Zeitwaage“ hätte ich niemals gewählt, wenn es nicht wirklich einen kleinen Apparat gäbe, der Zeitwaage heißt. Fast jeder Uhrmacher verfügt über diese kleine Maschine. Man kann die Uhr darauf legen und die kleine Maschine ist mit einem Mikrofon ausgestattet. Sie lauscht in den Gang der Uhr. Man möchte sagen, in den Gang der Zeit. Dafür haben die Uhrmacher dann wieder wunderbare Begriffe wie „schleifender Anker“ oder „fehlende Hemmung“ oder „Momente, die schwanken“. Das ist ein gemeinsamer Nenner für meine Erzählungen. Es geht um die Momente, die schwanken, die herausfallen aus dem Ablauf der Zeit. Die Lücken im Ablauf, wo uns etwas Besonderes passiert, uns etwas zustößt mit einer Notwendigkeit, die wir selbst vorher nicht sehen konnten. Man fühlt sich unter Umständen hilflos dem ausgesetzt, aber es passiert etwas Entscheidendes.
„Die Zeit“ beschreibt Sie als „souveränen Erzähler der Kollateralschäden des Sozialismus“. Finden Sie sich in dieser Beschreibung wieder?
Eigentlich nicht. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass Jens Jessen die Qualität der Texte gelobt hat, dass er das Handwerkliche herausgestrichen hat. Aber ich selber habe so nicht empfunden. Ich habe die DDR auch nicht im Sinn gehabt bei diesen Erzählungen. Es ging nie um Rekonstruktion von DDR-Zuständen oder DDR-Geschichte. Es ging mir immer um diese besonderen Momente, die unabhängig von Gesellschaftsformationen zu existieren scheinen. Aber es gibt so einen Blick auf Literatur, wenn man im Osten Deutschlands großgeworden ist. Mein erstes Buch ist ja auch in der späteren Nachwendezeit erschienen. Es ist fast so, als würde man über die Herkunft ästhetische Urteile präjudizieren. Achteinhalb Erzählungen dieser 13 Erzählungen in „Die Zeitwaage“ spielen nicht zu DDR-Zeiten. Natürlich gibt es Figuren, die von ihrer Geschichte geprägt sind, aber die Kollateralschäden des Sozialismus hatte ich nicht im Blick. Natürlich gibt es historische Details. Das muss auch so sein. Erzählungen müssen historisch genau sein. Es bringt einen Mehrwert für das Erzählen, wenn man weiß wo etwas verortet ist.
In Pressebesprechungen wurde Ihrem Erzählband „Die Zeitwaage“ das Konservieren eines bestimmten DDR-Aromas attestiert. Wie denken Sie darüber?
Leser erkennen gern die eigene Herkunft wieder. Ich finde es überhaupt nicht verkehrt, dass ein Autor seine eigene Herkunft, sein eigenes Stück Land mit in die Literatur bringt. Im Grunde ist es seine Aufgabe. Die größten Autoren haben sich dieses Land vorgenommen und haben es in ihrer Literatur aufgehoben und das finde ich sehr erstrebenswert.