Michael Naumann

Steinmeier an der Siegessäule – funktioniert das, Herr Naumann?

"Zeit"-Herausgeber Michael Naumann über seinen Wahlkampf in Hamburg, Obamas Chancen in den USA, Ehrlichkeit, fehlendes Charisma bei Angela Merkel und die Lupe seines Freunds Gerhard Schröder

Michael Naumann

© Die Zeit

Herr Naumann, es heißt, es wird nirgends so viel gelogen, wie im Wahlkampf. Welche Erfahrungen haben Sie in Hamburg diesbezüglich gemacht?
Naumann: Ich habe da niemanden kennen gelernt, der bewusst gelogen hat. Die Einzigen, denen die Realität offenkundig in ihren Prognosen und Wünschen abhanden gekommen ist, waren „Die Linke“. Aber ich würde nicht sagen, dass die gelogen haben, sondern die haben sich eine Welt gemalt, in der zum Beispiel alle Hamburger Arbeitslosen bei der Stadt angestellt werden könnten. Das war eine der Forderungen der Vorsitzenden der Linken, das würde ich aber nicht als Lüge bezeichnen, sondern als politische Dummheit, die sich in der DDR nicht bewährt hat.

Irreführung?
Naumann: Es ist ein nicht realisierbares Projekt, wie viele andere Träume der Linken auch. Allerdings haben zumal Hamburgs Arbeitslose diese Partei gewählt

Die Glaubwürdigkeit von Wahlversprechen wird heute generell angezweifelt. Wie ist das, wenn man im Wahlkampf den Menschen, den Bürgern begegnet: Hat man da bei jedem Versprechen den Gedanken im Hinterkopf, ob es auch realisierbar ist?
Naumann: Ich finde, Sie haben eine merkwürdige Vorstellung von Politik. Und auch von Wahlkämpfen. Ich kann mich jedenfalls nicht an einen einzigen Wahlkampf erinnern, in dem irgendein Politiker mit Absicht die Unwahrheit gesagt hat. Ich glaube auch, dass Helmut Kohl fest daran geglaubt hat, dass es in Ostdeutschland alsbald blühende Landschaften geben werde. Und mit diesem Versprechen hat er 1991 die Wahl gewonnen.

Und Sie, in Hamburg?
Naumann: Ich habe keine Versprechen gemacht, die ich nicht hätte halten wollen. Dass dann nach der Wahl aufgrund von Koalitionszwängen stark miteinander konkurrierende politische und gesellschaftliche Sichtweisen in einer Koalition aufeinanderprallen und logischer Weise auch Kompromisse geschlossen werden müssen, gehört für mich ebenfalls nicht in den Bereich von gebrochenen Wahlversprechen, sondern in den Bereich von Politik als ein Geschäft, in dem man sich meistens die politische Entscheidungsmacht teilen muss. Es sei denn, man hat eine absolute Mehrheit, dann fällt es relativ leicht, Versprechen zu halten.

Sie haben den Hamburger Wahlkampf einmal als „fröhlichen Lernprozess“ beschrieben. Was war das Wichtigste, was Sie gelernt haben?
Naumann: Man lernt die Grenzen seiner eigenen Belastbarkeit kennen. Ich war immerhin elf Monate lang unterwegs, bin insgesamt 11.000 Kilometer gefahren, zu über 700 Terminen.
Dann lernt man seine eigene Partei und ihre Organisationsstruktur und Tüchtigkeit im Wahlkampf schätzen. Und selbstverständlich lerne ich  die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und Probleme der Stadt besser kennen. Da helfen die Studien und Kenntnisse der Parteifreunde. Schließlich wäre es gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich in so genannten Problemvierteln wie Lurup, Jenfeld, Mümmelmannsberg oder Wilhelmsburg heimisch gewesen wäre.

Welche Regeln muss man im Wahlkampf beachten?
Naumann: Die erste Regel ist, ehrlich zu sein. Die zweite: Neugierig sein. Neugierig auf die Menschen, auf die man trifft, mit denen man spricht, auch auf Journalisten. Und drittens: Man sollte sich nicht verbiegen. Ich habe mich nicht plötzlich in einen proletarischen Sozialdemokraten verwandelt, weil ich das nicht bin.

