Matthew Herbert, seit einigen Jahren hört man Sie nicht nur im Umfeld der elektronischen Musik, sondern Sie spielen auch auf Jazz-Festivals, geben Workshops, arbeiten an der Oper. Ist Tanzmusik noch immer wichtig in Ihrem Leben?
Herbert: Ja, ich denke schon. Zuerst einmal ermöglichte sie mir, auszubrechen. Ich lebte damals in einem kleinen Dorf am Arsch der Welt, machte klassische Musik. Dance-Musik gab mir eine Stimme. Als ich dann 1996 meine ersten drei Platten mit elektronischer Musik veröffentlicht habe – als Herbert, Dr. Rockit und Wishmountain – innerhalb von sechs Monaten war ich auf dem Cover von fünf Magazinen, spielte in 30 Ländern. Und seitdem ging es nonstop. Insofern habe ich Dance-Musik viel zu verdanken, da habe ich meine ersten Erfahrungen gesammelt.
Aber besuchen Sie noch Clubs zum Tanzen?
Herbert: Nein. Das hat aber damit zu tun, dass ich etwa zwei Mal pro Monat im Club arbeite. Ich verbringe immer noch viel Zeit im Club, aber nicht zum reinen Vergnügen. Und wenn du ein alter Langweiler bist wie ich, mit jungen Kindern, dann willst du nicht bis spät aufbleiben. Außerdem brauchst du noch einen anderen Langweiler, der mitkommt. Also, das ist nicht mehr so wie mit 20.
Aber ich denke, es gibt immer noch viel Potential in Dance-Musik, das noch nicht ausgeschöpft wurde. Die Leute bewegen sich auch wenn du sehr komische Sachen mit komischen Geräuschen machst. Ich glaube, wir sind da noch nicht angekommen, sondern sind immer noch sehr konservativ. Es ist sogar konservativer geworden.
Wie würden Sie Ihre Tanzbewegungen beschreiben, als Sie noch in Clubs gingen?
Herbert: Hm, also, am Anfang war es schon ein großes Ding… Ich habe mein ganzes Leben die Engländer gesehen, wie schlecht sie tanzen. Und als ich auf meinen ersten richtigen Rave ging, 1989, tanzte jeder plötzlich sehr gut, synchron mit dem Beat. Das war aufregend, auf einmal eine Gruppe von Leuten im Rhythmus zu sehen. Das vergesse ich nicht, das Bild habe ich immer noch im Kopf. Ich habe mich gefragt: Wo waren diese Leute früher? Für mich war das eine gute Veränderung.
Interview mit Matthew Herbert in voller Länge
Was ist heute im Club anders als vor 20 Jahren?
Herbert: Ich denke, der Sound ist viel besser, aber auch viel schlechter geworden. Die Anlagen sind großartig heute, aber gleichzeitig ist der Klang, den wir damit hören, schlechter geworden. Ich hasse den Klang der Pioneer CD-Player in den Clubs, sie lassen all die Musik schrecklich klingen. Der Klang von Vinyl ist – mit dem richtigen Soundsystem, vielleicht mit einem Mixer von Urei oder Rane – immer noch ungeschlagen. Der Sound heute ist klarer, wir wollen aber auch nicht immer dieses Saubere, sondern manchmal auch ein Knacksen.
Dann gibt es außerdem viel mehr Werbung, Red Bull-Kühlschränke stehen heute wahrscheinlich in jedem Club, beleuchtete Logos…
Es gibt heute auch mehr Toleranz in Bezug auf Herkunft, Gender, Sexualität, jeder ist jetzt willkommen, es ist kein Aufreger mehr, wenn einer mal anders aussieht. Als ich anfing in Clubs zu gehen war das noch anders.
Und die Drogen haben sich geändert, in den 80er und 90er Jahren waren die meisten auf Ecstasy, heute sind die Leute auf allen möglichen Drogen. Manchmal hat man jemanden vorne auf der Tanzfläche, der auf seinem Trip „schneller, schneller“ ruft und harten Techno haben will, während daneben vielleicht eine Gruppe Frauen steht, die nur einen guten Drink und Vocal-House hören wollen. Wobei das jetzt etwas plump von mir klingt, ich will hier ja keine Geschlechter-Klischees bedienen, ich meine nur, dass verschiedene Leute eben verschiedene Sachen hören wollen.
