Herr Braungart, viele Medien handeln Sie als den ersten Weltstar des 21. Jahrhunderts, der von Beruf Chemiker ist. Fühlen Sie sich geschmeichelt?
Michael Braungart: Ich bin nur der Einäugige unter den Blinden. Der Naturwissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg, ein großes Vorbild von mir, hat mal gesagt, wer nur die Chemie versteht, versteht auch die nicht recht. Ich bin zu 95 Prozent völliges Mittelmaß, aber in den anderen 5 Prozent bin ich wirklich gut. Und da unsere derzeitigen Produkte so schlecht sind, ist es einfach, ein guter Chemiker zu sein.
Was für Produkte meinen Sie?
Braungart: Ich war vor einiger Zeit auf der Nobelpreistagung in Landau. Die handverlesenen Studenten, die dort teilnahmen, bekamen eine extra für diesen Zweck designte PVC-Tasche, die Weichmacher enthält, die in vielen Ländern wegen Unfruchtbarkeit verboten sind. Und keiner von den jungen Leuten hat rebelliert. Entweder wussten sie es nicht, was schon schlimm genug ist, oder sie haben sich nicht getraut, etwas dagegen zu sagen. Ich dachte nur: Okay, die jungen Leute haben nie viel Geld, wenn sie sich diese Tasche zuhause an die Wand nageln, sparen sie sich die Antibabypille.
Nun nagelt kaum einer PVC-Taschen an die Wand sondern man trägt sie maximal ein paar Stunden, meist im Freien…
Braungart: Dann nehmen Sie eben die ganzen Kassenzettel und Parkscheine. Wenn Sie die anfassen, nehmen Sie Dutzende von Chemikalien auf, die nie für den Hautkontakt gedacht waren. Der Euro, den wir jeden Tag in der Hand haben, gibt 200 mal mehr Nickel ab, als es für jedes andere Produkt legal wäre.
Wie konnte es so weit kommen?
Braungart: Wir haben nach den großen Katastrophen wie in Seveso, Bhopal und Tschernobyl eine ganze Generation an guten Wissenschaftlern verloren. Die ganzen guten jungen Leute wurden nicht mehr Chemiker, sondern Banker oder IT-Spezialisten. Das Bestehende kann man auch mit Leuten optimieren, die nur „Fachidioten“ sind, aber um Neues zu schaffen, brauchen wir Leute, die mehr können.
In Deutschland denken wir immer noch, Umwelt sei ein Moralthema.
Sie haben etwas Neues, das Cradle-to-cradle-Konzept, kurz C2C entworfen. Wie kamen Sie darauf?
Braungart: 1986 habe ich mit Greenpeace gegen die Chemieindustrie in der Schweiz protestiert, die den ganzen Rhein kontaminiert hatte. Durch ein Feuer bei der Firma Sandoz starben damals Millionen von Fischen, der Rhein war auf 300 Kilometern Länge rosa gefärbt. Wir haben dann den Schornstein dieser Firma besetzt. Der Werksleiter Anton Schärli bat uns dann aber, über Nacht runterzukommen, mit der Garantie, dass wir am nächsten Tag wieder hinaufklettern dürfen. Da änderte sich plötzlich das Spiel und die Fronten waren gar nicht mehr so klar.
Wie meinen Sie das?
Braungart: Normalerweise ist in solchen Situationen immer klar, wer die Guten und die Bösen sind. Aber als diese Aktion dann nach wenigen Tagen beendet wurde, gab es für jeden eine heiße Suppe und für alle Frauen Blumen. Alex Krauer, damals Chef des anderen großen Basler Chemieunternehmens, der Ciba-Geigy AG, meinte dann, dass sie eigentlich auch Nachhaltigkeit wollen würden und wir doch die gleichen Ziele hätten.
Wie haben Sie reagiert?
Braungart: Ich bin dann aus Greenpeace ausgestiegen, weil ich lange genug „nur“ protestiert hatte. Vielleicht hätte ich irgendwann einen Widerstandskämpfer-Preis bekommen, aber an unserer Welt hätte ich nichts verändert. Ich fand, es war an der Zeit, Lösungen zu entwickeln, woraufhin ich das Institut EPEA gegründet habe.
Die Enviromental Protection Encouragement Agency, zu deutsch: Die Umweltschutz-Ermutigungs-Agentur…
Braungart: Dann kamen die Unternehmen auf mich zu und baten mich, zu erforschen, wie die Chemie der Zukunft aussieht. Ich bekam viel Geld, um mir andere Kulturen anzusehen, um Naturvölker zu befragen oder Persönlichkeiten wie den Dalai Lama oder Michail Gorbatschow. Auf diesen Reisen habe ich viel darüber gelernt, wie die Produkte der Zukunft aussehen müssten. Meine Ergebnisse habe ich dann aufgeschrieben und veröffentlicht – und dann bin ich in die USA gegangen, weil mir klar war, dass in Deutschland nach der Wiedervereinigung auf diesem Gebiet erstmal lange nichts passieren würde.
