Matthias, herzlich willkommen bei Planet Interview!
Ihr beschäftigt euch also ausschließlich mit Interviews? Interessant. Sagt dir der Name André Müller was?
Gerade nicht.
André Müller war der berühmteste Interviewer Deutschlands, das kann man mit Sicherheit sagen. Eine Legende.
Werden Journalisten nicht vor allem legendär, wenn sie ihre Interviews frei erfunden haben?
André Müllers Interviews sind dadurch berühmt geworden, dass seine Interviewpartner im Nachhinein so verstört waren, dass sie versucht haben, ihre Veröffentlichung zu verbieten. Er hat mit Alice Schwarzer ein Interview geführt, dessen Abdruck sie komplett verboten hat. Mittlerweile ist das auch als Theaterstück herausgekommen. Es gab ein Interview mit Karl Lagerfeld, das nur geschwärzt abgedruckt werden durfte. Er hat eines der seltenen Interviews mit Gerhard Richter geführt. Auch das hat Richter verboten.
Aber Müllers Ruhm brachte es also mit sich, dass die Leute zu neugierig auf ihn wurden, um sich nicht interviewen zu lassen?
Ja. Er wurde in den 70ern durch Interviews mit Thomas Bernhard, Hans-Jürgen Syberberg und solchen Leuten zur Legende. Alle wussten, ein Interview mit ihm heißt, das geht ans Eingemachte. Das reizte bei vielen natürlich die Eitelkeit. Und er schaffte es immer, die Leute in ihren Abgründen, in ihren Widersprüchen zu packen. Auf so eine ganz sanfte, charmante, sehr sehr intelligente Art. Mit ganz überraschenden Volten in den Fragen. Die Dramaturgie in den Interviews ist auch unheimlich gut; er beruhigte kurz und kam dann von der Seite. Müller ist letztes Jahr gestorben und gerade ist sein letztes Buch mit seinen letzten Interviews herausgekommen. Das Alice Schwarzer-Gespräch gibt es nur auf seiner Homepage, als komplettes Transkript des vierstündigen Gespräches während dem Alice Schwarzer immer betrunkener wird. Das ist wirklich faszinierend.
Es gibt natürlich auch Interviewpartner, die im Nachhinein Teile des Interviews nicht freigeben, ohne dass sie beim Gespräch betrunken waren.
André Müller hat dieses Autorisieren nicht mitgemacht. Er musste nur unterschreiben, dass er nichts anderes drucken lässt, als das, was wörtlich gesagt wurde. Er hat dann manchmal natürlich trotzdem Sachen zusammengefasst. Wenn dann nur ein Halbsatz anders war, konnte Lagerfeld es sofort schwärzen.
Das heißt, Karl Lagerfeld hat sein Interview selbst mitgeschnitten?
Genau, und dann hat er das verglichen.
Beginnen möchte ich unser Interview mit einem Zitat: „Du sollst die Gefangen entbinden und die Freien bezwingen, du sollst das Wasser der Pein trinken und das Feuer der Liebe mit dem Holz der Tugend entzünden“…
Das ist aus dem Presseheft meines ersten Films „Requiem“…
… von 1987. Es würde als Leitmotiv allerdings auch gut zu deinem neuen Film „Gnade“ passen. Sieht du selbst eine Verbindung zu deinem Debütfilm?
Das kann sein. „Requiem“ entstand genau wie „Gnade“ aus der Idee heraus, einen Science-Fiction-Film machen zu wollen, also einen Film über ein Paralleluniversum, eine alternative Realität.
Allerdings geht es in „Gnade“ um ein nach Norwegen ausgewandertes Elternpaar, das durch eine tragisches Ereignis gezwungen wird, seine latente Beziehungskrise anzugehen. Das klingt nicht nach Science-Fiction.
Zuerst war diese Landschaft da, ganz hoch im Norden, auf der anderen Seite des Polarkreises. In dieser Landschaft wollte ich gerne so eine Art Ray-Bradbury-Mars-Chroniken-Film machen. Die Zivilisation erfindet sich woanders neu, auf einem neuen Planeten. In „Requiem“ war es so, dass alle todkrank sind. Es gibt überhaupt keine Gesunden mehr. Alle sind am Dahinsiechen. Das war so eine etwas David-Lynch-artige „Eraserhead“-Idee. Und in beiden Fällen… Vorhin hat mich jemand von der Süddeutschen gefragt, warum ich die Geschichte von „Gnade“ nicht so Andreas-Dresen-artig, ganz ehrlich, hier und heute erzählt habe. Ich stehe aber in keinem guten Kontakt mit dem Hier und Heute. Das finde ich anstrengend, nervig und langweilig.