Wenn Sie sagen, der Klang sei schlechter geworden, meinen Sie dann auch die Qualität der Produktionen damit?
Herbert: Ich bin nicht sicher, ob die Qualität zurückgegangen ist. Musik wird heute sehr sachkundig gemacht. Und ich finde es auch etwas gefährlich, zu nostalgisch zurück zu blicken. Das Gute war früher, dass es schwieriger war, Musik zu machen. Es war schwieriger, für seine Musik ein gutes Label, einen Vertrieb und Hörer zu finden. Dieser Kampf bedingt, dass die Musiker mehr einbringen müssen in den kreativen Prozess, sie müssen mit Tonmeistern arbeiten, sich Equipment ranschaffen, die Hardware lernen…. Heute, wenn du einen Laptop hast, kannst du ein Stück Musik in 25 Minuten fertig stellen. Das war damals unmöglich.
Die Musik selbst ist nicht schlechter geworden. Aber es gibt jetzt viel mehr von ihr, und einen Weg hindurch zu finden, ist richtig anstrengend.
Der Mangel an Ambition, der Mangel an Philosophie ist gefährlicher als die neuen Instrumente.
Diese Demokratisierung, also dass jeder mit seinem Laptop Musik machen kann, begrüßen Sie die?
Herbert: Defitiniv! Problematisch finde ich aber, dass es keine begleitende Philosophie hat. Deswegen habe ich manchmal das Gefühl, dass man Musik einfach macht, weil man es kann. Und das scheint für mich kein besonders aufregender Grund zu sein, Kunst zu kreieren. Ich mache mir immer Gedanken: Warum brauchen wir mehr Musik, warum soll dieses Werk existieren? Will ich etwas damit erreichen, oder ist es ein Wegwerfprodukt?
Sehr viel Dance-Musik verhält sich so als sei sie wegwerfbar, sie ist da für ein, zwei Wochen und danach ist sie wieder weg und wir hören etwas Anderes. Der Mangel an Ambition, der Mangel an Philosophie ist gefährlicher als die neuen Instrumente. Die sind fantastisch. Wobei man auch bei den Instrumenten aufpassen muss, denn sie bringen dich dazu, Dinge auf eine bestimmte Art und Weise zu machen. Das System nimmt deine Datei und sagt 120bpm, 4/4-Takt und sie wird in Blocks aufgeteilt. Dann sagt dir die Maschine: Wie wäre es mit einer Drum-Machine, mit einem Bass, mit einem Synthesizer, Kompressor, Equalizer… Das ist so, als würde dir das Klavier ständig sagen „spiel G-Moll und danach dies und dann das“. Dabei ist das Schöne am Klavier, dass du alles spielen kannst, es ist wie ein leeres Blatt Papier. Während dich Computer heutzutage ständig in eine bestimmte Richtung lenken.
Gerhard Behles, der die Software Ableton entwickelt, sagte uns im Gespräch: „Wir möchten dabei helfen, dass ein Musiker an einen Punkt kommt, wo irgendetwas fließt. Wo er etwas aus dem Lautsprecher bekommt, was ihm gefällt.“
Herbert: Ich denke, Ableton ist eine sehr kreative Software, wirklich genial. Aber ich denke, es besteht das gleiche philosophische Problem. Wenn Behles sagt, der Nutzer will etwas aus dem Lautsprecher hören, was ihm gefällt – das bedeutet doch sehr oft nur, dass die Leute hören wollen, was ihnen bekannt vorkommt, was „authentisch“ klingt, was wie ihre Idole, wie eine andere Platte klingt. Wenn man anfängt, Musik zu machen, ist das sehr verführerisch. Ich finde, es ist falsch, das zu wollen, weil du kannst eben sehr schnell klingen wie jemand anderes. Das provoziert gewissermaßen eine Wiederholung bestimmter Ideen, der Status Quo wird dadurch nicht herausgefordert.
