Martin Suter

Korrumpiert werden ist keine schweizerische Exklusivität.

In seinem neuen Roman „Montecristo“ setzt sich der Schweizer Autor Martin Suter mit dem Finanzwesen in seiner Heimat auseinander. Im Interview spricht er über Verschwörungstheorien, „Blutgeld“, arbeitslose Banker und die schwindende Unabhängigkeit von Journalisten.

Martin Suter

© Alberto Venzago

Herr Suter, in Ihrem Roman „Montecristo“ führen zwei Geldscheine mit der gleichen Seriennummer zu einem Bankenskandal. Weshalb sind Geldgeschäfte ein spannender Ausgangspunkt für einen Roman?
Martin Suter: Spannung wird oft erzeugt, wenn es um viel geht. Das können Gefühle sein, Menschenleben, das können aber auch materielle Dinge sein. Und in meinem neuen Buch geht es um einen großen materiellen Schaden.  Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der unwahrscheinliche Zufälle eine riesige Sache ins Rollen bringen. Also etwas, das klein anfängt und groß aufhört.

Wie wichtig sind dabei die Protagonisten? Sind die auch von Anfang an da, so wie die Idee zu einer Geschichte?
Suter: Die sind entscheidend. Zuerst kommt die Idee der Geschichte und kurz darauf die Protagonisten. Die Geschichte muss man den Protagonisten ‚anprobieren‘, um zu schauen ob sie ihnen passt.

Und als Grundlage nutzen Sie eine abstrakte Idee, oder gibt es auch mal Zeitungsmeldungen, die Sie zu einer Geschichte inspirieren?
Suter: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einmal etwas aufgrund einer Zeitungsmeldung geschrieben habe. Es ist wirklich die Geschichte, die ich relativ theoretisch suche. Dabei ist auch egal, was das Thema ist. Zum Beispiel wollte ich in „Der Koch“ eine Geschichte über jemanden schreiben, der eine Kunst beherrscht, welche die Leute beeinflussen kann und von bösen Mächten missbraucht wird. Das war am Anfang auch gar kein Koch und es ging auch nicht um Essen. Das war sehr theoretisch.

Was ist dann der Fundus aus dem Sie schöpfen, wenn Sie zum Beispiel eine Wohnung beschreiben?
Suter: Das sind 67 Jahre Lebenserfahrung. Es stimmt schon, dass ich mich als Person aus den Geschichten heraushalte, man kann das aber nicht total durchhalten. Ich sehe ja durch meine Augen und statte das Setting mit meinen Bildern aus.

Zitiert

Menschen sind käuflich, weil sie vom Geld abhängig sind.

Martin Suter

Was glauben Sie, wie realistisch ist die Verschwörung, die Sie in „Montecristo“ entwerfen?
Suter: Die Umstände und die Details sind realistisch genug, um sie als realistisch erscheinen zu lassen. Ob so etwas passieren könnte oder vielleicht passiert ist, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass die Realität in vielen Fällen die Fiktion übertrifft.

Glauben Sie an Verschwörungstheorien?
Suter: Kaum. Ich glaube zwar, dass uns nicht alles gesagt wird, dass es Geheimnisse gibt, die gepflegt und sorgfältig gehütet werden. Ich bin aber einigermaßen überzeugt, dass die Mondlandung stattgefunden hat. (lacht)

Ihre Figuren setzen sich auch mit dem Thema Korrumpierbarkeit auseinander, opfern Ideale, Werte und Normen, um ihre Ziele zu erreichen. In welchen Situationen sind Menschen käuflich?
Suter: Menschen sind käuflich, weil sie vom Geld abhängig sind. Die Frage, die sich stellt ist: Gibt es eine Größe eines möglichen Schadens, die das Aufgeben eines Ideals, unethisches Verhalten oder sogar ein Verbrechen rechtfertigt. Ich habe keine Antwort darauf, aber die Frage ist interessant.

