Mrs. Etheridge, wir führen dieses Gespräch am Weltfrauentag. Wo steht Ihr Heimatland USA in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, auf einer Skala von 1-10?
Melissa Etheridge: Also, die Situation hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Man hat mehr und mehr realisiert, dass diese Ungerechtigkeit existiert. Manchmal gewöhnst du dich ja an Dinge so sehr, dass du sie gar nicht mehr siehst. Wir haben aber heute mehr Informationen, mehr Möglichkeiten, darüber zu sprechen, dass es nicht in Ordnung ist, dass Frauen schlechter bezahlt werden.
Wenn ich zum Beispiel an meine Mutter denke: Sie hat für die US Army gearbeitet, als Angestellte hat sie dort Computer programmiert. Irgendwann erreichte sie GS15, das ist die höchste Lohntarifstufe, die sie bekommen konnte. Als ich ihr dazu gratulierte, meinte sie nur: ‚Ich bekomme trotzdem nur die Hälfte von dem was die Männer bekommen – und ich mache die ganze Arbeit.‘ Darüber war sie bis zum Ende sehr verbittert. Also, die Entwicklung hin zu gleichen Löhnen dauert noch an. Auf der Skala sind wir im Moment vielleicht bei 6 oder 7.
Glauben Sie, dass Frauen die besseren Staatenlenkerinnen sind?
Etheridge: Auf jeden Fall. Das kann man ja an Deutschland sehen. Auch wenn Angela Merkel in der konservativen Partei ist, man erkennt bei ihr ein bestimmtes Mitgefühl. Ich denke, sie ist wunderbar. Die Details ihrer Innenpolitik kenne ich jetzt nicht genau, aber im Bezug zum Rest der Welt ist sie eine kluge, starke Politikerin. Ich schaue mit Respekt auf sie.
Wäre die Welt friedlicher, wenn mehr Frauen in Machtpositionen sind?
Etheridge: Ja, das glaube ich schon. Das hat mit den anderen Prioritäten zu tun, die Frauen setzen, mit den Dingen, um die sich sorgen. Auch Männer haben eine feminine Seite, aber belohnt wurde sehr lange Zeit nur ihre männliche Seite: es ging um Kraft, Krieg, Stärke, ums Überleben. Ich denke, wir sind heute an einem Punkt angekommen, wo wir die Balance mit der femininen Seite brauchen. Und Frauen in Führungspositionen helfen dabei. Wenn man sich den neuen Kongress der USA anschaut, da gibt es jetzt viele Frauen, auch wenn wir von der Hälfte der Sitze noch weit entfernt sind. Aber wir bewegen uns in diese Richtung. Und das bedeutet, dass es andere Ideen gibt, wie man Probleme löst. Anstatt von Konflikt kann es jetzt Kooperation sein – das ist, denke ich, ein weiblicher Gedanke.
Rock'n'Roll ist mein Kern.
Kommen wir von der Politik zur Musik: Warum gibt es im Rock bis heute nur wenige Frauen?
Etheridge: Gute Frage. Ich denke, dass Rock’n’Roll eine gewisse Männlichkeit verkörpert. Als lesbische Frau habe ich auch ein bisschen mehr diese männliche Energie, mehr als zum Beispiel Taylor Swift. Sie hat auch eine gewisse Energie, aber sie ist Pop. Ich spiele Gitarre, bei mir muss es Rock’n’Roll sein, das ist sozusagen mein Kern. Und natürlich hoffe ich, dass mehr Frauen diesen harten, starken Kern in sich spüren. Es gibt da draußen auf jeden Fall viele großartige Künstlerinnen, insbesondere Afroamerikanerinnen. Bisher hören wir wenig von ihnen, aber ich habe schon großartige schwarze Musikerinnen gesehen, die absolut rocken. Ursprünglich kommt Rock’n’Roll ja auch von Afroamerikanern im Süden, von Frauen wie Rosetta Tharpe. Dort hat es angefangen, die haben Little Richard inspiriert, der dann wiederum Elvis inspiriert hat. Und dorthin kommt es jetzt wieder zurück. Denke ich. Hoffe ich.
Wo Sie Taylor Swift erwähnen: Wie stehen Sie zu Künstlerinnen wie Rihanna, Beyonces oder Miley Cyrus die in ihren Videos meist nur in sexy Outfits zu sehen sind?