Ich denke, dass Geschwindigkeit nicht immer gut sein muss. Einige der lohnenswertesten Projekte, bei denen ich dabei war, beinhalteten Kampf, Reibung, man musste erstmal rauskriegen, wie man es macht… Ich habe viel Geld für mein Tonstudio ausgegeben, ich war richtig besessen. Aber ich bevorzuge eigentlich immer noch den Sound meiner ersten Platten, die noch mit drei Geräten und zwei Kabeln aufgenommen wurden. Da gibt es etwas, was ich immer noch ansprechend finde, mehr als bei meinem heutigen Equipment, das hunderttausende Pfund gekostet hat.
Viele Künstler erzählen, dass Sie mit dem Alter milder werden. Ergeht es Ihnen ähnlich, oder ist Ihnen das Musikmachen und Ihre Musik-Konzepte noch immer sehr ernst?
Herbert: Ich weiß es nicht. Ich hoffe, ich bin nicht milder geworden. Mein Album von 2013 („The End of Silence“) entstand aus einer Bombe, die (in Libyen) explodierte, das ist schwierig zu hören und es ist schwierig solche Musik zu machen. Wenn überhaupt fühle ich mich heute radikaler, weil ich mir klarer darüber bin, wer ich bin. Wenn du jung bist, dann bist du… Ich erinnere mich, dass ich damals dachte, dass ich so aussehen oder mich so verhalten soll wie ein DJ, auch wenn ich nie ein DJ war. Ich war darin nicht geübt, aber plötzlich bekam ich lauter DJ-Gigs, war auf Tour mit Daft Punk und so… Da dachte, ich muss jetzt Platten kaufen, auf dem neuesten Stand sein. Ich wollte, dass die Leute alles mögen, was ich mache.
Dagegen bin ich heute viel mehr daran interessiert, neue Sachen zu hören, auch wenn niemand anders sie hören will. Ich will Musik aus Sachen machen, aus denen vorher noch nie jemand Musik gemacht hat. Ich habe inzwischen so viel Musik gehört. Wenn ich auflege, dann gehe ich ein bis zwei mal im Monat auf Beatport und höre die Veröffentlichungen des letzten Monats, das ist anstrengend, ich brauche zwei bis drei Stunden, ich höre 800 Tracks und finde dann drei Stücke, die ich mag. Das ist anstrengend. Nach Jahren und Jahren, die ich Musik höre … Das macht mich in gewisser Weise radikaler, dagegen anzukämpfen. Dagegen wenn du jung bist, willst du reinpassen und gemocht werden.
In einem Essay von 2010 haben Sie einmal die Frage aufgeworfen, was für Musik man kreieren sollte, angesichts der Tatsache, dass unsere Zeit auf dem Planeten nur begrenzt und „geliehen“ ist. Die Techno-Szene beantwortet diese Frage ja gerne mit: Das Leben ist kurz, also lasst uns Spaß haben.
Herbert: Ich denke, das ist ok. Musik ist nicht nur ernst, nicht nur politisch, sondern Musik ist vieles. Auch das Ausgehen ist vieles: Man feiert etwas, mit Freunden oder man geht in Clubs, um Dinge zu vergessen, sich selbst, die eigenen Probleme. Wenn es in Syrien einen Nachtclub gibt, werden die Leute dort sicher aus anderen Gründen hingegen als die Leute in den USA an einem Freitagabend.
Aber es kann im Leben nicht nur um Eskapismus gehen, oder Hedonismus. Natürlich kann es das, wenn du das so willst. Aber wenn du am nächsten Tag kein Essen auf dem Tisch hast, wenn du Kinder hast, es aber nicht hinbekommst, ihnen die Schuluniform zu kaufen… Wenn du älter wirst, gibt es solche Dinge, die dir dann wichtig werden. Wenn du Kinder hast, verändert das deine Wahrnehmung von vielen Dingen… Auszugehen kann viel Spaß machen, aber es ist nicht halb so viel Spaß wie ein kleines Kind, dass auf deinem Kopf herumspringt, um halb sechs in der Frühe. Selbst wenn du keinen Schlaf hattest.
Aber wenn wir über das Produzieren von Musik sprechen: Sie haben dafür ja ein Manifest geschrieben, mit dem Sie sich bei der Produktion strengen Regeln unterwerfen…
Herbert: Auf meiner neuen Platte („The Shakes“) habe ich das allerdings nicht benutzt. Das war sozusagen mein Sommerurlaub, diese Platte bin ich locker angegangen.