Sie sagen, man kann mit Ehrlichkeit Wahlkämpfe gewinnen?
Naumann: Das hatte ich mir erhofft.

Dazu braucht man ein starkes Rückgrat.
Naumann: Natürlich, aber jeder, der in die Politik geht, bringt ja auch eine eigene Biografie mit. Und die kann man nicht loswerden, die sollte man auch nicht loswerden.

Wie haben Sie es als Bürgermeisterkandidat wahrgenommen, dass Politik heute extrem medialisiert ist?
Naumann: Man wird von den Medien begeleitet und man beobachtet schon recht verblüfft – auch als professioneller Journalist, der ich seit 1969 bin – wie schamlos manipuliert werden kann. Ein Beispiel aus dem Wahlkampf: Gang auf den Markt, man verteilt Blumen und wird begleitet von einem Hamburger Fernsehjournalisten der ARD. Es kommt zu wunderbaren, interessanten Gesprächen mit Bürgern, die Blume ist eine Kontaktgeste. Die Kamera läuft die ganze Zeit. Von der halben Stunde Aufnahmen bringt das viel gesehene „Hamburg Journal“ dann ungefähr 15 Sekunden und zeigt den einzigen Mann, der keine Blume haben wollte. Und dann findet man raus, dass der leitende Redakteur aktives Mitglied der CDU ist – und der TV-Reporter nach der Wahl Sprecher eines CDU-Senators wird.

Aber von dieser Art der Manipulation müssen gerade Sie doch wissen. Sie kennen doch die Branche.
Naumann:  Vielleicht war ich zu naiv. Es entspricht nicht meinem Bild der Branche.

Nun ist ein Marktbesuch im Wahlkampf aber ein Ereignis, das einzig dazu da ist, Bilder zu produzieren. Da kann es doch kaum zu wirklichen Begegnungen, Gesprächen kommen…
Naumann: Das ist sicherlich einer der Effekte, das finde ich auch völlig legitim. Man kann in so einer Situation aber auch schon merken, ob jemand von den potentiellen Wählern akzeptiert wird oder nicht. Und man kann sich unterhalten, es kann auch bewegende Gespräche geben. Ich hatte eine Begegnung mit einer deutsch-russischen Frau, die noch während der Schlacht 1942 aus Stalingrad von den Sowjets nach Sibirien „umgesiedelt“ wurde. Mein Vater ist zur gleichen Zeit in der Stadt gefallen.  Da gab es also eine Sache, die uns verbindet – wir haben beide ein Tränchen verdrückt. Man ist eben auch sehr strapaziert nach elf Monaten Wahlkampf.

War das auch der Grund für Ihren Aussetzer im TV-Duell mit Ole von Beust?
Naumann: Tja, da bin ich einfach hängen geblieben, ich bekam das Wort „Bildungsgebühren“ nicht über die Lippen. Ein faszinierendes, schreckliches Erlebnis. Das brauchte drei, oder vier Sekunden – eine Ewigkeit. Ich weiß nicht, warum das geschehen ist. So etwas passiert halt. Große TV-Journalisten wie Deppendorf haben mich getröstet. Denen ist das auch zugestoßen, live.

Durch Ihre jahrelange Tätigkeit als Herausgeber, Journalist und Verleger sind Sie eher ein Mann des Wortes und des Inhalts als der Bilder. Im Wahlkampf verdichtet sich aber alles sehr schnell auf ein Foto, eine Botschaft, einen Patzer im Fernsehduell – hatten Sie damit Probleme?
Naumann: Also, was meinen Aussetzer im TV-Duell anbelangt, so hat sich später in Umfragen herausgestellt, dass das keinen Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt hat. Und zu den Bildern: Natürlich wussten wir um die Relevanz von Bildern im Wahlkampf. Das ist ja nichts Neues. Nur speziell im Hamburger Wahlkampf, wenn Sie sich die Bilder der SPD in den Springer-Medien anschauen – und das sind die Massenmedien in Hamburg – so waren sie fast immer negativ, also im ungünstigsten Moment aufgenommen. Man kennt das.  Aber auch daran kann man sich gewöhnen. Es sind auch schon Wahlkämpfe trotz dieser Negativ-Bilder von der SPD gewonnen worden.

