Maxim Katz

Die Mehrheit der Russen befürwortet den Krieg nicht.

Bis zum Kriegsbeginn war Makism Katz viele Jahre in Russland politisch aktiv, unter anderem im Team von Alexej Nawalny und für die Partei Jabloko. Heute lebt er in Tel Aviv, von wo er einen der populärsten oppositionellen Youtube-Kanäle betreibt. Im Interview spricht Katz über Propaganda-Bemühungen Russlands, Wagner-Chef Prigoschin, "Knöpfchendrücker" in der Duma und seine Hoffnung auf die junge Generation.

Maxim Katz

© Maxim Katz

Das folgende Interview entstand im Mai 2023 in Tel Aviv. Es ist in gekürzter Form im „Neuen Deutschland“ erschienen und in russischer Sprache auf discours.io.

Herr Katz, hier in Tel Aviv bin ich gerade an folgendem Graffiti-Schriftzug vorbeigefahren: „Ihr könnt euch entscheiden, nicht hinzusehen, aber ihr könnt nicht sagen, ihr hättet es nicht gewusst“. Wie zutreffend ist das für Bürger in Russland?

Sicherlich gibt es Menschen, die sich entscheiden, ’nicht hinzuzusehen‘. Aber die meisten von ihnen tun das, weil sie keinen Einfluss nehmen können. Sie wissen, dass sie, wenn sie protestieren, ein großes Risiko eingehen – für sich selbst, für ihre Familien und für ihren Alltag, an den sie gewöhnt sind.
Die Menschen in Russland sind davon überzeugt, dass sie nichts tun können, dass es sinnlos ist, Widerstand zu leisten und wenn man es doch tut, wird man bestraft. So wird es den Russen sowohl durch die staatliche Propaganda eingebläut, zum Teil aber auch durch Sprecher der Opposition, aus der Ukraine, aus dem Westen.

Sie sehen ein falsches Narrativ auch auf westlicher Seite, in westlichen Medien?

Ja. Und nicht nur in den großen Medien. Wenn man zum Beispiel auf Twitter oder Facebook schreibt: „Lasst uns in Moskau gegen den Krieg demonstrieren“, dann antworten Ihnen Oppositionelle oder diese neue Kaste der Osteuropa-Experten, dass das völlig nutzlos ist, dass das russische Volk kaputt ist.

Doch die russischen Bürger haben eben nicht für eine Invasion in der Ukraine gestimmt.

Es gibt in Russland – das zeigen sogar staatliche Umfragen – etwa 30 Millionen Menschen, die gegen den Krieg sind, das sind 20 % der Bevölkerung. Das ist eine große Anzahl. Aber um diese Menschen davon zu überzeugen, dass sie eine winzige Minderheit sind, werden viele Anstrengungen unternommen, von beiden Seiten, wenn auch nicht absichtlich. Es sei sinnlos, zu versuchen, die Dinge in Russland zum Besseren zu wenden, weil das russische Volk den Krieg will – dieses Narrativ hat sich bei vielen Kommentatoren durchgesetzt.

Auch wenn es nicht der Realität entspricht.

Nein, die Fakten geben das überhaupt nicht her. Wenn Menschen in einem diktatorischen Regime leben, leisten sie oft keinen Widerstand, weil sie Angst haben, ins Gefängnis zu kommen. Aber die Menschen in Russland stehen auch nicht Schlange beim Einberufungsamt, sie gehen nicht zu Kundgebungen und rufen: „Hurra, wir zerschlagen die Ukraine!“ So etwas gibt es nicht.

Fuhren nicht zu Beginn des Krieges Autoparaden mit „Z“-Flaggen durch die Straßen?

Sehr wenige. Wir haben das untersucht: Ich habe 25 Leser in 20 verschiedenen Städten gebeten, von 1.000 Autos in ihrer Stadt die zu zählen, die einen Z-Aufkleber hatten. Das waren ein, zwei oder vier pro Tausend. In Belgorod waren es sechs, das sind weniger als 1 %. Vergleichen Sie das einmal mit der Haltung der Ukrainer.

Wie hat sich die Zustimmung zum Krieg in Russland seither verändert?

