Mario Adorf

Der Nachruhm ist mir gleichgültig.

In seinem neuen Film „Der letzte Mentsch“ spielt Mario Adorf einen Holocaust-Überlebenden, der sich auf die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln begibt. Ein Gespräch mit dem 83-jährigen Schauspieler über Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, Kollektivschuld und seine Zweifel am Kapitalismus.

Mario Adorf

© Felix von Mutalt

Herr Adorf, Sie strahlen in dem Film „Der letzte Mentsch“ eine unglaubliche Milde aus. Würden Sie sich heute selbst als milde bezeichnen?
Mario Adorf: Die Rolle, die ich in dem Film spiele, bin ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich privat milde oder altersmilde bin. Vielleicht bin ich im Laufe der Jahre toleranter geworden.

Der Film kommt zum 70. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden in die Kinos, worum es auch im Film geht. Sie spielen Marcus Schwarz, der in Ungarn seine jüdischen Wurzeln sucht. Wie schwierig war diese Rolle?
Mario Adorf: Es ist sicher eine heikle und schwierige Rolle, aber es war trotzdem keine mir ungewohnte Situation. Ich habe schon einige jüdische Charaktere gespielt, daher fühlte ich mich ziemlich sicher und musste mich nicht besonders auf die Rolle vorbereiten.

Haben Sie Holocaust-Überlebende zur Vorbereitung getroffen?
Mario Adorf: Ich habe sehr viele Emigranten kennengelernt, die große Vorbilder für mich waren. Vor allen anderen Fritz Kortner und Leonard Steckel. Begegnungen oder das direkte Gespräch mit Holocaust-Überlebenden habe ich nicht gesucht. Es gibt ja auch andere Möglichkeiten, sich zu informieren.

Wäre so ein Gegenübertreten schwierig, weil man selbst auf der anderen Seite war?
Mario Adorf: Ich war schon ein bisschen gespalten, ich habe auch darüber geschrieben.
Ich habe die Kristallnacht in meiner Heimatstadt Mayen erlebt, dort gab es auch eine Synagoge. Wir waren Kinder im Waisenhaus, wir wollten sie brennen sehen, durften aber natürlich nicht raus. Am nächsten Morgen hatte ich Fieber und durfte nicht mit den anderen in die Schule. Aber ich erinnere mich wie morgens Lastwagen auf der Straße vor dem Gefängnis gegenüber standen, es gab Geschrei, Befehle und die Saalschwester stand am Fenster und tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen ab. Ich sah, wie meist alte Leute auf die Lastwagen geladen wurden und fragte die Schwester: „Was sind das für Leute?“ Sie sagte: „Das sind Juden.“ Und ich fragte: „Was haben die verbrochen?“ Da sagte sie: „Dass sie Juden sind.“ Ich weinte auch, aus Sympathie. Ich wusste gar nicht, was Juden sind, ich war ja gerade mal acht Jahre alt.
Mittags kamen meine Kameraden aus der Schule und brachten Bonbons mit, die sie aus den geplünderten Geschäften der Juden hatten. Das war mein geheimer und heimlicher Bruch. Es ist ganz klar: Wäre ich bei meinen Kameraden gewesen, hätte ich dasselbe gemacht.

Können Sie sich an damalige Begegnungen mit Juden erinnern?
Mario Adorf: In meiner Stadt hieß es, dass man Juden nicht grüßen darf. Wir grüßten aber immer ein paar Leute, die in schwarzen Mänteln und mit schwarzen Hüten vorbeigingen Plötzlich durften wir das nicht mehr. Aber wenn ich alleine war, traute ich mich zu sagen: „Guten Tag, Herr Geheimrat.“ Ich habe es getan, weil ich diesen Herrn mochte. Und ich verstand nicht, warum ich es nicht sagen durfte. Er blieb stehen, strich mir mit der Hand über den Kopf und sagte: „Guten Tag, mein Junge.“

Zitiert

Ein Anspruch auf ewige Heimat gilt heute nicht mehr.