Warum nicht?
Braungart: Wir in Deutschland denken immer noch, das Umweltthema sei ein Moralthema – und die Moral ist ja bekanntlich nicht nur bei uns Deutschen immer gerade dann weg, wenn man sie mal wirklich braucht. In Europa werden Sie fürs Analysieren von Problemen bezahlt, während die Leute in den USA fürs Handeln bezahlt werden. Das Cradle-to-Cradle-Konzept ist aus Europa, basiert auf weltweit gesammelten Informationen und wurde in den USA umgesetzt. Es braucht die europäische Problemdenkweise, die amerikanische Handlungsorientierung – und es braucht das asiatische Denken in Kreisläufen in Kombination, um etwas zu verändern.
Was hat es mit dem asiatischen Denken in Kreisläufen auf sich?
Braungart: Ich war lange in China unterwegs, um herauszufinden, wie China es schaffen konnte über 5000 Jahre eine Zivilisation aufzubauen, ohne ständig ihren Nachbarn zu überfallen. Wir im Westen haben den Bauern immer nur etwas weggenommen und nie zurückgegeben, wodurch die Bauern immer ärmer wurden und in die Städte ziehen mussten, um an neue Nährstoffe zu kommen.
Wenn man in China auf dem Land zum Essen eingeladen ist, dann erwarten die Menschen, dass man so lange bleibt, bis man die Toilette aufsuchen muss. Es gilt als unhöflich, die Nährstoffe mitzunehmen, schließlich ist man zum Essen eingeladen worden und nicht zum Nährstoffdiebstahl.
„Cradle to cradle“ heißt übersetzt „Von Wiege zu Wiege“ und ist dem linearen „Von der Wiege bis zur Bahre“-Gedanken entgegengesetzt. Produkte sollen nicht darauf angelegt sein, irgendwann zu Müll zu werden, sondern quasi endlos recyclebar sein. Was ist heute schon mit diesem Prinzip vereinbar?
Braungart: Es gibt eine ganze Reihe von Stoffen, die als solche schon „cradle to cradle“ sind. Wenn Holz beispielsweise nicht mit Holzschutzmittel behandelt wurde, ist es ein Material, was ohne Probleme in den biologischen und technischen Kreislauf zurückgeführt werden kann. Auch Metall können wir so herstellen, dass es durch die Wahl der Legierungen endlos einsetzbar ist.
Warum hat sich das Cradle-to-cradle-Prinzip bisher nicht wirklich verbreitet?
Braungart: Zunächst muss man die Probleme verstehen. Unsere nördliche Denkweise ist von dem Gefühl des schlechten Gewissens geprägt, wir fühlen uns schuldig und versuchen weniger schädlich zu sein. Das Prinzip der Nachhaltigkeit war wichtig, um Dinge zu lernen, aber sie ist kein Zukunftskonzept. Die Dampfmaschine war zum Beispiel für die Pferdefuhrwerksbesitzer genauso wenig nachhaltig, wie das Mobiltelefon für die Betreiber von Telefonzellen. Eine echte Innovation kann gar nicht nachhaltig sein, sonst wäre sie keine.
Warum reichen bisherige Recycling-Verfahren nicht aus?
Braungart: Das Problem ist, dass wir auf halber Strecke stehen bleiben. Man sagt sich: Ich kaufe jetzt Papier ein, das nur noch 50 giftige Stoffe hat und keine 90 mehr. Aber wenn wir eine Zeitung wie den „Spiegel“ oder den „Stern“ verbrennen, ist die Asche so kontaminiert, dass man sie nicht ohne Weiteres in die Landwirtschaft zurückführen kann. Dabei gibt es Papier, was wirklich kompostierbar ist. Das hat in der Entwicklung 21 Jahre gebraucht, das ist es aber jetzt auch wert. Selbst wenn ich es nicht mehr als Papier nutzen möchte, kann ich es immer noch als Pellets verfeuern und in den biologischen Kreislauf zurückführen. Trotzdem wird zum Beispiel ein Ikea-Katalog in China gedruckt, das ist billig, stinkt aber jämmerlich, weil da etwa 90 giftige Stoffe drin stecken und am Ende braucht man dafür eine teure Hightech-Entsorgung. Biologischer Kreislauf, ja oder nein – darum geht es.
Sie meinen, dass wir nicht konsequent genug sind?
Braungart: In Gefahr und Not ist der Mittelweg der Tod. Wir kümmern uns lieber um die Hightech-Entsorgung und wundern uns dann später darüber, dass die ganzen giftigen Stoffe des Papiers in den Kartons stecken, in denen wir unsere Pizza oder unsere Nudeln geliefert bekommen. Entweder wir stellen wirklich nur noch kompostierbares Papier her oder wir machen die gleiche Schweinerei wie die Chinesen. Das können wir dann aber auch zum selben Preis machen.