Das lässt sich nicht herausfinden. Das allgemeine Verhältnis ist mehr oder weniger klar, aber bei Umfragen haben die Leute Angst, zu antworten. Sicher ist, dass die große Mehrheit der Russen den Krieg nicht befürwortet. Sie sind vielleicht nicht aktiv dagegen, weil sie in einem diktatorischen Regime leben und Verfolgung fürchten. Aber sie sind ganz sicher nicht für den Krieg.
Und was wir jetzt, meines Erachtens zum ersten Mal, beobachten: Wenn zu Zeiten der Sowjetunion jemand über die Berliner Mauer sprang, wurde er auf der anderen Seite willkommen geheißen und bejubelt. Man war überzeugt, dass die sowjetische Regierung die Macht über das Volk erlangt hatte, falsch regierte und das nicht die Schuld des Volkes war.

Und heute…

bekommen Geflüchtete mitunter zu hören: „Geht zurück. Warum habt ihr die Regierung dort nicht gestürzt? Warum seid ihr zu uns gekommen? Verschwindet!“. Wer in Russland ist und den Krieg ablehnt, erlebt, dass er keine Freunde hat, sowohl die einen als auch die anderen sind gegen dich.
Dass Menschen bereit sind große Risiken einzugehen, haben wir 1991 und 1993 bei den Demonstrationen in Moskau gegen die Armee gesehen. Sie müssen dabei aber auch das Gefühl haben, dass sie Verbündete haben und dass ein Erfolg möglich ist. Wenn einem aber von allen Seiten gesagt wird, dass man allein und Protest sinnlos ist – dann schweigen die Menschen.

Zitiert

Im Moment gibt es Russland praktisch keine Politik, alles ist eingefroren.

Maxim Katz

Sie und viele weitere Oppositionelle kommentieren die Ereignisse in Russland inzwischen aus dem Ausland. Inwiefern können Sie das Geschehen in Ihrer Heimat noch beeinflussen?

Youtube, Telegram… die Art und Weise, wie die modernen Medien funktionieren, ermöglichen einem, hier genau so zu leben wie dort. Die Hälfte meiner Zuschauer kommt aus Russland, es werden auch immer mehr. Insofern habe ich nicht das Gefühl, von der russischen Realität abgekoppelt zu sein. Unser Team ist voll und ganz beim Geschehen in Russland, wir bleiben russische Politiker, auch wenn wir uns nicht in Russland befinden.

Das klingt nach wenig Veränderung, doch seit dem 24. Februar hat sich viel geändert. Sie haben ein großes Publikum, ja. Aber Ihr Einfluss?

Wenn wir über politischen Einfluss sprechen – den hat im Moment niemand, denn im Moment gibt es Russland praktisch keine Politik, alles ist eingefroren, ins Stocken geraten, es bewegt sich nichts. Lediglich diejenigen, die mit Putin in einem Raum sind, haben Einfluss, das sind die Einzigen, Minister zum Beispiel.

Und Einfluss auf die öffentliche Meinung, auf die Stimmung im Land?

Ich glaube, die Stimmung beeinflussen wir. Die Leute, die gegen den Krieg sind, sehen unsere Videos, sie merken, dass sie nicht die Einzigen sind. Wir versuchen eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, was auch ganz banale Äußerungen einschließt: dass man nicht in den Krieg zieht, nicht andere Städte bombardiert. Wenn wir diese Dinge aussprechen und so ein Video nach einem Tag eine Million Aufrufe und 15.000 Kommentare hat, von denen die allermeisten positiv sind, sehen die Menschen, dass sie nicht allein sind. Das ist meiner Meinung nach ein großer Einfluss – und für unser kleines Team kein kleiner Beitrag.

Sie waren in Russland politisch sehr aktiv. Wie schwierig ist es für Sie, nicht mehr im eigenen Land zu sein?

Es ist schwierig, ich habe gewisse Probleme damit. Dort hatte ich ständig zu tun, habe Wahlkampf gemacht, große Projekte geleitet – jetzt bin ich nur noch auf dem Bildschirm aktiv und schreibe Texte. Ich bin jetzt Kolumnist und als solcher populär. Es ist nicht die Rolle, die mir am besten gefällt, aber so ist das Leben nun mal. Wir leben, so gut wir können. Ich gehe zum Therapeuten, um klar zu kommen.