Das war ja meine Frage vorhin: Sind Sie heute entspannter?
Herbert: Also, ich weiß nicht. Von Natur aus bin ich ein Optimist und ich denke, wir können etwas verändern. Sonst würde ich Musik nicht auf diese Art und Weise machen. Aber ich denke auch, dass wir in große Schwierigkeiten kommen, wenn wir nicht aufhören… Volkswagen hört nicht auf, Autos zu bauen, Coca Cola hört nicht auf, ihre Brause in Milliarden von Dosen zu füllen. Wenn wir nicht aufhören Beef-Burger und all das zu essen, dann sind wir am Arsch.
Keine Frage, so ein Interview hier ist schön und gut, ich bin gerne hier, spreche auch gerne über meine Musik. Aber eigentlich ist das doch nur Staffage.
Das Leben sollte nicht nur ernst und schwer sein, aber wir haben wirklich große Probleme…
Das heißt, Ihr nächstes Album wird wieder ernster?
Herbert: Ja, sorry! (lacht) Nächstes Mal wird es wieder komisch. Das ist halt das, wozu ich mich verpflichtet fühle. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, mit Klängen zu arbeiten, mit denen die Leute in der Vergangenheit nicht arbeiten konnten. Insofern empfinde ich eine Verantwortung, das Beste aus dieser Möglichkeit zu machen. Auch wenn es bedeutet, dass ich Sachen mache, die die ich ansonsten vielleicht nicht machen würde.
Ist das Album „The Shakes“ mehr Entertainment als andere Alben von Ihnen?
Herbert: Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher, ob ich das Wort „Entertainment“ mag. Das müssen wahrscheinlich besser Sie entscheiden. Vielleicht können ein oder zwei Tracks als Entertainment gesehen werden. Aber auch wenn die Musik leichter ist, das Thema ist immer noch ernst.
Warum mögen Sie Entertainment nicht?
Herbert: Entertainment scheint mir Ablenkung zu sein, Ablenkung von den Dingen, die in der Realität passieren. Und es scheint mir Teil des Systems zu sein, das andere Probleme verursacht. Ich denke nicht, dass es ausreicht, wenn wir Dinge nur konsumieren. Das ist kein besonders effizienter Umgang mit den Ressourcen. Wenn man sich die Azteken anschaut, die Maya-Kultur, oder das Alte Rom, unglaubliche Zivilisationen, die alles hatten, alle Ressourcen – aber dann kollabierten sie. Und man fragt sich: Wie ist es möglich, dass sie erst an der Spitze der Entwicklung standen und dann in sehr kurzer Zeit kollabierten?
Wir sind heute in genau dieser Situation, wir haben ein System geschaffen, das sich nicht selbst erhalten kann – und es wird kollabieren. Es ist nicht die Frage, ob sondern nur wann. Wir werden in 100 Jahren nicht so leben können wie heute. Und die Frage ist, wie wir diesen Übergang bewältigen: Tun wir einfach so, als wäre es kein Problem, oder versuchen wir zu handeln?
Warum werden Sie dann nicht Politiker? Weil Sie glauben, dass Sie mit der Musik etwas verändern können?
Herbert: Definitiv. Ein Grund, warum ich immer noch Musiker bin, ist der, dass es nicht viele Menschen gibt, die politisch engagierte Musik machen. Manche tun es vielleicht mit Texten, aber nicht mit Klängen. Und auf der anderen Seite gibt es schon Millionen von Politikern. Und wenn ich daran glaube, etwas mit Musik verändern zu können, warum sollte ich es dann nicht tun?
Können Sie eine Situation nennen, wo Sie eine Auswirkung Ihrer politischen Musik-Konzepte bemerkt haben?
Herbert: Ich habe zum Beispiel das Album „Mechanics and Destruction“ gemacht, über Dinge, die ich nicht mag. Konsumenten, Hyper-Konsum, der amerikanische Turbokapitalismus, der nach Europa kommt… Ich habe Tracks mit Gap, Coca-Cola, Starbucks und Disney gemacht.