Mich interessieren grundsätzlich Figuren, die mit sich selbst ringen und für sich anerkennen, dass sie schuldig werden.
Filme zu machen ist für dich vor allem Realitätsflucht?
Ja. Aber auf dieser Flucht nehme ich natürlich auch mein Gepäck mit. Mein Gepäck ist der Teil der Realität, an dem ich Anteil habe. Aber der erste Impuls ist immer: Ich will weg, woanders hin und dann dort eine Versuchsanordnung durchspielen und dadurch auch eine andere Freiheit im Erzählen haben. Ich will erfinden. Und das machen so wenige in Deutschland. Hier wird immer das Bescheidene, das Realistische gelobt, das, was sich an der Alltagswirklichkeit der Menschen orientiert…
Was ein wenig an das Kunstverständnis von DDR-Staatsorganen erinnert, die von Filmen ein "unverzerrtes Bild unserer Wirklichkeit" forderten.
Vielleicht ist das die Rache. (lacht) Und dann gibt es einen Film, wie "Das Leben der Anderen", der DDR-Geschichte nimmt, sie aber eindeutig erfindet und daraus ein Art Shakespeare-Drama macht. Das wurde ihm wahnsinnig übel genommen. Ich fand das gut, ich mochte den Film.
Zurück zu „Gnade“. Bei dem erwähnten tragischen Ereignis handelt es sich um einen Autounfall. Maria, gespielt von Birgit Minichmayr, fährt nachts ein Mädchen auf der Straße, begeht Fahrerflucht und versucht mit ihrem Mann (Jürgen Vogel) einen Weg zu finden, wie sie mit diesem Unglück umgehen. Warum heißt der Film nicht „Schuld“ oder „Gerechtigkeit“?
Weil diese Themen keine Auslöser für mich sind, eine Geschichte zu erzählen. An Gerechtigkeit glaube ich sowieso nicht. Mich interessiert auch nicht die Frage: Wer hat hier Schuld, und wer nicht? Mich interessieren grundsätzlich Figuren, die mit sich selbst ringen und für sich anerkennen, dass sie schuldig werden. Das ist für mich einfach kinematografisch interessant. Das sind Figuren, bei denen es eine große Fallhöhe gibt, in der das Drama steckt. Der Ausgangspunkt ist: Ich bin schuld. Was macht das mit mir? Diese Frage hat schon Robert Bresson in seinen Filmen beschäftigt. Oder auch jenen Minnesänger im 15. Jahrhundert, von dem der Text ursprünglich stammt, den du aus „Requiem“ zitiert hast.
Die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Schuld führt in „Gnade“ dazu, dass ein entfremdetes Paar wieder zueinander findet. Heißt das, je mehr wir versuchen, Risiken zu vermeiden, unschuldig zu bleiben und auf Nummer sicher zu gehen, desto beziehungsunfähiger werden wir?
Ohne Leid geht’s nicht. Das glaube ich absolut. Wir sehen in dem Film eine Familie, die nebeneinander her lebt. Sie machen sich was vor, um sich und den anderen nicht weh zu tun. Maria gibt die perfekte Krankenschwester. Niels vögelt ein bisschen rum, geht mit seinem Sohn mal fischen, hat aber ansonsten keinen Kontakt zu ihm. Er ist wie ein Alien. Erst nach einer halben Stunde sieht man diese Familie zum ersten Mal zusammen am Tisch. Nach dem Unfall sind sie nicht mehr in der Lage voreinander wegzulaufen. Sie müssen sich selbst angucken und merken, was sie für Stärken und Schwächen haben.
Maria wehrt sich zunächst gegen sich selbst.