Sind Sie auch in Russland zum Therapeuten gegangen?

Ja. Dort allerdings war das notwendig, um nicht die ganze Zeit in Angst zu leben – Angst, weil sie jeden Moment an deine Tür klopfen können, um dich mitzunehmen. Du lebst ständig in dieser Ungewissheit. Egal bei welcher politischer Aktivität, ob wir jemanden ins Moskauer Stadtparlament brachten, oder in die Versammlungen der Stadtbezirke – es war immer klar, dass wir im Rachen des Krokodils sitzen, welches plötzlich zuschnappen kann.

Was hat Ihnen der Psychologe gesagt?

Wir haben lange daran gearbeitet. Irgendwie habe ich mich dann daran gewöhnt, damit zu leben. Hier in Israel gehe ich aber aus einem anderen Grund zum Therapeuten. Ich langweile mich hier.

Sie drehen doch jeden Tag Videos.

Ja, aber das reicht mir nicht. Mir gefällt es, an großen Projekten zu arbeiten, mit vielen Menschen. Ich studiere hier an der Universität, versuche, mich irgendwie zu beschäftigen.

Hatten Sie jemals den Gedanken, Russland komplett den Rücken zu kehren und sich anderen Dingen zu widmen?

Nein, nie. Ich beschäftige mich gerne mit Russland. Ich habe dort ein Publikum, Unterstützer, bin dort geboren und aufgewachsen. Ich wünsche mir, dass es ein normales Land wird und denke, dass ich etwas bewirken kann.

Was ist jetzt mit dem Krokodil? Russland hat Sie im letztem Jahr auf eine internationalen Fahndungsliste gesetzt.

Ja, das Krokodil klappert mit dem Maul, aber ich bin nicht mehr da. Und es ist offensichtlich, dass mich niemand nach Russland ausliefern wird. Nicht Europa, nicht Israel. Ich reise auch nicht in Länder, die mich ausliefern würden.

Aber inwieweit leben Journalisten wie Sie oder Ihr prominenter Kollege Juri Dud auch im Ausland gefährlich?

Risiken gibt es immer. Aber verglichen mit den Gefahren, mit denen wir in Moskau gelebt haben, ist das hier wie ein Kurort. Ich fühle mich in Israel natürlich viel sicherer.

Sie müssen sich auf der Straße nicht ständig umschauen…

Nein, nein. In Moskau dagegen die ganze Zeit. Da wurdest du regelmäßig verfolgt.

Eine einflussreiche Publizistin, die in Russland verblieben ist, ist Xenija Sobtschak. In ihren Kanälen findet sich auch regierungskritisches Material – doch von der Regierung wird sie nicht sanktioniert.

Sie ist die Tochter von Anatoli Sobtschak, Putins politischer Ziehvater. Meiner Meinung nach nutzt sie ihre Position gut aus, sie veröffentlicht Material, welches die Situation adäquat beschreibt. Sie schreibt keinen Blödsinn, sie verbreitet keine Propaganda, sondern bewahrt ihre Unabhängigkeit und sitzt in Moskau. Viele Leute reden schlecht über sie – ich nicht, ich schätze sie.

Wird sie denn nicht sanktioniert, weil Putin ihr Patenonkel ist?

Das mit der Patenschaft ist, soweit ich weiß, nur ein Gerücht. Aber Putin kennt sie, seit sie ein kleines Kind war. Sie war die Tochter seines Chefs, er hat sie zu Hause aufwachsen sehen. Er wird sie nicht verhaften lassen, das ist allen klar. Und ich finde es beachtlich, wie sie diesen Status nutzt: sie hätte ja längst Leiterin eines Staatsunternehmens sein können, etwa eines Fernsehsenders – in Russland stünden ihr alle Wege offen. Aber sie hat sich entschieden, unabhängige Journalistin zu sein, davor habe ich Respekt.

Seit Beginn des Krieges ist eine große Zahl russischer Emigranten in Israel angekommen. Viele fragen sich, wie gefährlich es im Moment ist, nach Hause zurückzukehren.