Mario Adorf

Wie viel haben Sie damals von den Verbrechen der Nazis gewusst?
Mario Adorf: Während des Krieges nichts. Ich war ein überzeugter „Pimpf“, wie man damals sagte, ich habe das also mitgemacht, allerdings auch nicht ganz unkritisch. Und nach dem Ende des Krieges war es dann die große Enttäuschung. Ent-Täuschung.

Haben Sie sich manchmal geschämt Deutscher zu sein?
Mario Adorf: Nach dem Krieg war ich vor allem enttäuscht und gekränkt. Dass man so was mit mir gemacht hat! Dass man mich verführt hat, missbraucht hat!

© Felix von Mutalt

© Felix von Mutalt


Der Film thematisiert allgemein die Identitätsfindung. Wie wichtig ist es für einen Menschen, seine Identität zu finden?

Mario Adorf: Normalerweise stellt sich diese Frage ja nicht, weil wir unser Leben lang unsere Identität behalten. Dramatisch wird es nur, wenn man seine Identität durch irgendeinen Umstand verloren hat. Im Film verliert Marcus Schwarz seine Identität durch einen eigenen Entschluss, als Weg zum Vergessen. Er sagt sich: Wenn ich mein Jude-Sein ablege, gelingt es mir vielleicht durch Vergessen, mich davon zu überzeugen, dass das alles gar nicht stattgefunden hat. Das ist natürlich eine Ausflucht. Ich habe ein gewisses Verständnis für das Verdrängen. Wir haben ja viele Diskussionen geführt, um Grass, Walser, Dieter Hildebrandt…

…und deren Vergangenheit in der Hitlerjugend bzw. Waffen-SS…
Mario Adorf: …und haben sie auch wohl leichtfertig verurteilt. Aber Verdrängen ist kein Verschweigen. Grass hat man das lange Verschweigen übelgenommen. Das war bei ihm anders als bei jenen, die diese Sache so weit verdrängt haben, dass sie es wirklich nicht mehr in ihrem Bewusstsein hatten. Diesen psychologischen Umstand gibt es und dafür habe ich Verständnis.
Ich selbst habe die Zeit auch erlebt, aber ich war zu jung, um das Bedürfnis nach Verdrängung zu verspüren.

Wie haben Sie reagiert, als Daniel Goldhagen vor 18 Jahren seine Thesen über die Kollektivschuld der Deutschen veröffentlichte?
Mario Adorf: Eine Kollektivschuld gibt es natürlich nicht. Es gibt keine Familienschuld. Dass man eine ganze Familie oder ein ganzes Volk zu Schuldigen erklärt, ist Unsinn. Dass die nachkommenden Generationen nicht selber schuldig sind, aber dass eine große Schuld auf uns geladen wurde, damit müssen wir natürlich fertig werden. Das Vergessen hilft da überhaupt nichts, allein aus dem Grund, dass es sich wiederholen kann. Ich persönlich glaubte nach dem Krieg, dass sich das nicht wiederholen kann.

Haben Sie sich vorstellen können, dass über ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg eine nationalsozialistische Untergrundbewegung eine Blutspur durch Deutschland zieht?
Mario Adorf: Nein, das habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können. Ich habe auch Brecht nicht geglaubt, der sagte: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ Ich habe gedacht: Das kann nicht sein! Dieser Schoß war doch nicht mehr fruchtbar!
Ich habe 1959 den Film „Am Tag, als der Regen kam“ gedreht. Ich spielte da einen jungen Neonazi, habe diese Rolle aber überhaupt nicht begriffen. Ich wollte sie auch nicht spielen, man hat mich dann aber überredet. Ich fürchte, ich war nicht besonders gut in der Rolle. Ich habe immer gedacht: Es kann und darf nicht nochmal passieren!

Nun sitzt die NPD heute in zwei Länderparlamenten…
Mario Adorf: Die Gefahr ist immer noch da. Deswegen bin ich gegen das Vergessen.

Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie hören, wie Politiker in Bayern Stimmung gegen Migranten machen?
Mario Adorf: Ich persönlich habe eine ganz andere Einstellung. Ich glaube, dass Ansprüche auf Dinge wie ewige Heimat und auf eine Erde, die wir mal bewohnt haben, heute nicht mehr gelten.

Sie prophezeien ja das Ende des Kapitalismus. Woher nehmen Sie diese Überzeugung?
Mario Adorf: So dogmatisch habe ich das nie gesagt. Ich habe nur gesagt, dass wie jeder Ismus irgendwann aufhört, auch der Kapitalismus irgendwann aufhören wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Wachstum ewig ist. Es kann damit nicht immer weitergehen – und die Anzeichen dafür sind bereits da, sie sind schon im Bewusstsein. Auch die Jugend will heute nicht immer noch mehr und giert nicht mehr so. Ich glaube, in den nächsten zwei Generationen wird sich der Kapitalismus schon so zurückentwickelt haben, dass alle verstehen, dass der große Luxus, den wir gelebt haben, nicht mehr haltbar ist.

Sind Sie selber eigentlich auch ein Fan des Luxus gewesen? Insbesondere als Ihre Karriere losging?
Mario Adorf: Ich war durchaus einer, der es mitgemacht hat. Aber ich war nie gierig und ausgerichtet auf noch mehr Haben und Besitzen. Da habe ich andere gekannt, bei denen es immer so weiter ging.

Könnten Sie sagen, inwiefern Ihre Biografie Ihr Schauspiel beeinflusst hat?
Mario Adorf: Ich weiß gar nicht, ob da wirklich etwas aus meiner Biografie kommt.
Es gab damals einen Schauspieler, O.E. Hasse, ein Star in Deutschland, wir haben ein, zwei Filme zusammen gemacht. Und eines Abends unterhielten wir uns darüber, was uns antreibt. Er sagte: „Ich bin Schauspieler geworden, weil ich schwul bin. Anwalt wäre nicht möglich gewesen, aber Schauspieler konnte ich werden. Ich konnte es verheimlichen, ich konnte es leben und es wurde nie ein Skandal.“
Als er mich nach dem Antrieb fragte, sagte ich: „Ich weiß es nicht, ich bin da einfach so reingerutscht.“ Ich war jung, mit 20 hatte ich noch keine festen Berufsvorstellungen. Da sagte er: „Nein, du bist Schauspieler, weil du ein uneheliches Kind bist.“

Ist da denn etwas dran?
Mario Adorf: Ich habe das nicht geglaubt. Denn mich hat das nie groß belastet, es war für mich kein Trauma. Ich habe meine Motivation nie als etwas gesehen, was durch meine Vita veranlasst wurde, sondern als etwas, das durch mich selbst, meinen Charakter und meine Spielfreude entstand.

Der Südländer im Blut.
Mario Adorf: Ich weiß, dass mein Vater mal Schauspieler werden wollte. Während des Medizinstudiums hat er sich in eine Schauspielerin verliebt. Er stammte aus einer angesehenen Notarsfamilie in Kalabrien, sie wollten ihm diesen Schauspieler-Wunsch austreiben und haben ihm deswegen ein Pferd geschenkt. Und als er Arzt wurde, haben sie ihm eine eigene Klinik gebaut.

Wenn Sie zurückschauen – gibt es einen Film in Ihrer Filmografie bei dem Sie sich wünschen, dass er der Nachwelt erhalten bleibt?
Mario Adorf: Das interessiert mich ehrlich gesagt überhaupt nicht. Mir ist das Nachleben und der Nachruhm gleichgültig. Wenn ich weg bin, bin ich weg. Meine Mutter hat genauso gedacht. Meine Mutter sagte: „Ich will weg sein. Ich will ins Meer gestreut werden.“ Das hat mir auch gefallen, das habe ich auch getan, ich habe ihre Asche ins Meer gestreut.