Und ich habe damit eine Live-Show beim Sonar-Festival gespielt. Ein Jahr später erzählte mir ein Zuschauer, dass er am Morgen nach der Show seinen Job bei Disney gekündigt hat.
Es kommen sehr oft Leute zu mir, die erzählen, dass es etwas bei ihnen verändert hat. Natürlich bin ich nicht die Ein-Mann-Flutwelle der politischen Veränderung. Aber genauso kann man fragen: Was bewirken die Millionen Zeitungsartikel, die täglich gedruckt werden? Oder wenn jemand ein Buch über den Genozid in Ruanda liest, was verändert das? – Es kann dein Bewusstsein verändern, und das ist schon viel wert.
Aber kann man sagen, es hat den Leuten in Ruanda geholfen, dass Sie jetzt ein bisschen mehr darüber wissen, was passiert ist? Insofern müssen wir glaube ich vorsichtig sein, mit so einer Erwartungshaltung.
Und, was auch wichtig ist, zu sagen: Wir reden über politische Musik, politische Handlungen, linke Politik. Aber es gibt auch viel rechte Musik: Mainstream-RnB, HipHop… Leute wie 50Cent verbreiten Botschaften wie: Benutze Gewalt gegen deine Feinde, betrachte heterosexuelle Frauen so und Homosexuelle so, mach‘ so viel Geld wie möglich, mach‘ aus dir eine Marke und ein Business – das sind die gleichen Botschaften wie von den Republikanern in den USA, die Agenda des rechten Flügels.
George Orwell sagt: Wenn du beschließt, dass deine Kunst nicht politisch ist, dann ist das auch eine politische Entscheidung. Wenn man also sieht, wie viel Popmusik es gibt, die gar nicht versucht, etwas zu verändern, weder formal noch inhaltlich, dann kann man davon ausgehen: Die sind mit dem Status Quo zufrieden.
Naomi Klein sagt in ihrem aktuellen Buch über den Klimawandel: Das Einzige, was wir tun müssen, um den Planeten zu zerstören, ist den Status Quo beizubehalten. Das heißt, nichts zu unternehmen, ist ein ein tiefgründig politischer Akt. Das ist sehr gefährlich, wir befinden uns in einer sehr brenzligen Lage. Insofern, ein politisches Statement von sich zu geben, ist nicht nicht die einzige mögliche Art, politisch zu sein.
Wir hören auf dem Album „The Shakes“ eine Kirchenorgel. Dabei war das Thema Religion bisher nicht so präsent in Ihrer Arbeit, oder? Abgesehen vielleicht vom Song „Pontificate“.
Herbert: „The Shakes“ ist gewissermaßen eine Generationen-Album, da steckten Dinge drin über meine Kinder, über das Klavier meines Großvaters, er spielte auch Orgel in sieben verschiedenen Kirchen. Die Orgel assoziiert man mit Veränderung: Geburt, Tod, eine Taufe, ein Familienereignis, ein Wendepunkt oder eine Erinnerung. Und es fühlt sich radikal an, wenn da im letzten Track eine Kirchenorgel zusammen mit einem 909 (Synthesizer) erklingt. Natürlich ist das nicht radikal, aber es ist eine lustige Kombination… Klar, wir assoziieren das mit Religion, aber für mich ist das eher die Verbindung zu bestimmten Familienereignissen und Veränderungen.
Würden Sie denn mal einen Track zum Thema Religion machen?
Herbert: Das ist ein sehr schwieriger Bereich. Weil Toleranz gegenüber Religion bedeutet, die Meinung anderer Leute zu respektieren, auch wenn du denkst, dass sie verrückt sind. Vorausgesetzt, dass sie niemanden verletzen.
Das ist eine schwierige Frage. Wenn man sich die letzten 100 Jahre anschaut und wie viele Menschen von Christen getötet wurden, das ist eine sehr große Zahl. Und wenn man sich die giftige Mischung aus Gewalt und Christentum in den USA anschaut, insbesondere beim rechten Flügel, dann sieht man wie gefährlich, brutal und schrecklich das ist. Im Kern hat es aber auch etwas sehr Profundes, religiös zu sein, zu glauben, dass es etwas Anderes, eine andere Kraft gibt, die die Welt bewegt. Das ist ein profunder menschlicher Impuls, egal ob es ein Urmensch ist, der den Donner anbetet, oder was auch immer.