In mehreren Ihrer Geschichten arbeiten die Protagonisten unter ihrem Niveau, sei es der tamilische Koch in „Der Koch“ oder der Videojournalist in „Montecristo“. Bleiben Sie auch manchmal hinter Ihren Möglichkeiten zurück?
Suter: Zum Beispiel im Militärdienst war ich völlig unterfordert (lacht) …

Körperlich oder geistig?
Suter: Beides (lacht). Nein, nein, körperlich war ich ziemlich gefordert. Da lernt man wirklich, wie blöd Menschen sein können.

Konnte man nicht verweigern?
Suter: Doch, man konnte verweigern, aber dann kam man ins Loch.

So restriktiv – und das bei einem neutralen Staat …
Suter: Ja, ein Staat, der seine Ideale hat und dann seine Jugend darin ausbildet, wie man jemanden mit einem Bajonett umlegt.
Später gab es auch Zeiten in der Werbung, wo ich hinter den literarischen Möglichkeiten zurückblieb, die Arbeit war manchmal sehr einfach. Es war nicht anders gewünscht.

Wären Sie ein unglücklicher Mensch, wenn Sie in der Werbung geblieben wären?
Suter: Ich habe es mit Spaß gemacht und habe immer gewusst, dass ich es nicht ewig machen werde. Aber ich habe nie eine Arbeit gemacht, die mich längerfristig unglücklich gemacht hätte. Ich könnte keinen Brotberuf ausüben, der mir keinen Spaß macht. Ich weiß, das ist ein Privileg. Viele Leute machen Jobs, die sie überhaupt nicht toll finden oder die sie unglücklich machen. Aber ich war jung in einer Zeit, in der man wenig Existenzängste haben musste. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich auch etwas anderes finden kann.

suter montecristoWelche Rolle spielte für Sie der Ehrgeiz, bedeutend zu sein mit der eigenen Tätigkeit?
Suter: Bedeutend weiß ich nicht. Aber ich würde immer versuchen, es so gut wie möglich zu machen. Sonst macht es ja keinen Spaß.

Aber wie wichtig ist Ihnen die Anerkennung? In der „Zeit“ behauptete 2011 ein Kritiker: „Suter kann nicht schreiben“. Trifft Sie so etwas?
Suter: Das hat mich schon geärgert. Da nützt es mir auch nichts, dass viel mehr Leute das Gegenteil sagen. Es war eine Boshaftigkeit, eine schlecht geschriebene Boshaftigkeit.

Der FAZ sagten Sie einmal: „Ich versuche jedes Mal ein Buch zu schreiben, das mir gut gefällt. Damit bin ich immer gut gefahren, weil ich offenbar selbst einen populären Geschmack habe.“ Fühlen Sie sich beim Massengeschmack wohl oder würden Sie lieber nur für zehn Menschen schreiben?
Suter: Ich habe keine schlaflosen Nächte, wenn mich mehr als zehn Leute lesen. (lacht) Aber ich weiß, dass es im Feuilleton die Meinung gibt, dass ein Buch gar nicht gut sein kann, wenn es so viele Leute lesen – was eine etwas menschenverachtende Einstellung ist. Ich glaube auch nicht, dass ungelesene Schriftsteller glücklich damit sind.

Ihr Buch „Montecristo“ vertritt die These, dass unabhängiger Journalismus an seine Grenzen gelangt, wenn nationale oder internationale Wirtschaftsinteressen berührt werden. Deckt sich das mit Ihrer privaten Sichtweise?
Suter: Ja, das hat man in vielen Konflikten und Kriegen gesehen. Im letzten Weltkrieg gab es eine Pressezensur Schweiz, in den amerikanischen Konflikten gibt es die ‚embedded journalists‘, die unter der Knute der Staatsräson sind.
Ich glaube aber auch, dass die Unabhängigkeit der Journalisten durch andere Dinge gefährdet ist: durch die Medienkrise, die Veränderung der Medienlandschaft, durch die Zusammenlegung von Verlagshäusern, die Konzentration mehrerer Redaktionen in einem Newsroom und durch die Verknappung des Angebots. Das macht einen natürlich viel abhängiger. Auch die Klickmanie hat den Journalisten Unabhängigkeit genommen. Man fängt an, die Themen und die Berichte danach auszuwählen, wie viele Klicks sie bringen.

