Michael Broschkowski

Irgendwann hat man entdeckt, dass es eine tolle Sache ist, den Ball auch mal abzugeben.

Der Historiker Michael Broschkowski über die frühen Jahre des Fußballs in Deutschland, alte Fußballregeln, wachsende Kommerzialisierung und die WM 2006

Michael Broschkowski

© Transit Buchverlag

Herr Broschkowski, wie und wann kam Fußball eigentlich nach Deutschland?
Broschkowski: Fußball ist ein Importprodukt aus England. Angefangen hat das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Und zwar überall dort, wo englische Techniker und Studenten nach Deutschland gekommen sind und ihre ‚English Sports‘ eingeführt haben. Es gab auch viele Touristen, denen ihre Seebäder in England zu überfüllt waren. Die haben dann in Frankreich oder Deutschland Urlaub gemacht und ihre Freizeitgewohnheiten mitgenommen.

Die Engländer haben gespielt und die Deutschen haben sich das abgeguckt?
Broschkowski: Genau. Die haben auf den Wiesen gespielt und hatten oft zu wenige Spieler. Dann sind Deutsche vorbeigekommen und haben mitgemacht. Eine schöne Geschichte gibt es zum Beispiel aus Bremen, wo ein englisches Schiff eingelaufen war. Die Besatzung fragte einige Leute im Hafen, ob sie mitspielen wollen. Diese Leute wieder trafen auf einer Nordseeinsel eine Gruppe von Urlaubern aus Berlin, die das Spiel schließlich in die Hauptstadt brachten. So pflanzte sich das fort.

Und zu welcher Zeit? Wann gab es die ersten Vereine?
Broschkowski: Ungefähr um 1870, 1880. Der erste heute noch existierende Verein ist Germania 88 aus Berlin-Tempelhof. Anfangs sind das aber eher lose Spielgemeinschaften gewesen. Die haben sich mitunter aufgelöst, wenn es zum Beispiel keinen Ball mehr gab. Um die Jahrhundertwende gab es nur etwa 2000 Fußbälle in Deutschland. Wenn der verloren gegangen ist, hat sich der Verein eben wieder aufgelöst.

Fußball galt lange Zeit als proletarischer Sport. War das schon immer so?
Broschkowski: Am Anfang war Fußball eher ein Angestelltensport. Das hängt damit zusammen, dass diese Leute genügend Geld hatten, um sich die Fußballausrüstung zu kaufen. Die kostete etwa den Wochenlohn eines Arbeiters. Angestellte konnten es sich auch leisten, mal ein, zwei Tage verletzt zu sein, ohne das gleich die Existenz gefährdet war. Und sie hatten mehr Freizeit. Mit dieser Freizeit mussten die Leute etwas anfangen. Zusätzlich sind die Angestellten in Deutschland noch relativ jung gewesen, meistens Männer zwischen 20 und 30, die oft noch nicht im Familienleben absorbiert waren.

Welche sportliche Konkurrenz hatte Fußball?
Broschkowski: Eigentlich ist Turnen der Nationalsport im 19. Jahrhundert gewesen. Turnen war der Sport der konservativen Kreise. Aus England kam dann eben dieser Sport, der ziemlich rüpelhaft aussah, weil die Leute sich nicht gleichmäßig bewegt haben.

Konnte dieser Rüpelsport denn offen ausgeübt werden?
Broschkowski: Die Fußballvereine wurden von vielen Lehrern als subversiv angesehen. Zur Tarnung haben sich einige Schüler deswegen sogar falsche Bärte angeklebt.

Warum haben die Spieler damals heißes Wasser zum Spiel mitgenommen – wegen der Verletzungen?
Broschkowski: Nein. Vor 1900 gab es nur wenige richtige Stadien in Deutschland. Man spielte auf Exerzierplätzen. Das Spielfeld musste schnell auf- und abgebaut werden, wenn das Militär den Platz brauchte. Die Torstangen wurden einfach eingerammt, was im Winter aber nicht so gut geht, weil der Boden gefroren ist. Zum Auftauen nahm man dann oft heißes Wasser.

Wie sah die Ausrüstung aus?
Broschkowski: Die frühen Fußbälle waren Lederklumpen mit einer Schweinsblase drin, später gab es auch Kautschukblasen. Und sie hatten große Nähte, auf denen das Ventil war: für Kopfbälle sehr gefährlich. Schienbeinschoner gibt es erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts und wurden in England von einem gewissen Sam Widdowson erfunden. Er hatte genug davon, dass sich die Spieler durch Tritte im Zweikampf häufig die Schienbeine brachen. Die Schuhe waren ziemlich robust, mit genagelten Stollen und Stahlkappen.

Wie viele Zuschauer kamen in der Anfangszeit?
Broschkowski: Bei den Freizeitvereinen kamen nur einige Zuschauer. Das größte Stadion im Kaiserreich stand damals in Fürth. Vor Ausbruch des I. Weltkriegs passten da vielleicht 12.000 Zuschauer hinein. Die Spiele waren auch wenig organisiert, sondern eher spontane oder private Treffen. Da kamen Leute einfach vorbei und schauten zu. Anfang des 20 Jahrhunderts wurde daraus langsam ein geregelter Zuschauerbetrieb und es gab erste Bemühungen, Stadien zu bauen. Auch damit der Schiedsrichter vor wütenden Fans geschützt wurde und keine Kinderwagen über das Feld geschoben wurden.

