Herr Grzegorczyk – wie fühlen Sie sich heute?
Grzegorczyk: Meine kleine Tochter war gerade mit mir auf dem Spielplatz schaukeln. Ich fühle mich gut.
Wie kamen Sie eigentlich auf die Idee, Ihren Roman „Wenn du schläfst“ in einem Krankenhaus spielen zu lassen?
Grzegorczyk: Kann beispielsweise eine Mutter den Verlust ihres Kindes dem Verantwortlichen verzeihen? Welch gigantischer Entwicklungsprozess wäre hier nötig? Welche zwischenmenschlichen Fragen sind bewegender und spannender, als die, denen der Verlust eines geliebten Menschen inne wohnt? Also habe ich mich weiter gefragt, bleibt unverzeihlich gleichbedeutend mit unverzeihlich, wenn sich Zwingendes ereignet und Einsicht zwingend macht? Und das ist es, was mich bewogen hat. Ein Entwicklungsroman, indem sich etwas bewegt. Wie der Zug, mit dem man in die Geschichte rein fährt. Dann Stop, Stillstand, Krankenbett. Schauplatz Krankenhaus: Die Charaktere können nicht davon laufen, sind ausgeliefert und die Gesichter hinter den Gesichtern werden transparent, ob es ihnen passt oder nicht. Im klassischen Entwicklungsroman schickt der Autor die Figur durch die Welt. Ich habe es nur umgekehrt gemacht und die Figur ist an einem Ort fixiert, was die Figur einschließt, Tür zu. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen. Aber die Welt kommt rein. Deswegen spielt auch immer wieder das Fenster eine große Rolle — Der Mond. Drinnen und draußen, innere Landschaft, äußere Landschaft.
Sie haben sich mit Eifer in die Recherche gestürzt, als Sie für ihren Roman in einem Krankenhaus hospitierten. Was für ein Klinikum war dies und auf welchen Stationen haben Sie die ärztliche Arbeit verfolgt?
Grzegorczyk: Eine Spezialklinik für Brandverletzungen mit exzellentem Ruf. Den Namen nenne ich nicht, Fachleute können sich an maximal zwei Finger abzählen, von welcher Klinik hier die Rede ist. Verbrennungsstation, Intensivstation, OP. Gerade als ich mir an den Kopf fasste und mich fragte, ob es wirklich klug war, offen zu legen, dass ich für ein Buch recherchieren möchte, gingen plötzlich alle Türen auf. Weißer Kittel, Stechschritt, 6.30 Uhr morgens. Ich sollte mich dieser einen Gruppe anschließen, also trottelte ich hinterher. Schleuse, alles ausziehen, grünes Outfit. Im Operationssaal hat man mich sehr freundlich begrüßt, mein Bewegungsradius wurde definiert und ein Stuhl wurde mir zugeteilt. Ich stand neben dem Stuhl, Blick zum OP-Tisch, ein Körper wurde geöffnet und nach drei Sekunden wusste ich, den Stuhl brauche ich nicht. Das war kein Mensch, der da geöffnet wurde, das war ein Körper und so ein Körper ist spektakulär. Punkt. Zugegeben, ich war ein bisschen stolz auf mich. Wobei sicher die professionelle Atmosphäre und der Teamgeist im Raum entscheidend waren. Das Radio läuft, man unterhält sich und arbeitet wie selbstverständlich auf höchstem Niveau. Ich dachte, wie gut muss man sein, um so gekonnt alles im Griff zu haben. So ist es also, wenn man etwas Anständiges gelernt hat. Mann, das ist schon was. Aber eine Frage hat mich natürlich noch lange beschäftigt, wo ist der Mensch, während der Körper auf dem OP-Tisch liegt?
Welche Erfahrungen konnten Sie dort fachlich wie persönlich gewinnen?