Der Schweizer Autor, Politiker und Globalisierungskritiker Jean Ziegler sagte uns im Interview, aufgrund der Staatsnähe der Medien könne man in großen Schweizer Zeitungen keine Artikel über Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel publizieren.
Suter: Er wird das nicht so ohne Weiteres sagen. Ich weiß nicht, ob er meint, dass es von Staatswegen her unterdrückt wird. Ich habe eher das Gefühl, dass es sich schlecht verkaufen lässt. Ein Artikel, wie ihn Jean Ziegler erwähnt hat, hat wahrscheinlich weniger Aussicht auf Klicks und die Redaktionen denken: Das interessiert zu wenig Leute.

Ziegler wirft den Schweizer Banken unter anderem „Komplizenschaft“ mit afrikanischen Diktatoren vor und sagt: „Die Milliarden Fluchtkapital aus der Dritten Welt, die in den Kellern unter der Zürcher Bahnhofsstraße lagern – das alles ist Blutgeld.“ Würden Sie ihm widersprechen?
Suter: Ich widerspreche Ziegler eigentlich nur manchmal in der Überspitzung. Aber im Prinzip hat er natürlich Recht. Man hat es ja gerade gesehen: Die Bank HSBC hat offenbar nicht nur nicht gemerkt, dass das Geld, was von gewissen Leuten kommt, nicht ganz sauber ist, sondern sie haben es gezielt gesucht. Ich glaube, das haben die anderen Banken auch gemacht und machen es vielleicht immer noch.
Wir haben als Kinder schon darüber geredet, dass auf den Banken große Schätze von Holocaust-Opfern liegen. Davon ging man aus, nur die Banken haben so getan, als wenn es nicht so sei. Dann haben sie es zugeben müssen und auch Entschädigung dafür gezahlt. Ich weiß nicht, ob die Proportionen dabei gewahrt blieben oder ob sie nicht ein bisschen mehr hätten herausrücken müssen.

Die Frage ist ja auch, welchen Einfluss die Finanzbranche in der Schweiz hat. Ziegler bezeichnet die Schweizer Führungsschicht als „korrupte Herrschaftselite“. Wenn man den Entwicklungen Ihres Romanes „Montecristo“ folgt, könnte man zu einer ähnlichen Einschätzung kommen.
Suter: Mein Roman ist ja kein Sachbuch, wie die Bücher von Jean Ziegler, sondern Fiktion. Korrupt müsste man in diesem Fall auch genau definieren. Korrupt im Sinne von Spanien oder Guatemala – um die beiden Länder zu nennen, die ich kenne – ist die Schweizer Elite nicht. Aber man kann ja auch in anderer Form korrumpiert werden, in jeder Branche, das ist keine schweizerische Exklusivität. Ich glaube, dass Macht korrumpiert und dass die Inhaber der Macht entsprechend anfällig dafür sind.

Nun sagten Sie dem Tagesanzeiger in einem Interview: „Es ist brutal, wie viele Banker den Job verloren haben. Familienväter, die plötzlich keine Stelle mehr haben – und keine Aussicht auf eine neue.“ Wenn Ziegler Recht hat und das Geld in den Kellern Schweizer Banken wirklich „Blutgeld“ ist, ist es dann nicht durchaus verkraftbar, wenn ein paar Schweizer Banker ihren Job verlieren?
Suter: Die Banker, die ich meine, sind kaufmännische Angestellte, die überhaupt keine Macht haben. Diejenigen an der Spitze der Hierarchie meinte ich damit nicht. Es gibt solche, die einfach den Beruf gelernt haben, das war in der Schweiz ja auch ein ehrbarer Beruf: Man macht eine Lehre, dann war man Schalterbeamter, pflegte eine gute Kundenbeziehung und war im kleinen Rahmen eine angesehene Respektsperson. Und diese Leute verlieren dann ihren Job wegen Entscheidungen, die sie nicht beeinflussen können. Ich finde nicht, dass diese Leute für das Verhalten der Eliten bestraft werden müssen.