Etheridge: Wir haben ja Spaß daran, wir betonen oft ganz besonders die Schönheit, die Schönheit dieser jungen Frauen. Ich selbst hatte dazu nie eine Beziehung, in meinen 20ern und 30ern wusste ich gar nicht, was ich anziehen soll. Aber ich denke, sie zeigen sich auf eine kraftvolle, ansprechende Art und Weise. Ich kann mich darüber nicht beklagen, allerdings war diese Art von Auftreten nie Teil meiner Welt.
Bedienen sie denn damit den sogenannten „Male gaze“, den männlichen Blick?
Etheridge: Sicher. Aber ist daran etwas falsch? Nein. Es gibt auch einen weiblichen Blick, der dadurch bedient wird. Und solange es Kraft ausstrahlt… Etwas Anderes sind bestimmte Rap-Videos, wo die Frauen nur unterwürfige Objekte sind, damit kann ich nichts anfangen. Aber eine Frau, die sich hinstellt und sagt: Das bin ich und das ist mein Körper – damit bin ich einverstanden.
Zurück zum Rock: Dass es nur wenig Frauen in diesem Genre gibt, könnte das auch daran liegen, dass Männer sie ‚draußen‘ halten bzw. nicht reingelassen haben?
Etheridge: Also, in den 80ern und 90ern war meine Erfahrung schon, dass es ein bisschen belächelt wurde, im Radio hat man Rock von einer Frau nur in begrenztem Rahmen gespielt. Wobei es in Deutschland anders war: Ihr habt gleich mein erstes Album begeistert angenommen, ihr hattet kein Problem mit einer starken Frau.
In der heutigen Zeit würde ich nicht sagen sagen, dass Männer Frauen aus dem Rock fernhalten. Das ganze System hat sich ja auch geändert, die Machtstruktur ist nicht mehr die gleiche wie früher, Plattenfirmen und Radiosender sind heute nicht mehr so mächtig. Wenn du eine Fanbase hast, kannst du erfolgreich sein. Ich mache jetzt, nach 30 Jahren, auch die Erfahrung, dass Männer mich entdecken. Amerikanische Männer, die sagen: Wow, wer ist das? Das begrüße ich. Früher war es glaube ich so, dass manche im ersten Moment gedacht haben, ‚das wird mir nicht gefallen, das ist von einer Frau‘. Ihr innerer Sexismus hat es ihnen nicht erlaubt. Aber das ändert sich gerade – und das will ich feiern.
Es gibt dieses Jahr wieder ein Melissa Etheridge Kreuzfahrtschiff und Ihr Line-Up ist fast komplett weiblich. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Sie jetzt Rache nehmen an der männlich dominierten Rockwelt…
Etheridge: Haha… Also, ich würde es nicht Rache nennen, sondern Chancengleichheit. Ich liebe es, diesen Frauen die Gelegenheit zu geben, vor einem großen Publikum ihre Musik zu präsentieren. Und wenn ich Männer finde, die ins Programm passen… – Ich glaube, ich würde den Frauen trotzdem den Vortritt lassen. Es ist aber keine Rache. Ich bin nicht gegen etwas. Sondern für etwas.
Auf Ihrem neuen Album „The Medicine Show“ gibt es den Song „Woman like you“ – wenn Sie heute über Liebe schreiben, haben Sie dann immer eine Frau im Kopf, oder ist es eher eine universale Herangehensweise?
Etheridge: Das kommt drauf an. Es gibt viele Songs von mir, in denen ich das Geschlecht neutral gehalten habe, so dass jeder sie singen kann. Und dann gibt es welche, die sehr persönlich sind, wo es um Frauen aus meinem Leben geht, um meine Partnerin oder – wie in „Woman like you“ – um meine erste Ehefrau. Ich singe darüber, wie ich mich angezogen fühlte von sehr schönen Frauen, insbesondere schönen Hetero-Frauen – so habe ich mich damals gequält (lacht). All diese wunderschönen Frauen, die ich in den 80ern und 90ern kennengelernt habe sind heute älter, ihre Kraft hat nachgelassen und auch ihre Wertschätzung. Deswegen wäre es fast ein gemeiner, verbitterter Song geworden. Aber dann dachte ich mir, dass auch im Alter Raum ist für Anmut und Schönheit. Und dass wir immer noch Kraft haben, auch wenn wir jetzt ältere Frauen sind.