Grzegorczyk: Persönlicher Respekt sind die ersten beiden Worte, die ich an dieser Stelle nennen muss. Ich habe lange als Texter in der Werbung gearbeitet und mir oft gesagt, in meinem nächsten Leben mache ich es mir bequem und werde Gerüstbauer. Aber was diese Leute in einer solchen Klinik leisten ist unfassbar. Wir reden hier von höchster psychischer und physischer Belastbarkeit, von handwerklicher Präzision und von klarster Entscheidungskraft in jeder Sekunde abrufbar, ob überarbeitet oder nicht. Sehr beeindruckend. Von fachlicher Erfahrung kann wohl keine Rede sein. Aber die fachlichen Einblicke waren faszinierend. Lokaler Lappen, freier Lappen, Spalthaut – Netzmuster, Stanze, Wundsekret kann ablaufen, Inselbildung. Nur schon das Gebiet der Anästhesie ist ein eigenes Universum. Vollnarkose – Analgetikum, Hypnotikum – tiefer als jede Traumebene. Verdammt, was ist da? Und in der dritten Stufe die gezielte Muskelstilllegung, der quer gestreiften Skelettmuskulatur. Warum, ach so, Kehlkopfmuskulatur, Tubus kann gewaltfrei an den Stimmbändern vorbei eingeführt werden. Und das Herz ist schließlich auch ein Muskel, aber den bitte nicht lahm legen. Für den Profi ist das natürlich Alltag, aber den normal Sterblichen haut es um. Immer wieder habe ich nachgefragt, um restlos zu begreifen. Und das musste ich, denn fachspezifische Zusammenhänge müssen auch in einem Nicht-Sachbuch präzise transportiert werden, aber sie müssen sich eben anscheinend beiläufig in die Geschichte einpflegen und dürfen niemals erklärend wirken.
Wie war die Zusammenarbeit mit der Klinik? Wie reagierten Ärzteschaft und Pflegepersonal auf ihre Anwesenheit?
Grzegorczyk: Höflich und freundlich, aber bestimmt. Das unausgesprochene Gesetz war: Wenn du unsere Arbeit behinderst, setzen wir dich an die frische Luft. Hab mich wohl gefühlt, das waren beste Bedingungen, um konzentriert zu beobachten. Spezifische Fragen wurden grundsätzlich beantwortet, aber zum Rumquatschen hatte keiner Zeit. Perfekt. Ich spielte Mäuschen in einem laufenden Betrieb. Und nur darum geht es bei einer Recherche: Beobachten. Was jemand redet, ist oft sekundär, wichtig ist, wie verhält er sich, während er redet oder während er eben nicht redet. Nach diesen Momenten auf der Lauer liegen, macht das einen Einblick möglich.
Wie es scheint, gewannen Sie für Ihre minutiöse Beobachtung auch Kontakt zu den Patienten? Welche Krankheitsbilder hatten diese? Können Sie uns ihren Dialog mit den Patienten schildern?
Grzegorczyk: Da war zum Beispiel ein junger Kerl mit MS, Piercing im Gesicht und Teddy im Arm. Der hat sich sogar gefreut, wenn einer wie ich bei ihm vorbeischaute. Er hat mir immer und immer wieder seine Lebensgeschichte erzählt, aber das war keine Lebensgeschichte, das war eine Krankheitsgeschichte. Ich habe mich wiederholt erklärt und ihm gesagt, dass ich kein Arzt bin. Aber immer wieder hat er mich „Herr Doktor“ genannt. Die “Weiße-Kittel-Wirkung“ war enorm. So ein Klinikkomplex ist wie eine Kleinstadt und egal, wo ich in dieser Stadt auftauchte: Ich war unumstritten Arzt. Im Bistro oder am Kiosk kam ich sofort an die Reihe. Putzkolonnen putzten eifriger, wenn ich vorbeilief. “Kollegen“ grüßten, Schwestern lächelten, Patienten nickten mir zu oder ließen hastig ihre Zigarettenschachtel verschwinden und wer eilig davon schlich, hatte nichts gegen mich persönlich, ihm war einfach nur Bettruhe verordnet.
Das Thema Gesundheit und seine Kosten wird in Deutschland kontrovers diskutiert: Wie sähe ihrer Meinung nach ein gesundes Gesundheitswesen aus?
Grzegorczyk: Wer nicht gründlich informiert ist, darf natürlich auch eine Meinung haben, aber er sollte sie nicht unbedingt zum Besten geben. Und ich müsste viel gründlicher über das existierende Gesundheitswesen und über das angestrebte Gesundheitswesen informiert sein. Außerdem bin ich kein Politiker. Alles was ich an dieser Stelle äußern kann, ist ein naiver Wunsch. Wir brauchen einen Rat der Weißen mit Handlungsraum. Bestehend aus gewachsenen und auffallend kompetenten Persönlichkeiten, die auf ein erfülltes und erfolgreiches Leben zurückblicken. Vertrauenspersonen, weil sie persönliche Vorteile, Profilierung und Ruhm nicht mehr nötig haben und – was wichtiger ist – nie nötig hatten. Doch diese Persönlichkeiten gibt es, aber das führt jetzt zu weit…
Kamen Sie mit dem fertigen Romankonzept in die Klinik oder hat sich der Geschichte um Alex und seinen Bettnachbarn Clemens erst im Laufe der Hospitanz entwickelt?