Hat sich das Ansehen des Berufs in der Schweiz inzwischen geändert?
Suter: Ja, das Image hat sich geändert. Das Wort ‚Banker‘ hat man in meiner Jugend gar nicht gesagt. ‚Banker‘, das kam mit der Finanzblase, mit der Euphorie der Trader und der Umkrempelung des Systems auf bloße Gewinnorientierung. Heute ist jeder Bankangestellte ein ‚Banker‘ – das ist nicht ganz gerecht. Das Berufsbild hat sich kaum geändert, aber das Ansehen nähert sich dem der Journalisten.

In Deutschland sorgen seit Monaten die Pegida-Proteste für Aufsehen und die Partei „Alternative für Deutschland“ verzeichnet hohen Zulauf. Knapp ein Viertel der Schweizer sind Ausländer, 24 Prozent aktuell – wie sieht das Verhältnis der Schweizer zu den Einwanderern aus?
Suter: Nicht so rosig. Es gibt zwar keine Pegida in der Schweiz, es gibt aber Parteien mit ähnlichen Ideen. Die Schweiz war immer ein offenes Land für Einwanderer, hatte aber immer auch diese anderen Bewegungen. Es kommt heute vor, dass man mit der Stammwählerschaft der rechten Parteien plus Menschen mit anderen Motiven eine Mehrheit basteln kann. Und wenn sie noch so winzig ist. Das führt dazu, dass zum Beispiel die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen wird oder die Minarettverbots-Initiative. Die Internationalisierung der Gesellschaft oder auch Europas hat absurderweise das Gegenteil bewirkt: Die Leute werden nationalistischer und schotten sich mehr ab.

Es beteiligten sich allerdings nur knapp über 50 Prozent an den Volksabstimmungen.
Suter: Das stimmt, aber diejenigen, die nicht mitstimmen sind genauso verantwortlich für das Resultat.

Sie haben sich mit Ihrer Familie nach langem Abwägen nun wieder für ein Leben in Zürich entschieden. Warum?
Suter: Wir waren 22 Jahre Auslandsschweizer und haben unser Leben in Guatemala und auf Ibiza auf dem Land verbracht. Wenn man Butter kaufen wollte musste man erstmal ins Auto steigen. Wir hatten vorher nie gedacht, dass uns die Kultur fehlen würde, da haben wir immer darüber gelacht. Aber dann haben wir plötzlich gedacht, dass es auf die alten Tage ganz angenehm wäre, ins Kino oder ins Theater zu gehen. Wir haben eine Tochter, die acht Jahre alt ist und Ballett liebt, sie liebt jede Form von Musik, auch Opern. Das sind alles Dinge, die wir ihr an diesen beiden Orten nicht bieten konnten, in Zürich hingegen schon. Dann ist die medizinische Infrastruktur ist in Ibiza und Guatemala nicht sehr beruhigend und auch die Bildung unserer Tochter war ein Thema. Sie hätte
eines Tagesin Guatemala City auf die Schule gehen müssen und ich sage es einmal nett: Guatemala City ist ein raues Pflaster.

Hat Sie Zürich nach Ihrer Rückkehr positiv überrascht?
Suter: Wir waren ein oder zweimal im Jahr in Zürich zu Besuch und haben gemerkt wie es sich verändert hat. Wir haben auch viele Freunde in Zürich, der Verlag, die Familie. Überraschungen gab es eigentlich nicht. Außer beim Autofahren: Die Schweizer hupen sehr schnell, wenn man nicht so fährt, wie sie es von einem erwarten.

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