Sie stört also die Reduzierung, diese Vereinfachung nicht?
Naumann: Nein. Die Frage ist nur, ob eine ganze Stadt wie Hamburg mit dieser informellen Zurückhaltung – um nicht zu sagen Zensur – seitens der Springer-Presse leben kann? Ich zumindest hatte einige Berlusconi-Momente in diesem Wahlkampf. Ich dachte mir: So läuft das in Italien. So ist das, wenn Sie in Italien Politik machen wollen, aber umzingelt sind von Medien, die der anderen Seite gehören oder mit ihr sympathisieren.

Da stellt sich noch mal die Frage: Warum tut man sich das an?
Naumann: Ja, warum macht man das überhaupt, so ein Engagement in der Politik, einen Wahlkampf? Ich hatte Ihnen schon gesagt, man bringt eine Biographie mit. In dem Milieu, in dem ich nach unserer Flucht aus der DDR 1953 groß geworden bin, war soziale Ungerechtigkeit mit den Händen greifbar. Ich komme aus einer großbürgerlichen Familie die zweimal zerstört worden ist, einmal durch die Nazis und danach durch die SED. Am Ende waren wir bitterarm, das hat mich geprägt. Gleichzeitig war ich groß genug, um mich noch an die Vorzüge eines bürgerlichen Lebens zu erinnern. Der Aufstiegswille war gewissermaßen implantiert von der ehrgeizigen Mutter in den Jungen. Und ich habe später erlebt, wie Kinder auf dem Gymnasium buchstäblich sozial ausgesiebt worden sind. Falscher Hintergrund – keine Förderung. Das hat mich frühzeitig „politisiert“, wie man heute sagt.

Aber die Wähler entscheiden sich doch in den seltensten Fällen für einen Politiker aufgrund dessen Biographie.
Naumann: Ja gut, aber umgekehrt wird jemand nur dann Politiker, wenn er ein Motiv hat, etwas zu verändern, zu verbessern. Wer zum Beispiel kein Gefühl für Gerechtigkeit hat, sollte sich von der Politik fernhalten. Und wer in die Politik geht, um einen Posten zu ergattern, den kann man  vergessen.

In Wahlumfragen wird nicht die Frage gestellt „Kennen Sie die Biographie dieses Politikers?“, sondern lediglich: „Kennen Sie den?“. Die Biographie spielt höchstes dann eine Rolle, wenn gerade ein Skandal aufgedeckt wird. Ist so etwas nicht desillusionierend?
Naumann: Nein. Man muss es ja nicht hinnehmen. Und Illusionen hatte ich nicht.
Die Bild-Zeitung hatte nach Bekanntgabe meiner Kandidatur Pappkameraden in Lebensgröße von mir in diversen Stadtteilen aufstellen lassen. Dann wurden Reporter und Fotografen daneben gestellt, die die Leute fragten, „Kennen Sie diesen Mann?“. Die Leute kannten mich nicht – reagierten aber positiv auf das Foto. Es kamen auch unglaublich nette Antworten, die sogar gedruckt wurden. Danach war ich dann allerdings nicht mehr abbildbar (lacht).

Der Wahlkampf mit Bildern, das ist vor einigen Jahren aus den USA zu uns rübergeschwappt…
Naumann: Ja, Wahlkämpfe in Deutschland werden seit den 60er Jahren nach amerikanischen Mustern geführt. Die Sozialdemokraten waren nach 1962 die ersten, die einen rein optischen, auf Wohlfühl-Stimmung ausgerichteten Wahlkampf  geführt haben. Die Plakat-Optik entsprach einer Art Apfelsinensaft-Reklame. Bunt, schön, sympathisch. Das kam aus den USA.

Und es ist bisher nicht besser geworden.
Naumann: Nein, es wird allenfalls dümmer. Von Ole von Beust gab es Plakate von der Größe einer Häuserwand. Plakate so groß wie Sozialwohnungen. Dort konnte man dann Gute-Laune-Sprüche lesen, aber es gab kein Programm. Null. Schwarzweiß-Fotos, hochästhetisch, designerpreiswürdig. „Euer Bürgermeister.“

Die SPD hätte für ihre Schröder-Plakate 1998 sicherlich auch schon Designer-Preise bekommen können.
Naumann: Da sind wir uns einig.