Grzegorczyk: Ich kam mit zwei fertigen Konzepten in die Klinik und wusste aus Erfahrung, Konzepte sind immer gut genug, um sie wegzuwerfen. Aber worauf ich mich verlassen konnte, waren meine Vorstellungen von Gesichtsverpflanzung und Koma, die Potenzial garantierten. Die Idee mit dem Bettnachbarn entwickelte sich während einem Patientengespräch. Ich saß am Bett, unterhielt mich, während ich den schweigenden Bettnachbarn beobachtete und mich fragte, wie leben zwei so unterschiedliche Typen Bett an Bett, was ist das für eine Kommunikation. Der eine quatscht wie ein Wasserfall, der andere starrt an die Decke. Nun musste ich mir nur noch überlegen, wem verpasse ich eigentlich die Gesichtsverpflanzung, entschuldigen sie die Ausdrucksweise, aber solche Überlegungen müssen rücksichtslos angestellt werden, schließlich operiert man gerade am offenen Konzept. Der Bettnachbar Clemens war geboren.
Die Romanfigur Clemens ist Alex’ Antagonist in „Wenn Du schläfst“: Während Alex die Katharsis erfährt, produziert Clemens die Katastrophe. Was fehlte Clemens, um sein Schicksal rumzureißen: Liebe? Glaube? Hoffnung?
Grzegorczyk: Liebe! Glaube! Hoffnung! Könnte die simple Antwort sein. Aber Clemens hatte keine Chance, nicht mit diesem Gesicht, nicht bei seinem Reifegrat. Er hätte schon tendenziell erleuchtet sein müssen, um nicht vom Glauben abzufallen. Er wusste, selbst wenn er sich zum edelsten Charakter entwickeln würde, keine Frau würde ihn jemals begehren können. Lieben vielleicht, aber machen wir uns nichts vor, eine Liebe zwischen Mann und Frau, die nicht begehrt, ist keine Liebe, von der ein junger Mann träumt. Also Liebe nicht, Glaube nicht. Da stirbt jede Hoffnung.
Ist die Suche, auf der sich Alex zeitlebens befand, archetypisch für unsere Generation?
Grzegorczyk: Die Suche nach Liebe ist archetypisch für jede Generation.
Ihre Sprache erinnert an den schnellen Erzählstil angelsächsischer, speziell amerikanischer Autoren wie James Ellroy oder Raymond Chandler. Haben Sie da literarische Vorbilder oder ist Ihr rasanter Stil in Ihrer langjährigen Arbeit als Werbetexter begründet?
Grzegorczyk: Die Werbeagenturen waren sicher das beste Trainingslager. Man lernt das Weglassen, um den Rest dann wegzuwerfen. Ich bewundere Raymond Carver, Phillip Roth, John Updike, Thomas Mann und Thomas Bernhard aus den verschiedensten Gründen, aber ich habe keine Vorbilder.
Welche Art Literatur mögen sie besonders?
Grzegorczyk: Die, bei der ich etwas lernen kann, die ZEIT und die Bild-Zeitung zum Beispiel. Und Filme sind spätestens dann lehrreich, wenn man die Perspektive des Drehbuchautors einnimmt: „Magnolia“, „Night on Earth“ oder „Mucksmäuschenstill“ von Jan Henrik Stahlberg. Oder kennen sie den Kabarettist und Autor Josef Hader? Großartig!
Hat sich ihrer Meinung nach die deutsche Sprache, vor allem die schriftliche, in den letzten Jahren verändert? Wenn ja, durch welche Einflüsse?
Grzegorczyk: Wie heißt es so schön: Goethe war der letzte, der alle Worte kannte. Und seit dem geht es Berg ab.
Sie sind Mitglied im Forum Hamburger Autoren und Dozent an der Texterschmiede Hamburg. Welche Inhalte vermitteln Sie in diesen Einrichtungen?