Wenn man nicht politisch aktiv ist, scheint mir im Moment eine Reise nach Russland nicht als akut gefährlich. Für Frauen und Männer, die nicht wehrpflichtig, also älter als 27 Jahre sind, besteht meiner Meinung nach kein großes Risiko. Auch Mitarbeiter aus meinem Team sind zwischenzeitlich heimgereist und es ist nichts passiert. Wobei wir schon nervös sind, wenn Kollegen nach Russland reisen.

Sie sprechen vom Einberufungsalter von 27 Jahren, aber auch ältere Menschen werden willkürlich eingezogen, oder?

Natürlich kann das passieren, angesichts der Mobilisierung ist nichts sicher. Und sofern man die Möglichkeit hat, ist es besser, sich nicht in Russland aufzuhalten. Aber die hat nicht jeder. Wenn man das Leben dort betrachtet, muss man zum Beispiel auf die Kinder achten, die zur Schule gehen, dass sie nicht unter den Einfluss der Propaganda geraten.

Israel hat im April angekündigt, das Aufnahmeprogramm für jüdische Russen einzuschränken. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Das halte ich für nicht dramatisch. Denn sie haben nur das ‚Notrückführungsprogramm‘ gestrichen (welches zu Beginn des Krieges eingeführt wurde). Man kann immer noch einen Antrag stellen und kommen. Israel nimmt weiterhin Menschen mit jüdischen Wurzeln auf, in dieser Hinsicht ist alles in Ordnung, da gibt es keine Tendenz, Menschen aus Russland nicht aufzunehmen.

Führen Sie mitunter noch Gespräche mit Bekannten, die in Russland sind und die Invasion unterstützen?

Nein, unter meinen Bekannten gibt es niemand, der das unterstützt. Vor etwa fünf Monaten hatte ich ein Gespräch mit einem entfernten Verwandten. Er war zu Besuch, fing an zu erzählen, dass er die Invasion befürwortet… Ich glaube, am Ende konnte ich ihn umstimmen, aber vielleicht wollte er einfach nicht mit mir streiten.
Im Großen und Ganzen zeigt sich da eine Haltung wie beim Schauspieler Oskar Kutschera im Interview mit Juri Dud: die Argumentation ist nicht logisch, sondern konformistisch. Kutschera will einfach normal leben, nicht mit dem Staat in Konflikt geraten, sich mit seiner Familie, seiner Arbeit, seinem Leben beschäftigen. ‚Wenn die Regierung sagt, ich muss jetzt so denken, dann werde ich das tun. Und wenn morgen andere an die Macht kommen und fordern, dass ich umdenke, dann werde ich denen zustimmen.‘

Es gibt auch Menschen in Deutschland, die Russland nicht als Aggressor sehen, die glauben, dass die USA diesen Krieg verursacht haben. Was sagen Sie zu diesen Menschen?

Ich kann ihnen eine Menge Argumente liefern, die sind in meinen Videos zu sehen.
Mit am überzeugendsten ist es, wenn wir zeigen, wie die Menschen vor dem Krieg in ukrainischen Städten gelebt haben, in Mariupol oder Bachmut. Wir schauen uns alte Berichte von Schulen an: Welche Gedichte haben Kinder dort gelesen, welche Feiertage haben sie gefeiert usw. Oder wer war im Ort Bürgermeister, welche Parteien gab es… – und es stellt sich raus, dass sie alle Russisch sprachen, die Website der Stadtverwaltung auf Russisch war, die Kinder auf Russisch unterrichtet wurden. Es gab keine Probleme oder Diskriminierung, geschweige denn einen Völkermord. Das erklären und zeigen wir.

Das glaubt vielleicht nicht jeder.

Wer uns nicht glaubt kann sich selbst die Fakten anschauen, die kann jeder im Netz finden. Es gibt Material aus der Zeit vor dem Krieg, zum Beispiel darüber, wie sie den 9. Mai gefeiert haben, wo die Veteranen kamen, wo viele Denkmäler gepflegter waren als in russischen Städten. Alles war normal, da ist nichts Schlimmes passiert.
Und dann zeigen wir Aufnahmen von den zerstörten Städten und fragen: „Ist das eine Befreiung?“ Die Menschen sprachen Russisch, lebten friedlich – bis unsere Armee kam. Solche Videos funktionieren, sie eröffnen die Diskussion.
Dabei muss man aber auch denen, die den Krieg befürworten, menschlich gegenübertreten und sie nicht wie einen Feind oder Dummkopf behandeln. Ja, sie haben eine andere Einstellung, sie sind der Propaganda erlegen und können mitunter schreckliche Dinge rechtfertigen. Aber sie verfügen genauso über ein Wertesystem, das ermöglicht, sie von etwas Anderem zu überzeugen. Wir müssen das mit Respekt tun, egal ob uns ihre Position gefällt oder nicht.