Lässt sich die Marketing-Schraube im Wahlkampf wieder zurückdrehen?
Naumann: Ja.

Und wie?
Naumann: Ich glaube, die beste Lehre sind Wahlniederlagen. Irgendwann werden die beiden großen Parteien sich neue Wahlkampfmethoden überlegen müssen. Sie verlieren ja schon an Rückhalt, gegenüber den bürgernahen, streckenweise populistischen, freien Wählergruppen mit deren sehr konkreten Anliegen. Das liegt daran, dass die großen Parteien in ihren Wahlkampfdarstellungen zu abstrakt geworden sind. Ich glaube, dass sie einen völlig neuen Weg finden müssen, um ihre Wähler zu erreichen. Sie müssen sich modernisieren, sie müssen die Jungen ansprechen, sie müssen anständige Websites aufbauen – sie müssen das Internet nutzen wie das Obama gemacht hat. Er hat gezeigt, dass es möglich ist, eine ganze Generation der Jüngeren zu mobilisieren mit einem modern gestalteten, aber nicht unbedingt langweiligen Wahlkampf, mit modernen, informativen Websites, die nicht mit einem zehn Meter langen Zeigefinger versehenen sind. Im Gegenteil. Also, Entertainment in der politischen Selbstdarstellung ist legitim und Infotainment lässt sich nicht einfach aus der Welt schaffen, bloß weil wir jetzt alle seriös werden wollen oder die Lage so ernst ist.

Zitiert

Die Sozialdemokraten waren die ersten, die einen rein optischen, auf Wohlfühl-Stimmung ausgerichteten Wahlkampf geführt haben. Die Plakat-Optik entsprach einer Art Apfelsinensaft-Reklame.

Michael Naumann

Nun ist aber das Wahlkampfkonto eines Barack Obama hundert mal größer als das eines Frank-Walter Steinmeier.
Naumann: Das ist es auch durch das Internet geworden, durch 5-Dollar Spenden von Millionen Wählerinnen und Wähler.

Gut, aber wie denken Sie über das amerikanische Wahlkampsystem? Die kanadische Autorin Naomi Klein zum Beispiel sagt, es wird in den USA zu keinen großen politischen Veränderungen kommen, so lange dieses System nicht reformiert wird, ein System, das die Kandidaten abhängig macht, von den Teilen der Wirtschaft, die am meisten für den Wahlkampf spenden.
Naumann: Da ist was dran. Wobei ich das nicht so sehr bei den Präsidentschaftswahlen sehe, wie bei den Senatoren- und Abgeordnetenwahlen in den USA. Da gibt es nachweisbare Zusammenhänge zwischen legislativen Initiativen und Abgeordneten-Spenden – man könnte auch sagen: Bestechung.

Sehen Sie diese Abhängigkeit also auch in Deutschland?
Naumann: Man sollte dafür sorgen, dass die Wahlkämpfe in Deutschland, so wie sie jetzt laufen, beschränkt bleiben, auf das, was die Wahlkampfgesetze gestatten. Man kriegt pro gewonnene Stimme eine Summe X. Die ist in letzter Zeit von den Parteien erhöht worden, musste es auch, weil die Parteien sonst buchstäblich pleite gehen würden. Das würden sie aber auch, wenn keine Spenden mehr existieren.
Wobei ich persönlich es für vernünftiger halten würde, Spenden durch Steuergelder zu ersetzen. Angemessene Zuwendungen aus dem Bundesetat halte ich für besser als die etwas undurchsichtigere Spendenpraxis.

Bei der Einflussnahme der Wirtschaft in den USA im Wahlkampf, wird Politik und Wirtschaft da nicht mehr oder weniger austauschbar?
Naumann: Also, der Einfluss der Wirtschaft auf die Politik und vice versa ist natürlich eine alte Sache. Aber austauschbar geworden sind die beiden Seiten nicht, wie man ja gerade sehr schön beobachten kann.

Aber wenn Politiker wie Autos oder Parfum auf Megapostern beworben werden, sind wir doch schon nah dran, an Politik als Konsumartikel.
Naumann: Ja, in der Außendarstellung. Aber nicht inhaltlich.