Sie steht da auf der Terrasse und sagt zu ihrem Mann: Ich bin niemand, der jemanden anfahren würde und dann abhaut. „Ich bin nicht dieser Mensch.“ Aber das ist eben nicht wahr, das denkt sie nur. Sie ist eben auch dieser Mensch. Sie ist auch die Böse, nicht nur die Gute. Wir sind alle Täter und Opfer. Indem man das akzeptiert und sich spürt, auch in seinen Widersprüchen, ist man auch wieder in der Lage, Kontakt zu anderen aufzubauen. Es ist wie in dem Film „WALL·E“, den ich wirklich großartig finde. Da gibt es diese perfekte, satte Menschenwelt, in der alles wie geschmiert läuft. Aber plötzlich geht was kaputt und die Menschen sehen sich zum ersten Mal wieder an. Das ist eine ganz wahrhaftige Vision der Zukunft. Wenn du vor den anderen davon läufst, wirst du kalt und selbstgerecht. (Die Tür geht auf, Jürgen Vogel kommt herein und setzt sich dazu.)
Vogel: Lasst euch nicht stören.
„Gnade“ spielt in Hammerfest, rund um die Zeit der Polarnacht. Das heißt, es herrscht bisweilen stundenlange Morgenrotstimmung. Wirkt das nicht wie eine Überdosis Kitsch?
Glasner: Nein, über dieses tolle Naturspektakel wundert man sich jeden Tag wieder. Das ist ein echtes Geschenk.
Vogel: Das hat aber auch seine düstere Seite. Auch die Brutalität, das Menschenfeindliche dieser Natur ist dort spürbar. Es ist erschreckend, weil es real gefährlich ist. Wenn du mit dem Auto eine Panne hast und es kommt niemand vorbei, drohst du zu erfrieren. Bei Minus 20 Grad schaffst du es nicht ohne Wärmequelle. Das nimmt dir auch den Blick fürs Schöne. Du guckst da kurz hin und dann musst du dir auch schon wieder deine Mütze runterziehen.
Glasner: Du kannst das Gesicht nicht gegen den Wind stellen, der ist ja nochmal kälter. Und von zwei Uhr nachmittags bis zum nächsten Morgen um 9 ist es eben dunkel. Das ist auch für Schauspieler nicht gerade nett.
„Das Leben führt uns an die Orte, vor denen wir die meiste Angst haben“, heißt es in „Gnade“. Ist euch das auch schon passiert?
Glasner: Das passiert doch ständig. All unseren Vermeidungsstrategien zum Trotz sind wir uns ja der Tatsache bewusst, dass wir sterben müssen. Das kann man noch so sehr verdrängen, aber zum Tod treibt es uns eben hin. Deswegen schauen wir auf Autobahnen zu den Unfällen hin, wir lesen fasziniert über Selbstmorde in den Zeitungen. Wir sind fasziniert vom Tod, von der Gefahr, vom Dunklen. Das ist wohl unser Schicksal. Und mit dem kommt der eine besser klar, der andere weniger. Wir haben ja von den André Müller-Interviews gesprochen. Wenn man die liest, sieht man ja auch, wie viele der Erfolgreichen unglaublich schwermütig und unglücklich sind.
Vogel: Dabei kostet die Vermeidung von Angst im Endeffekt mehr Energie, als in sie reinzugehen und sie zu durchleben. Wir halten viel mehr aus, als wir denken. Je mehr wir vergeistigt leben und verkopft, desto weniger muten wir uns zu. Mutig ist man nur noch in der Fantasie, nicht in der Realität. Natürlich braucht man Jahre, um manche Dinge, die man erlebt hat, zu verarbeiten. Aber hätte man sie nicht erlebt, hätte man auch gar nicht die Chance gehabt, mit ihnen umzugehen. Fehler zu vermeiden raubt jedenfalls mehr Kraft, als sie zu leben.
Wie steht ihr in dem Kontext zur Abschaffung der Wehrpflicht bzw. des Zivildienst in Deutschland? Das war ja für einen jungen Menschen mit die erste Lebensphase wo man auch einem Risiko ausgesetzt war…
Vogel: Ich bin generell dafür, dass jeder junge Mensch ein soziales Jahr machen sollte, Männer wie Frauen. So einen Dienst an der Gesellschaft zu leisten, ist für die die Bildung deines Charakters, deiner Persönlichkeit auf jeden Fall gut.