Was halten Sie von Journalisten, die für die staatlichen russischen Agenturen arbeiten?

RIA Novosti, zum Beispiel: das sind für mich keine Journalisten, sondern Propagandisten.
Wenn wir uns privat unterhalten würden, würde sich vermutlich zeigen: Entweder ist die Person wirklich ein fanatischer Regierungsunterstützer, was ich für unwahrscheinlich halte. Wahrscheinlicher ist, dass derjenige sagt: ‚Ich habe eine Hypothek, ein Gehalt – was sie mich sagen lassen, das sage ich auch. Ich bin kein richtiger Journalist, ich verstehe, dass das alles Blödsinn ist, aber ich bin im Dienst.‘ Das ist noch so eine sowjetische Angewohnheit, dass die eigenen Aussagen nicht mit dem übereinstimmen müssen, was man denkt.

Herrscht unter diesen Journalisten das Verständnis, dass sie den Staat unterstützen sollten?

Unter jenen Agenturjournlisten – ja. Alle, die dieses Verständnis nicht hatten, wurden vor langer Zeit rausgeschmissen. RIA Novosti war ja bis 2011/2012 noch normal, aber dann wurden alle, die ‚dagegen‘ waren, rausgeschmissen und mit Mitarbeitern ersetzt, die ‚dafür sind, oder es zumindest behaupten.

Wer sind, neben Journalisten, Ihre Informationsquellen in Russland?

Alle möglichen Leute, die mit der Regierung in Verbindung stehen. Manche sprechen direkt mit mir, manche indirekt. Die sehen ja alle meinen Kanal, man hat mir gesagt, dass sogar Putins Pressesprecher Peskow meine Videos anschaut. Mich kontaktieren auch welche in leitenden Positionen, manche anonym, andere kommen direkt zu mir und treffen mich.
Manchmal wollen sie etwas mitteilen, allerdings veröffentlichen wir keine Insiderinformationen. Uns hilft das lediglich, um zu verstehen, in welche Richtung wir recherchieren müssen.

Was hören Sie denn aus Russland: Gibt es Hinweise darauf, dass Putin in seinem Umfeld an Rückhalt verliert?

Nein, alle sagen, dass er fest im Sattel sitzt. Aber was passieren wird, wenn die Ukraine eine Gegenoffensive startet, kann niemand sagen. Und was auch allen Sorgen bereitet, sind die Präsidentschaftswahlen. Das ist sehr ernst für Putin persönlich und für das ganze System.

Was bedeutet es denn, wenn der Chef der Wagner-Söldner Prigoschin in einem Video vom „alten Opa“ spricht und damit sehr wahrscheinlich Putin meint?

Das bedeutet, dass man beschlossen hat, Prigoschin abzuservieren. Wenn er sich öffentlich so äußert, ist das ein Zeichen dafür, dass man ihm intern nicht mehr zuhört. Also verschafft er sich durch solche Videos Gehör.
Die Sache mit Prigoschin deutet aber nicht auf Probleme in Putins engstem Kreis hin – wenngleich es die natürlich geben kann. Die Zeiten sind jetzt für Putin turbulenter, Dinge könnten sich in die falsche Richtung entwickeln. Wie sich das alles entwickeln wird, wissen wir nicht, aber vermutlich wird ein Wandel abrupt geschehen. So wie die Sowjetunion zusammengebrochen ist: Boom und weg war sie.

Warum hört man im Moment nichts mehr von Oligarchen wie Roman Abramowitsch?

Was sollen die tun? Aufstehen und sagen: „Ich bin gegen Putin“?
Putins Eliten – Abramowitsch, Fridman usw – mögen nicht wirklich, was vor sich geht. Aber wenn sie sich jetzt gegen Putin wenden… Die haben Unternehmen, Familien, Angestellte in Russland, das sind viele potenzielle Geiseln.