Und wenn man sich den Wirtschafts-Lobbyismus unter Bush anschaut, die Firmen, die als erste im Irak umfangreiche Verträge bekommen haben…
Naumann: Ja, da haben Sie Recht, Halliburton und die Subfirma von Halliburton sind durch Vizepräsident Cheney in der amerikanischen Regierung massiv vertreten. Sie sind selbstverständlich die Nutznießer des Irak-Krieges. Der ehemalige CIA-Chef James Woolsey hat das damals, als die Schröder-Regierung beim Irak-Krieg nicht mitmachen wollte, auch ganz schamlos gesagt: Dann werde Deutschland später auch keinen Anteil an dem Ölgeschäft im Irak haben.

Welche Erwartungen haben Sie an Obama? Wird er etwas verändern können?
Naumann: Das will ich hoffen. Doch nach einem Wahlsieg trifft er auf eine fatale Situation, weil das globale Finanz-System gerade in der gravierendsten Krise steckt. Das ist eine Lage, in der das Weiße Haus zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte Amerikas massiven Einfluss auf das Finanzkapital nehmen kann und bereits nimmt, so wie aktuell die Bundesregierung in Deutschland. Weil die Regierung als Bank of last Resort, als Rettungsinstitution Milliarden zur Verfügung stellt, Geld, das dem Staat, sprich dem Steuerzahlern gehört, repräsentiert durch die Politiker. Und die werden enormen Einfluss haben, wenn sie wollen. Sie könnten das Bankenwesen massiv reformieren.

Wie? Mit welchem Ziel?
Naumann: Ich persönlich würde sagen, dass man die Hunderte von innovativen Bankprodukten wieder auf die ursprünglichen Produkte zurückführen muss: Aktien, Kredite, Pfandbriefe. Es muss Schluss sein mit all diesen virtuellen Geldmaschinen, die da aufgebaut worden sind, denen nichts zugrunde lag, außer eine Art Kettenbrief-Mentalität.

Aber wird Obama Politik und Wirtschaft so weit entkoppeln können, wie es notwendig ist?
Naumann: Fragen Sie mich was Leichteres. Jedenfalls glaubt er nicht wie Bush, die offenkundige Krise der Globalisierung im Alleingang bewältigen zu können.  Seine innenpolitische Programmlinie entspricht in etwa der SPD in Deutschland. Nicht Umverteilung, aber bessere Durchlässigkeit, Bildung, soziale Gerechtigkeit – das können Sie alles bei den amerikanischen Demokraten, aber auch bei der SPD nachlesen.

Vor der Wahl.
Naumann: Auch danach, da bin ich mir ziemlich sicher. Weil der finanzielle Schock, der auf Amerika liegt, ja noch längst nicht verarbeitet worden ist. Der wird noch auf unendlich viele einzelne Bürger zukommen und so enorm sein, dass eine Reform – nach all dem was in Washington schief gegangen ist – leichter sein wird, als in einer Situation, in der es der Mehrheit der Amerikaner gut geht. Jetzt ist die Krise da und damit auch die Chance, etwas zu verändern. Ich bin auch sicher, dass Obama diese Chance wahrnehmen wird. Er bringt nämlich noch einen großen Vorteil mit: Er hat eine hohe Attraktivität auf die intellektuelle, geistige Elite der USA – von Bush kann man das nicht sagen. Und in dieser Elite befinden sich eine Menge kluge Leute, die schon früher in der Politik waren oder die wie der Nationalökonom und Publizist Paul Krugman mal eben einen Nobelpreis gewonnen haben, die zur Verfügung stehen würden.

Ist denn das Image eines Intellektuellen hilfreich für einen Wahlkämpfer?
Naumann: Nein. Es ist nicht förderlich. Ich habe auch immer abgelehnt, ein Intellektueller genannt zu werden. Bin ich auch überhaupt nicht.