Würden Sie einen Song über den Dschihad machen?
Herbert: Nein. Ich denke, das Thema ist zu komplex. Und ich denke auch nicht, dass die Art, wie das Thema heute dargestellt wird, passend ist. Zum Beispiel erfahren wir vom Horror, dass der IS Leute köpft. Aber in Saudi-Arabien werden Leute jeden Tag geköpft, und Saudi-Arabien bekommt von uns viel Geld und Waffen, während wir von Saudi-Arabien Öl bekommen.
Da gibt es viel Scheinheiligkeit, bei der Art und Weise, wie dieses Thema verhandelt wird. Die Enthauptungen von Menschen sind grausam, das ist unglaublich falsch, und ich würde Gewalt nie verteidigen. Gleichzeitig schicken die Amerikaner Drohnen und erschießen Menschen aus dem Himmel mit fliegenden Tötungsrobotern, ohne jede Form von Identifikation. Warum ist das besser? Nur weil wir das eine sehen können, bedeutet es nicht, dass das andere besser ist. Also, für mich gibt es da viel Missverständnisse und Heuchelei bei der Art und Weise, wie dieses Thema verhandelt wird.
Und ich finde auch, dass ich mit Dingen beginnen sollte, die vor meiner Haustür liegen. Und das ist meine Regierung, die sich schlecht benimmt, das sind die Adressaten, die ich zuerst ansprechen muss.
Zum Schluss noch ein ganz anderes Thema: Vor kurzem hat ein Musikfan eine Crowdfunding-Aktion zu Gunsten der Band The Winstons gestartet. Deren „Amen Break“ ist das vermutlich meist genutzte Drum-Sample, jedoch hat die Band hat dafür nie die entsprechenden Tantiemen erhalten. Würden Sie bei so einer Aktion spenden?
Herbert: Ich? Nein. Ich habe den Break nie benutzt.
OK. Aber wenn Sie ihn benutzt hätten?
Herbert: (überlegt lange) Ich weiß nicht. Spontan würde ich sagen: Ja. Aber man muss es auch im größeren Zusammenhang sehen: Wäre das der Beginn einer größeren politischen Bewegung, wo Leute anfangen, für Samples zu zahlen, die sie benutzt haben? Das wäre sehr aufregend. Ich wäre aber auch ein wenig misstrauisch.
Es klingt wie eine gute Idee und es wäre schön, wenn es Teil einer breiteren Bewegung ist, besonders für den Bereich Black Music. Es wurde ja häufig seltene, außergewöhnliche afro-amerikanische Musik gesamplet, viele der Musiker aber nie angemessen bezahlt. Während die Oper zum Beispiel, die samplet niemand, aber wir bezahlen sie trotzdem – durch unsere Steuern. Man hätte quasi legitim das Recht, etwas aus der Oper zu samplen, weil einem ein kleiner Teil davon gehört.
Also, es klingt wie eine gute Idee, aber man muss auch vorsichtig sein, denn Geld ist für bestimmte Probleme nicht die Lösung: Institutioneller Rassismus, Korruption oder wie Musik verbreitet wird.
Und der Open Source Gedanke? Wäre der „Amen Break“ damals nicht kostenlos herumgereicht worden, würde beispielsweise das Genre Drum’n’Bass heute vermutlich gar nicht existieren.
Herbert: Ich denke, es gibt viele Leute, die diesbezüglich moralisch wenig überzeugende Dinge äußern. Ich habe mal gehört, wie jemand in einer Diskussion sagte: Mir gehört die Musik von ZZ Top mehr als der Band selbst, weil ich sie viel öfter gehört habe.
Das eigentliche Probleme ist ja, dass Leute es dann selbst verkaufen. Sie beanspruchen für sich das moralische Recht auf das Samplen, verlangen dann aber Geld für ihre Produktion. Wenn die ihre Musik auf gleiche Weise hergeben würden, wie sie ein Sample nehmen, dann wäre es moralisch nicht mehr in diesem Graubereich. Aber in dem Moment, wo jemand selbst seine Musik dann verkauft, ist es für mich nicht überzeugend.
[Das Interview entstand im April 2015]