Aber gab es nicht vielleicht doch einen Film von Ihnen, der in der Zukunft Menschen inspirieren könnte?
Mario Adorf: Das sollen andere entscheiden, ich mache mir darüber keine Gedanken. Mich interessieren Filme nachdem ich sie gemacht habe, sehr schnell nicht mehr. Das ist Arbeit für mich, die ich gemacht habe. Ich schaue lieber, was als nächstes kommt.

In „Der letzte Mentsch“ geht es ja auch um Erinnerungen und darum, ob man sich mit seiner Vergangenheit beschäftigt oder nicht. Schwelgen Sie viel in Erinnerungen?
Mario Adorf: Es gab Zeiten, als ich schrieb, da musste ich zwangsläufig in meiner Vergangenheit wühlen. Doch irgendwann habe ich auf die Frage „Schreiben Sie nicht mehr?“ geantwortet: „Ich habe nichts mehr zu sagen.“ Tatsache ist ja, dass ich seit zehn Jahren nichts mehr geschrieben habe.

Spielen Sie eigentlich lieber auf der Bühne oder im Film?
Mario Adorf: Ich habe von Anfang an parallel zur Schauspielschule schon meinen ersten Film gemacht. Ich habe sogar schon bevor Fernsehen gesendet wurde, Testsendungen im Fernsehen gemacht. Ich war also dreigleisig unterwegs, von Anfang an.
Ich habe keine qualitativen Vergleiche gemacht. Theater war für mich wichtig, wenn ich das Bedürfnis hatte, wieder eine Rolle zu entwickeln und sie nicht zu improvisieren, wie das ja bei Film und Fernsehen der Fall ist. Dort kann man nichts ausprobieren. Es wird sofort gemacht und dann ist es da.

Oder erst nach der fünften, sechsten Klappe.
Mario Adorf: Das Improvisierte wird aber immer nur wiederholt und dadurch nicht besser. Ich habe immer gesagt – und das werden viele Kollegen bestätigen: Die erste Aufnahme ist immer die Beste. Das ist die Theaterpremiere. Da ist die meiste Spannung, das meiste Adrenalin. Die zweite, dritte, fünfte und zwanzigste Klappe kann nie so gut werden, wie die erste. Es sei denn man bekommt irgendwann eine Perfektion hin, so bei der hundertsten Klappe.

Sind Sie Perfektionist?
Mario Adorf: Ja. Ich bin kein Improvisator, ich improvisiere nicht gern. Ich habe einmal mit Rainer Werner Fassbinder gearbeitet. Ich sagte: „Die Tür hat in der Szene doch gewackelt, und der Kollege hatte einen Versprecher. Wollen wir es nicht nochmal machen?“ Da sagte er: „Willst du es perfekter haben? – Das interessiert mich nicht.“ Er war genau das Gegenteil. Work in process war für ihn wichtig. Wenn er Perfektionist gewesen wäre, hätte er keine 30 oder 35 Filme in der kurzen Zeit gemacht. Er war in Gedanken schon immer beim nächsten Film. Das war nicht meine Art.
Barbara Sukowa und ich haben deswegen manche Szenen heimlich vorher probiert. Da hat sich Fassbinder beim Dreh dann gewundert, dass wir das so gut konnten.
Wenn wir von Improvisation sprechen, so gibt es allerdings eine neue Erfahrung. Ich habe gerade in Hamburg einen TV-Film abgedreht, der „Altersglühen“ heißt. Es geht um ältere Menschen, die sich auf Partnersuche einlassen und zwar in der Form des Speed-Datings. Sechs Paare haben jeweils sieben Minuten Zeit, sich in einem Gespräch kennen zu lernen. Hier gab es nun kein Drehbuch, keine vorgeschriebenen Dialoge, sondern reine Improvisation. Eine neue, spannende und vergnügliche Erfahrung für einen alten Improvisationsgegner!

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