Warum haben Intellektuelle in Deutschland so einen schlechten Ruf?
Naumann: Weil sich viele Intellektuellen sich in der Vergangenheit in ihren politischen Thesen getäuscht haben. Wo sind nur all die deutschen Maoisten geblieben? Von den Altkommunisten ganz zu schweigen. Mit den Intellektuellen in den USA meine ich jetzt aber nicht Ideologen, sondern Experten an den Universitäten, Ökonomen, Soziologen, Gesellschaftswissenschaftler. Da gibt es eine Menge und die sind hundertprozentig mehr angezogen von einem Mann wie Obama als von einer problematischen Figur wie McCain. Der hat dem enormen geistigen und wissenschaftlichen Potential der Vereinigten Staaten doch einen Riegel vorgeschoben, indem er diese törichte Frau aus Alaska nominiert hat.

Aber das Image von Georg W. Bush als Cowboy hat seinerzeit doch auch viele Leute angesprochen.
Naumann: Ja. Aber er war zumindest für die Texaner selbst eher peinlich: Er ist überhaupt kein Cowboy. Er ist ein Millionärssöhnchen, der in seinem Leben über 120 Todesurteile unterschrieben hat. Ich kenne keinen anderen Cowboy, dem man das nachsagen kann. Cowboy, ja, das war nur ein Image. Er ist ein Trunkenbold gewesen in seiner Jugend, ein Mann, der sich vor dem Kriegsdienst in Vietnam gedrückt hat – wie alle in seiner Regierung, die gleichzeitig diesen merkwürdigen Hang zu militärischen Aktivitäten hatten. Das kann man von der nächsten Regierung nicht erwarten.

Frank-Walter Steinmeier an der Siegessäule – funktioniert das?
Naumann: Wie kommen Sie darauf?

Wir reden doch gerade von Obama, dem Charismatiker, dem Popstar.
Naumann: Ich glaube, dass über 200.000 Menschen zu Obama an die Siegessäule gekommen sind, ist ein Triumph des Handys und des Internets. Außerdem hat es mit den jungen Berlinern zu tun, die immer noch neugierig sind auf das andere Amerika. Und auch mit der Hoffnung vieler Deutscher, dass der nächste Präsident endlich wieder unseren idealistischen Vorstellungen entspricht. Die Deutschen sehnen sich immer noch nach John F. Kennedy und seiner Prinzessin.

Sicher. Aber noch mal die Frage: Was passiert, wenn man Frank-Walter Steinmeier an die Siegessäule stellt?
Naumann: Also, ob Steinmeier 200.000 Leute…? Das ist ja noch nicht mal Gerhard Schröder gelungen. Nein, ich vermute, das wird so nicht sein.

Fehlt Steinmeier das nötige Charisma, um die Menschen in den Bann zu ziehen?
Naumann: Ach wissen Sie, Neugier der Menschen auf einen Einzelnen produziert auch Charisma. Wer vor 200.000 Menschen gesprochen hat, wird sich sein Leben lang daran erinnern. Diese Erfahrung bleibt haften und verändert auch den Redner. So wie Kennedy sich an seine Vorstellung vor dem Schöneberger Rathaus erinnert hat. Er sagte immer, dass sei das tollste Erlebnis für ihn gewesen. Charisma ist nicht etwas, das man von Geburt an besitzt und durch einen Schalter anstellt. Es ist ein dialektischer Prozess zwischen der Masse, die Nöte hat – wirtschaftliche, soziale, ökonomische, religiöse, ideologische –  und jemandem, der behauptet, diese lösen zu können. Viele können das behaupten, aber nur wenige haben zuglerich diesen raumerfüllenden Charakter und die dazu gehörige Glaubwürdigkeit. Das ist faszinierend. Ich habe das bei Schröder beobachtet, auch bei Kohl…

…und bei Angela Merkel?
Naumann: Nein, bei Merkel überhaupt nicht. Merkel fehlt das gewisse Etwas. Sie ist tüchtig und zweifellos sehr, sehr schlau. Allerdings hat sie schon zu oft ihre Meinung geändert. Zu Charisma gehört Standfestigkeit, bei Strafe der eigenen Abwahl. Denken Sie an Churchill. Aber Charisma hat sie einfach nicht und das kann auch nicht von PR-Agenten hergestellt werden. Bei Schröder ist das noch heute so, wenn der einen Raum betritt, erstirbt erst einmal das Gespräch und alle gucken hin. Auch wenn er keine politische Macht mehr hat, bei dem ist das einfach so. Einige haben es, andere nicht. Putin zum Beispiel hat es auch nicht und alle Versuche, ihn mit einem Charisma auszustatten sind grotesk.