Sie sind also alle in so hohem Maße abhängig von Putin, dass sie nichts ausrichten können?

Ja. Reiche Menschen sind oft sehr abhängig.

Im Internet wurden abgehörte Telefonate russischer Geschäftmänner veröffentlicht, wie von Iosif Prigozhin, Farhad Akhmedov, Roman Trotsenko und Nikolai Matoushevsky, die darin viel Kritik äußern. Ist das exemplarisch für die Oligarchen?

Ja, aus dem, was da aufgetaucht ist, können wir entnehmen, wie einige über die derzeitige Situation denken. Sie können es nur nicht öffentlich so sagen.

Welche Hoffnung setzen Sie auf die jüngere Generation? Diejenigen, die jetzt 12, 20, 25 Jahre alt sind.

Umfragen zeigen, dass die Jüngeren viel vernünftigere Ansichten haben. Sie schauen in Richtung Westen, auf Europa. Sie wollen eine vernünftige Regierung, eine Art normale moderne Demokratie in ihrem Land. Da bin ich optimistisch – nicht heute, aber in etwa 20 Jahren, in dem Moment, wo diese Menschen anfangen, Entscheidungen für das Land zu treffen.

Werden sie nicht durch Propaganda beeinflusst, zum Beispiel in der Schule?

Nein, die neuen Propaganda-Anstrengungen in der Schule sind eher lächerlich, da sehe ich keine Auswirkungen. Die Lehrer wollen das auch alles nicht. In der neu eingeführten Unterrichtseinheit „Gespräche über das Wesentliche“ sprechen sie jetzt über historische Figuren wie Iwan Sussanin… Nein, die Situation ist sehr weit davon entfernt, dass die Schüler jetzt alle zu kleinen Sturmführen erzogen werden. Außerdem: Die jungen Leute gucken kein Fernsehen, sondern informieren sich im Internet…

wo es ebenfalls Propaganda-Kanäle gibt.

Der Einfluss im Netz ist aber viel schwächer, denn dort existiert ein Wettbewerb der Ideen. Im Gegensatz zum russischen Fernsehen, wo es nur ein Monopol gibt.

Vor dem Krieg gab es verschiedene Formate des Dialogs zwischen Russland und Deutschland. Wie kann heute ein Dialog mit der russischen Bevölkerung stattfinden?

Ich sehe nicht, wie man den im Moment organisieren könnte, Dinge wie etwa ein Studenten-Austausch sind heute schlicht unmöglich.
Möglich sind Medienangebote. Wobei man aber beachten muss, dass Russen sich am liebsten Russen anschauen. Ich werde oft von Europäern gefragt: ‚Wie können wir einen Fernseh- oder Youtube-Kanal für Russland aufbauen?‘ Ich antworte dann, dass sie besser denjenigen Russen helfen sollten, die im Ausland sind und bereits gute Inhalte produzieren. Nicht-Russische Journalisten finden in der Regel kein so großes Publikum.
Was ich außerdem für sehr wichtig halte: Zu Beginn des Krieges wollte eine große Anzahl von Russen ausreisen. Viele Länder nahmen sie auf, doch dann gab es immer mehr Einreiseverbote. In Russland bekam man das Gefühl, dass man nirgendwo mehr hin kann, vor allem als die baltischen Staaten und Finnland ihre Grenzen schlossen. Die Menschen begannen zu glauben, sie könnten nicht mehr weg aus Russland.
Ich fände es großartig, wenn Europa die Botschaft aussenden könnte: Wenn ihr gegen den Krieg seid, seid ihr willkommen.

Was halten Sie von dem Video, mit dem sich Arnold Schwarzenegger 2022 an die Russen gewandt hat?

Das war sehr gut, weil es aufrichtig und respektvoll war. Schwarzenegger hat nicht gesagt hat: „Ihr seid alle schlimm, man sollte euch alle…“. Er hat sich nicht als moralisch überlegen dargestellt, wie es oft der Fall ist, wenn von Europa aus Moralpredigten gen Russland gehalten werden. Und das hatte eine enorme Wirkung, denn die Leute kennen ihn seit den 90er Jahren und haben ihm jetzt zugehört. Es hat diejenigen unterstützt, die gegen den Krieg sind – und die Befürworter hat es zum Nachdenken gebracht.