Ihre Kraft reicht auch mit 57 noch für zweistündige Konzerte. Woher kommt Ihre Kraft, sind es die Gene oder war es eher Ihr Umfeld, in dem Sie aufgewachsen sind?
Etheridge: Ich denke, zu einem Großteil sind es die Gene. Jetzt bin ich ja in einem Alter, wo ich das beurteilen kann, ich sehe meine Kinder aufwachsen, jedes ist einzigartig, jedes kam bereits mit so viel auf die Welt. Insofern habe ich verstanden, dass auch ich bereits mit viel ausgestattet war, als ich auf die Welt kam.
Aber dann war es sicherlich auch meine Lebenserfahrung im Mittleren Westen, ich hatte dort das Gefühl: Es kann so viel geschehen, es gibt so vieles, was ich tun kann. Also habe ich mich auf eine Reise begeben, vor 40 Jahren. Und meine Kraft wuchs dann mit der Länge des Weges. Sie hat immer gerade so gereicht, um nach und nach meine Träume zu verwirklichen. Es hat ja viele Jahre gebraucht, bis ich meinen ersten Plattenvertrag bekam. Mein erstes Album kam raus als ich 27 war und dann dauerte es noch bis zum vierten Album, bis ich in den USA ‚eingeschlagen‘ bin. Das war ein langer Prozess…
…der Ihnen die Kraft gegeben hat?
Etheridge: Ja, das hat mir Kraft gegeben. Je mehr Erfahrung du sammelst… Zum Beispiel als ich mein Coming-Out hatte: Ich hatte Angst davor, aber ich habe das durchgezogen – und meine Plattenverkäufe wuchsen von einer auf sechs Millionen. Das hat mir auch Kraft gegeben. Oder als meine Krebserkrankung kam, sagte ich mir: Das ist nichts, was mich zerbricht, sondern ich werde wieder meine Kräfte benutzen.
Es hat mir immer geholfen, wahrhaftig zu sein, an die eigene Kraft zu glauben und sich weiter zu entwickeln. Das ist wie eine tägliche Übung.
Bei Ihren jüngsten Deutschland-Konzerten haben Sie gesagt, die USA erleide derzeit einen ’nervous breakdown‘, einen Nervenzusammenbruch. Wie hat die politische Situation in Ihrer Heimat Ihr Schreiben beeinflusst?
Etheridge: Dieses Album hat sehr viel mit 2018 zu tun, mit meinen Gedanken und Ängsten. 2016 war ich mir noch so sicher, dass Hillary Clinton Präsidentin wird, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Es war unmöglich, dass wir diesen Reality-TV-Star ins Weiße Haus ließen.
Als es dann passierte, haben wir angefangen, uns Gedanken zu machen, wie es so weit kommen konnte und was wir jetzt tun können. Diese Erfahrung und die Lehre daraus, das war ein Grundstein für dieses Album. Ich habe mir überlegt, was die Probleme sind und wie wir daran reifen und besser werden können. Und ich habe begriffen, dass wir da jetzt durch müssen, um bestimmte Dinge noch mehr zu festigen, dass dadurch manche Dinge auch vorangetrieben werden: Es gibt jetzt mehr Vielfalt im Kongress und es wächst das Verständnis, dass wir uns in den USA mit dem ‚Melting Pot‘ identifizieren müssen, der wir ja sind. An den Punkt müssen wir kommen – oder wir gehen unter. Ich habe die Hoffnung, dass wir diesen Weg gehen. Und auch die Wahl von Trump hat dazu beigetragen, dass es sich in diese Richtung bewegt.
Sie sind mehrfach bei Football-Spielen aufgetreten, wo Sie die Nationalhymne der USA gesungen haben. Haben Sie Verständnis für jene Spieler, die in der Vergangenheit während der Hymne nicht aufgestanden sind?