Grzegorczyk: Im Forum vermittle ich gar nichts, das ist eine Autorengruppe und wir besprechen unsere Texte. Ich war bis Oktober 2006 Dozent an der Texterschmiede Hamburg und Dozent am Institut für Design Hamburg. Seit Oktober 2006 bin ich Dozent an der Frankfurter Akademie, Studiengang Kommunikations-Design. Ich unterrichte Soziologie – Kreatives Denken/Kontext Gesellschaft. Und im Kernfach Konzeption/Projektentwicklung. Aufgabenstellungen wie “Gestalten Sie ihren eigenen Grabstein“, machen die Auseinandersetzung mit sich und der Welt zwingend.
Kreativität, was ist das Ihrer Meinung nach?
Grzegorczyk: Kreativität ist der Moment, indem ein Mann und eine Frau ein Kind zeugen.
Der literarische Betrieb in Deutschland ist sehr komplex. Viele Autorengruppen, Verlage, Studiengänge, Bühnen und Foren bereichern und verwirren zugleich – was empfehlen Sie jungen Autorinnen und Autoren, um den Einstieg in die Bücherwelt zu finden und ihre Werke zu publizieren?
Grzegorczyk: Wer niemals eine Familie gründen will und immer nur für sich verantwortlich sein will, der hat die einzig wichtige Empfehlung begriffen.
Was zählt im Literaturbetrieb? Kontakte? Fleiß? Inhalte?
Grzegorczyk: Inhalte und Fleiß und dann kommen die Kontakte von alleine. Aber wenn die Inhalte nicht vermarktbar sind, nutzt der Fleiß wenig und Kontakte gibt es dann auch keine. Egal was einer kann. Pustekuchen. Wer schreibt, muss auch etwas zu erzählen haben, dass nicht nur eine Gruppe Intellektueller interessiert.
Muss ein Autor heute telegener bzw. „vermarktbarer“ sein, als es die Autorengeneration vor uns war?
Grzegorczyk: Muss nicht, aber wenn er schreiben kann und außerdem ansehnlich ist, wird ihn niemand diskriminieren. Außer, er riecht vielleicht.
Was hat sich für Sie persönlich seit Erscheinen ihres Romans verändert? Wie war die bisherige Reaktion auf „Wenn Du schläfst“?
Grzegorczyk: Plötzlich glauben alle, ich kann was. Und wenn ich etwas Dummes sage, dann nimmt das keiner mehr ernst. Plötzlich denkt man darüber nach, was passiert, wenn ich für morgen eine Regenwahrscheinlichkeit von 50 % garantiere. Über die bisherigen Reaktionen bin ich äußerst froh. Auch wenn so viel Lob wirklich gewöhnungsbedürftig ist. Leser, die beispielsweise in einer Klinik arbeiten, sind von der Patientenperspektive beeindruckt. Die kaufen mir nicht ab, dass ich das alles ausschließlich recherchiert haben will. Will ich doch gar nicht, natürlich war ich auch mal Patient in einem Krankenhaus. Krankenhaus hat eine psychologische Hemmschwelle: man will nicht krank sein. Aber wer das Buch gelesen hat, ist vom einmaligen Schauplatz für zwischenmenschliches begeistert.
Wie kamen Sie zum Kölner Buchverlag Tisch7?
Grzegorczyk: Auf Irrwegen. An dieser Stelle grüße ich herzlich meine Agentin in Berlin und besonders herzlich die Autorin und Literaturkritikerin Dorothea Dieckmann, aktueller Roman „Guantanamo“.
Warum eigentlich „Tisch7“?
Grzegorczyk: Ein kleiner, feiner Verlag, ich habe sofort ja gesagt. Der Name Tisch7 entstand, als man in einer Kneipe an einem Tisch saß, die Verlagsgründung beschloss und um die Rechnung bat. Da rief die eine Kellnerin der anderen zu: Machst du Tisch7?
Woran schreiben Sie im Moment?
Grzegorczyk: An einem Roman, der im Knast spielt. Ein Langzeitstrafenknast.
Wann und Wo finden ihre kommenden Lesungen statt?
Grzegorczyk: Ich mag es nicht, wenn viele Leute zu meinen Lesungen kommen. Aber ich bin im Radio zu hören, am 09. Februar, 23:00 Uhr, Sender EINSLIVE, die Sendung heißt Klubbing.
Herr Grzegorczyk, Vielen Dank für das Gespräch! Und bleiben Sie gesund!
Grzegorczyk: Na ja, ich bin gerne mal krank.
Klasse Buch
Kann ich nur empfehlen!