Es ist dumm, auf halbem Weg stehen zu bleiben. Zu sagen, dass ein Produkt jetzt 10% weniger giftig ist, das ist, als würde ich zu jemandem, der erschossen wurde, sagen: Du siehst zu 99% gesund aus. Das kleine Loch im Kopf macht eben den Unterschied.
Wie versuchen Sie Unternehmen von Ihrem Konzet zu überzeugen?
Braungart: Das versuche ich gar nicht. Entweder die Unternehmen kommen zu mir oder ich arbeite nicht mit ihnen zusammen. Ich habe mal den Chef einer großen Schokoladenfabrik getroffen und mit ihm ein Gespräch über seine Verpackungen geführt. Der hat daraufhin seinen Nachhaltigkeitsexperten angerufen und den gebeten, mit mir einen Termin zu vereinbaren, um neue Verpackungen zu entwickeln. Das war am 3. November. Am 21. Mai im darauffolgenden Jahr meldet sich dann der Nachhaltigkeitsexperte bei mir und meinte es täte ihm so leid, aber er hätte viel zu tun, ob wir uns nicht nächstes Jahr treffen könnten. (lacht) Die Leute haben sich in ihrer Nachhaltigkeitsberichterstattung eingerichtet. Sie verwalten den Untergang, aber dazu machen sie tolle Broschüren.
Gibt es ein C2C-Produkt auf das Sie besonders stolz sind?
Braungart: Ja, auf unsere essbaren Bezugsstoffe. Wenn sie im Flugzeug oder im Kino sitzen, enthalten die Stoffe Materialien, die so giftig sind, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen. Aber nicht unsere. Wenn ein Flugzeug abstürzt, das mit unseren Stoffen ausgestattet ist, könnten die Passagiere die in ihr Müsli mischen und essen. Sie haben zwar keinen hohen Nährwert, aber machen satt.
Oder die Produkte der Firma „Good Baby“. Egal ob Kinderbetten, Kinderwagen oder Kindersitze, alles wird dort nach dem C2C-Prinzip hergestellt.
Sie sind mit der Politikerin Monika Griefahn verheiratet. Haben Sie durch den Beruf Ihrer Frau mehr Einblicke in die Gestaltungsräume der Politik erhalten?
Braungart: Ja, aber mit Monika Griefahn verheiratet zu sein, war mit Sicherheit das größte Karrierehindernis – für uns beide. Als sie Umweltministerin in Niedersachen war und den Bau von 13 Verbrennungsanlagen gestoppt hat, haben alle Leute gesagt, dass macht sie nur, weil ihr Mann es ihr sagt. Und wenn sie etwas durchgesetzt hat, was nicht mit meinem Prinzip übereinstimmte, hieß es, dass sie nicht mal auf ihren Mann höre. Ich bin in die USA gegangen, um dieser Situation aus dem Weg zu gehen.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Politik?
Braungart: Politik richtet sich meiner Meinung nach in Deutschland nicht unbedingt an die Besten, aber daran sind wir selbst schuld. Wenn wir unsere Politiker nicht schätzen, bekommen wir lächerliche Selbstdarsteller, das potenziert sich gegenseitig. Ich kann den Leuten nur raten, dass sie sich nicht angewidert zurückziehen sollten, sondern sich einmischen, weil wir ansonsten auch nur die Politiker bekommen, die wir verdienen.
Zum Schluss die Frage: Kann die Welt am ehesten durch Religion, Politik oder Naturwissenschaften verändert werden?
Braungart: Zunächst ist es wichtig zu begreifen, dass die Welt nicht gerettet werden muss. Selbst wenn wir völlig versagen, wird es in 100 Jahren immer noch zwei Milliarden Menschen auf der Welt geben. Wir werden uns allerdings kannibalisieren, wenn wir nicht lernen, anders zu denken.
Das wäre eine düstere Aussicht…
Braungart: Wir Europäer haben immer noch die besten Überlebenschancen, weshalb wir uns immer mehr von den anderen abschotten. Auch der Treibhauseffekt wird zunächst sogar einige Vorteile mit sich bringen. Der Anstieg des Meeresspiegels wird in Holland beherrschbar sein, in Bangladesch allerdings nicht.
Ich denke, jeder Bereich kann etwas beitragen, allerdings sind wir im sozialen und im kulturellen Bereich schon viel weiter als in der Wissenschaft. Ich gehe im Moment von Schule zu Schule und versuche, die jungen Menschen davon zu überzeugen Wissenschaftler zu werden. Banker zu sein ist ja gerade eh out.
Ein kluger Mann mit Visionen, die keine mehr sind. Rundum Vorbild. Ich hoffe auf seinen Erfolg – für eine bessere Welt.