Etheridge: Oh ja. Die Ungerechtigkeit und die Rassendiskriminierung bei der Strafverfolgung, darüber wurde sehr lange hinweggesehen. Das ist ein tiefgreifendes Problem, eines, das nicht nur die Sicherheitsbehörden betrifft. Es ist diese ‚gelernte Angst‘, die manche Menschen haben: Wenn dir auf der Straße ein Weißer entgegen kommt, hast du ein anderes Gefühl als wenn es ein Schwarzer ist. Dieses Vorurteil, dass jemand kriminell ist, nur weil er eine dunkle Hautfarbe hat, das ist lächerlich. Aber es stellt sich eben bei unseren Sicherheitsbehörden heraus, dass die, wenn sie einen jungen Schwarzen sehen, ihn erschießen, aufgrund solcher Vorurteile.
Also, wenn unsere Football-Spieler, die sehr erfolgreich, klug und größtenteils Afroamerikaner sind, wenn die mit so einem Statement ein Zeichen setzen und auf dieses Problem hinweisen – dann unterstütze ich das vollkommen. Egal, wie die Reaktionen darauf waren, das war es wert. Ich glaube an den Wandel, der stattfinden muss.
Vor zwölf Jahren gewannen Sie einen Oscar für den Song „I Need to Wake Up“, der Teil der Klimawandel-Dokumentation „Eine unbequeme Wahrheit“ war. Inwieweit haben Sie Umweltschutz heute in Ihr Leben integriert?
Etheridge: Ich versuche so viel zu tun, wie ich kann. Zum Beispiel weniger Plastikflaschen zu verwenden, auch wenn das bei meinen vielen Reisen manchmal schwierig ist.
Zuhause lege ich wert auf Recycling, Energieeffizienz… – wir tun, was wir können. Das Beste, was wir machen können, ist, unsere Politiker darauf aufmerksam zu machen. Weil es die großen Verbrechen der Unternehmen sind, die man sich anschauen muss. Also, Politiker und Kandidaten wählen und unterstützen, die umweltfreundlich handeln. Das ist wahrscheinlich das Beste, was man tun kann.
Nun gibt es auch eine ‚unbequeme Wahrheit‘ über Kreuzfahrtschiffe…
Etheridge: Oh, das weiß ich. Ja, in der Tat. Es ist sehr schwierig, in dieser Welt zu leben: Auf der einen Seite will ich solche Dinge wie die Konzert-Kreuzfahrt machen, auf der anderen Seite weiß ich, dass es das Problem vergrößert. Meine Hoffnung ist: Würde es etwas verändern, wenn ich meine eine kleine Kreuzfahrt nicht mache? – Nein, das macht keinen Unterschied. Aber die Aufmerksamkeit, um die geht es.
Wenn wir auf die Reise mit dem Kreuzfahrtschiff gehen, dann gibt es auch eine Gruppe von Freiwilligen: Beim letzten Mal sind wir vor Puerto Rico an Land gegangen, dort hat dann eine große Gruppe unserer Passagiere geholfen, den Strand sauber zu machen. Wir haben die dortigen Behörden gefragt, wo sie Hilfe brauchen – und dann sind wir dorthin und haben geholfen. Auf diese Art und Weise versuche ich, das auszugleichen. Und natürlich versuche ich auch mit den Schiffsbetreibern zu sprechen. Denen sage ich: Wir müssen das verbessern, weil die Schiffe sind Teil des Problems.
Sie könnten auf See gehen, Anker werfen und die Motoren ausmachen.
Etheridge: Ja, damit hätte ich kein Problem.
Bei der Frage zu den Kreuzfahrtschiffen geht es auch um Ihre Vorbildfunktion, für viele Menschen sind Sie ja tatsächlich zum Vorbild geworden. Fühlen Sie sich wohl damit oder lehnen Sie diese Vorbildrolle ab?
Etheridge: Ich habe ganz sicher nicht so begonnen, dass ich gesagt hätte: Ich werde ein Vorbild. So läuft das ja nicht. Aber ich habe gesehen, wenn ich meine eigenen, persönlichen Entscheidungen fällte, um wahrhaftig zu sein, um aufzustehen für die Dinge, die ich in meinem Herzen fühlte – da habe ich gemerkt, dass das Menschen beeinflusste und inspirierte. Und das gefällt mir. Lucy Spraggan, die auf meiner Tour als Vorband auftritt, sieht mich als Vorbild, und ich schätze das. Klar, nach 30 Jahren, die ich Musik mache, hoffe ich, Menschen inspirieren zu können. Wenn ich ein Vorbild für andere sein kann, bin ich froh darüber.
Das Interview wurde am 08.03.2019 geführt.