© Maxim Katz

Im Jahr 2012 kandidierten Sie im Moskauer Bezirk Schtschukino für die Stadtverordnetenversammlung. Würden Sie in Zukunft, wenn die politische Lage es zulässt, wieder bei Wahlen in Russland kandidieren?

Ja, ich werde als Kandidat antreten. Mein Ziel ist es, zum Bürgermeister von Moskau gewählt zu werden. Wobei mir im Moment wichtiger erscheint, eine liberale Partei in Russland zu gründen, dazu habe ich auch Möglichkeiten. Diese wird etwas bewirken, sie wird groß und gut sein.

Sie sind von Beruf auch Stadtplaner. Könnten Sie als solcher möglicherweise mehr für die Gesellschaft tun?

Nein… Aber ich möchte auch solche Dinge natürlich verstehen. Hier an der Universität bin ich jetzt zum Beispiel an der Fakultät, wo israelische Schuldirektoren ausgebildet werden. Ich interessiere mich dafür, wie das Bildungssystem funktioniert, damit ich es später in Russland besser machen kann. Ähnlich sehe ich das bei der Stadtplanung. Nur ist Stadtplanung im Moment nicht das größte Problem, das Russland hat.

In Russland wurden in den letzten Monaten viele repressive Gesetze erlassen. Wie erklären Sie, dass die Duma diese immer wieder einstimmig verabschiedet hat?

Die Duma ist halt kein echtes Parlament, es sitzt dort keine einzige Person, die unabhängig ist.

Ist das so einfach zu erklären?

Ja. Das sind keine echten Abgeordneten. Menschen, die in europäischen, westlichen Demokratien leben, denken, dass ein Abgeordneter eine eigene Meinung und Position hat, auch wenn er einer bestimmten Partei angehört. Das ist hier nicht der Fall, sondern in die Duma kommen nur ‚Knöpfchendrücker‘: Leute, die bei den Abstimmungen den richtigen Knopf drücken. Das ist ihre einzige Aufgabe.

Sie stimmen für Gesetze, von denen sie wissen, dass sie die Bevölkerung schikanieren werden.

Ja, aber sie glauben nicht, dass sie irgendeinen Einfluss haben. Sie werden dort eingesetzt, um für das richtige Abstimmungsergebnis zu sorgen. Ich entschuldige das nicht, ich erkläre Ihnen nur den Mechanismus. Die Mitglieder der Duma glauben nicht, dass sie dort irgendetwas bestimmen können.

Aber auch sie werden letztlich gewählt...

Sie alle wissen, dass sie nicht wirklich gewählt wurden. Sondern es werden große Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass es keinen einzigen Abgeordneten gibt, der etwas Falsches sagen könnte. Solche Abgeordnete gibt es nicht.

Von der Jabloko-Partei , für die Sie einst kandidierten, sitzt heute niemand in der Duma…

Nein. Abgeordnete von Jabloko würden nicht schweigen – egal welchen Druck man auf sie ausüben würde.

Welche Rolle wird Alexei Nawalny spielen, sollte er eines Tages in die Politik zurückzukehren?

Das hängt davon ab, in welchem Zustand er aus dem Gefängnis kommt und ob er überhaupt entlassen wird. Sollte er in guter Verfassung freikommen, wird er eine wichtige Rolle spielen.

Sehr viele Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft haben Russland verlassen, Künstler, Musiker, Professoren. Machen Sie sich Sorgen um die Intelligenzija in Russland? Sie werden nicht alle sofort zurückkommen.

Auch in den 90er Jahren sind viele ausgewandert und dennoch hat sich die Situation schnell wieder normalisiert. Ich glaube, dass diesbezüglich in Russland alles in Ordnung sein wird. Es wird gebildete Menschen geben, viele Hochqualifizierte – auch wenn der Staat selbst es nicht fördert.

Aber es sind viele Hunderttausende, die seit Kriegsbeginn das Land verlassen haben.

In den 90ern waren es mehrere Millionen – und das Land hat sich wieder erholt. Das größte Problem besteht im Moment nicht in der Emigration, sondern darin, dass Mistkerle an der Macht sind.

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