Musste man als Zuschauer damals schon Eintritt zahlen?
Broschkowski: Selten. Das war verpönt, weil Fußball Amateursport war. Victoria 89 Berlin hat einmal ein Spiel gegen Preußen Berlin boykottiert, weil die Eintritt genommen haben. Oder eine Auswahl von Germania 88 Berlin sollte nach Amerika fahren, jedem Spieler wurde eine Geldsumme und freie Passage angeboten. Die Spieler haben aber abgelehnt und gesagt: Nein Danke, wir bleiben Amateure.

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Die Fußballvereine wurden von vielen Lehrern als subversiv angesehen. Zur Tarnung haben sich einige Schüler deswegen sogar falsche Bärte angeklebt

Michael Broschkowski

Waren Schiedsrichter damals auch schon so unbeliebt wie heute?
Broschkowski: Da hat sich nichts geändert. Allerdings gab es in England lange Zeit überhaupt keine Schiedsrichter – das "Fair Play"-Image war wichtiger. Zur Not gab man dem Gegner den Ball. In Deutschland wurde es dann Gang und Gäbe, dass man zwei Unparteiische genommen hat, die hatten dann einen Anzug an und eine Melone auf dem Kopf.

Aber wenn es lange Zeit keine Schiedsrichter gab, wie wurden dann die Regeln festgelegt?
Broschkowski: In der Anfangszeit hat man sich vorher an einem neutralen Ort getroffen, also nicht gerade in der Stammkneipe des jeweiligen Vereins. Dann haben die sogenannten Spielkaiser, die Mannschaftskapitäne, die Regeln festgelegt. Wie lange gespielt wird, wie viele Spieler mitspielen dürfen… Bis zur Gründung des DFB um 1900 hatte jeder Verein seine eigenen Spezialregeln.

Die Länge des Spiels wurde vereinbart? Aber ein Spiel dauert doch 90 Minuten.
Broschkowski: Nicht unbedingt, in der Anfangszeit wurde das frei vereinbart, das konnten also auch mal zwei Stunden sein. Auch die Punkte wurden frei vereinbart. Es gab Spiele in denen das Tor zwanzig Punkte gezählt hat, die Ecke zehn und ein Einwurf fünf Punkte.

Und wann gab es die ersten schriftlich fixierten Fußballregeln?
Broschkowski: Das war das Cambridge Parker’s Piece. In Cambridge gab es um 1842 Studenten, die ihre Regeln für sich festgelegt haben. Die haben sie im Parker’s Piece, einer großen Rasenfläche in der Mitte von Cambridge an die Bäume genagelt. Das war der Vorläufer für die Regeln der Football Association bei ihrer Gründung 1863.

Was sind die wichtigsten Regelunterschiede zwischen damals und heute?
Broschkowski: Die Abseitsregel war anders. Heute reichen Torwart und ein Abwehrspieler aus, um den ballführenden Spieler ins Abseits zu stellen, damals mussten es drei Abwehrspieler sein. Der Körpereinsatz wurde auch anders geahndet. Rempeln und Arm ausfahren war in Ordnung. Nur brutale Stöße und brutales Umtreten der Gegner wurde irgendwann verboten.

Durfte der Torwart den Ball in die Hand nehmen?
Broschkowski: Klar. Sonst wäre der ja überflüssig. Es durften teilweise sogar Spieler den Ball mit der Hand stoppen. Diese Regel ist dann mit der Zeit verschwunden.

Und wie haben sich die Mannschaften damals taktisch ausgerichtet?
Broschkowski: Wenn man den Ball bekommen hat, wurde er hoch und schnell nach vorne gedroschen, wo dann ein Stürmer stand. Der hat den Ball dann auch nicht abgegeben, sondern irgendwie Richtung Tor geschossen. Irgendwann hat man entdeckt, dass es eine tolle Sache ist, den Ball auch mal abzugeben oder zu dribbeln. Dadurch hat sich eine andere Spieltaktik entwickelt. Die Aufstellung mit fünf Stürmern und zwei Verteidigern hat sich aber bis in die fünfziger Jahre gehalten.

Was hat sich heute, abgesehen von den Regeln, noch geändert?
Broschkowski: Die Professionalisierung ist heute ganz anders. Und je mehr Geld investiert wird, desto weniger ist es ein Spiel. Fußball ist sehr kommerziell geworden – damals wurde eher gerauft.

Wann setzte die Kommerzialisierung ein?
Broschkowski: Die großen deutschen Stadien sind während der Weimarer Republik gebaut worden. Und mit den vielen Zuschauern kam die Kommerzialisierung.

2006 findet die WM in Deutschland statt. Halten Sie die gegenwärtige Euphorie für übertrieben?
Broschkowski: Die Euphorie ist natürlich dem Ereignis angemessen. Was mir aber besonders gefällt, sind eher kleine Geschichten, die am Rand dieses Ereignisses stattfinden, die eigentlich nicht so wichtig sind. Aber diese großen, für ein Massenpublikum abgestimmten Events sind eher flach und langweilig. Die Sponsoren bringen nicht nur sehr viel Geld und Attraktivität in den Fußball, sondern sie zerstören auch eine gewisse Kultur. Man kann in den Stadien ja gar nicht mehr das Bier trinken, welches man will. Dazu kommt dann noch diese Dudelmusik, die da immer von oben runterkommt … Es wird immer mehr reglementiert und dadurch das Leben im Stadion weniger kreativ, als vor dreißig Jahren.

Haben Sie WM-Karten?
Broschkowski: Nein. Ich habe aber auch nur versucht, Karten für das Finale zu bekommen. Die anderen Spiele sind es mir nicht so richtig wert. Achtzig Euro für ein Spiel auszugeben, das mich nicht so richtig interessiert? Das Finale hätte ich natürlich gerne gesehen.

Wer wird Weltmeister?
Broschkowski: (zögert) Deutschland wird Weltmeister.

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