Matthias, welche Erinnerungen hast du an deinen Zivildienst?
Glasner: Der war zweigeteilt. Eine Hälfte fand in einer Jugendherberge statt, mit vielen Abenteuern mit schwedischen Schwesternschülern, denen ich die Stadt gezeigt habe und das Nachtleben. Dann habe ich mich mit dem Herbergsvater geprügelt und musste in einem Altenheim Küchendienst machen. Das war nicht so schön. Aber allgemein stimme ich dem zu, was Jürgen gerade gesagt hat: Leidvermeidung ist der falsche Weg. Ich bin überzeugt davon, dass wir mit dem, was uns das Leben zumutet, auch umgehen können. Schließlich ist auch Luke Skywalker nicht daran zerbrochen, als Darth Vader „Ich bin dein Vater“ zu ihm gesagt hat.
Re: …
Das mit den Hausaufgaben und dem Anspruch und dem „immer wieder“ war ja allgemein auf Planet Interview gemünzt. Im konkreten Fall hättest Du da in der Vorbereitung natürlich nix machen können, war ja nicht Thema. Und wenn man’s nicht kennt, dann kennt man’s halt (noch) nicht. Dennoch: was Planet Interview oft fehlt, ist eben mehr André Müller: mehr Schneid, mehr Hinterfragen, mehr Dranbleiben, mehr Kanten. Traut Euch! Offen zu seinen Wissenlücken zu stehen, gehört da ja schon dazu ;-)
ich
gebe ilka recht. hat doch nix mit hausaufgaben zu tun. man sollte ihn als interview-heini halt kennen. und wenn nicht, seine eigene dummheit im text zumindest ein bissl besser verbergen. aber schön, dass ralf als autor stellung bezieht. könnt ja mal einen chat machen.
…
Hallo Florian, dass Du offenbar Freude an dieser Seite hast, freut. Kritische Leser erfreuen mich auch. Und ich würde mich noch mehr freuen, wenn die Kommentarfunktion öfter genutzt würde, um Lob und Kritik anzubringen, oder über Inhalte zu diskutieren, im gewissen Rahmen auch in jedem Ton, der einem angemessen erscheint. Daher frage ich aus Interesse nochmal zurück: Hätte es Eurer Meinung nach zu meinen Hausaufgaben im Zuge dieses Interviews gehört, mich im Vorfeld über André Müller zu informieren? (Obwohl das Thema „Interview“ ja nicht Thema dieses Interviews gewesen ist.) Und ist es ein Zeichen mangelden Anspruchs, wenn ich den (nicht so geplanten) Beginn dieses Interviews interessant genug fand, ihn auch zu veröffentlichen? Interessant für mich selbst, interessant für Leser, die Müller bisher auch noch nicht kannten und offenbar auch interessanter, im Sinne eines Aufregers, für Leser, die Müller sehr wohl kannten? Abgesehen von meiner Bildungslücke, fällt es mir irgendwie schwer, hier ein Problem zu sehen… Oder? :)
Wo sie Recht hat
hat sie Recht. Ich finde Planet Interview richtig klasse und lese die Gespräche regelmäßig. Dennoch: immer wieder hat man den Eindruck, daß jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht hat – oder einfach nicht anspruchsvoll genug ist! Allerdings muß diese Tatsache nicht gleich in so einem harschen Ton münden, wie ihn Ilka an den Tag legt ;-)
Don’t worry!
Hallo Ilka, wie man so schön sagt: Alt wie ne Kuh, lernt trotzdem dazu. Um das gute Licht aber wieder zurecht zu rücken: alle Planet-Interviewkollegen, denen ich im nachhinein davon erzählte, kannten André Müller. Trotzdem sehe ich keinen Grund, warum ich anderen, unter denen möglicherweise einige sein könnten, denen Müller ebenfalls nichts sagte, diese „Nachhilfe“ vorenthalten sollte…
Sorry
Aber, der erste Teil des Gesprächs wirft kein gutes Licht auf Planet Interview und den Interviewer. Denn: André Müller sollte man als Autor eines Interview-Portals schon kennen. Und wenn man ihn nicht kennt, sich zumindest den Teil, in dem der Interviewpartner dem Interviewer Nachhilfe gibt, nicht auch noch veröffentlichen.