Hat sein Nachfolger Medwedew Charisma?
Naumann: Ach, der noch weniger.

Sie erwähnten Gerhard Schröder: Sind Sie mit ihm freundschaftlich verbunden?
Naumann: Ja.

Nun sprachen wir ja schon über die Verflechtungen von Wirtschaft und Politik, bei Schröder sind diese nun allseits bekannt und heftig kritisiert worden. Hält das so eine Freundschaft auch aus?
Naumann: Ja, selbstverständlich. Ich kann dazu nur Folgendes sagen: Gerhard Schröder ist nicht der Chef von Gasprom, er ist auch nicht im Vorstand von Gasprom, sondern er ist im Aufsichtsrat einer russischen Firma, die durch die Ostsee eine Gaspipeline baut, zum Nutzen Deutschlands und seiner Nachbarländer. Das halte ich für eine sinnvolle Tätigkeit. Und dieser Sachverhalt ist auch kein Beispiel für die Verflechtung von Wirtschaft und Politik in dem Sinne, der Ihnen vorschwebt. Wer aus der Politik ausscheidet, hat das Recht, auch anderswo zu arbeiten.. Niemand hätte etwas dagegen gesagt, wenn es sich dabei um eine englische Gaspipeline-Firma handelte. Stimmt’s? Man muss sich nur daran gewöhnen, dass wir mit Russland nicht mehr im Kalten Krieg stehen. Man muss sich auch daran gewöhnen, so schwer es fällt, dass es realpolitische Zusammenhänge und Sachzwänge gibt – schon aufgrund der geographischen Situation Deutschlands und Russlands, von unserer Geschichte ganz abgesehen..

Aber in England wird kein wichtiger Wirtschaftsreformer einfach so für Jahre nach Sibirien in ein Gefängnis verbannt, werden nicht der Reihe nach wichtige Politik-Journalisten ermordet…
Naumann: Natürlich nicht. Und was Ihren „Reformer“ betrifft – da beklage ich mit Ihnen das Fehlen oder die kaum vorhandene Rechtstaatlichkeit in Russland; allerdings sind fast alle Oligarchen genau deshalb so steinreich geworden. Wie auch immer  – wenn ich in der Situation von Schröder wäre, würde ich so oft und so heftig wie möglich mit Putin darüber reden. Ob er das tut, weiß ich nicht. Aber das ist seine Sache. Ich bin schon der Meinung, dass man den Russen in dieser Angelegenheit die Meinung geigen soll. So gut es geht.

Wenn Schröder das tun würde, hätte er diesen Job wahrscheinlich nicht bekommen.
Naumann: Ihre Vermutung.  Was schlagen Sie denn vor? Das wir sagen sollen: „Wir reden nicht mehr mit den russischen Politikern und wollen nichts mehr mit ihnen zu tun haben“? Wohin führte das?

Nun hat Schröder seine Männerfreundschaft zu Putin aber geradezu zelebriert. Ähnlich wie Angela Merkel, als sie George W. Bush zum Wildschweingrillen nach Heiligendamm einlud…
Naumann: Das ist schon richtig. Merkel hat sich aber auch zu Guantanamo geäußert. Gott sei Dank! Und Helmut Schmidt hat sehr gute Beziehungen zu einem der chinesischen Präsidenten, trotz tausender Todesurteile im vergangenen Jahr. Wir kommen hier in das interessante Spannungsfeld zwischen Moralpolitik und Realpolitik. Ich persönlich bin für offene Worte und kritische Aussprachen bei Gipfeltreffen. Im übrigen geht es nicht nur um Politiker, sondern auch um das Engagement aller anderen. Ich engagiere mich bei der amerikanischen Organisation Human Rights Watch; ich habe das Hamburger Chapter hier in Deutschland zusammen mit meiner Frau mitgegründet.
Ich denke allerdings auch, dass ethische Überlegungen in der Außenpolitik noch stärker bestimmend sein müssen, dass die Politiker sie nicht nur den NGOs überlassen können. Ich bin aber gleichzeitig der Meinung, dass es strategische, sicherheitspolitische, wirtschaftliche, energiepolitische Gesamtinteressen Deutschlands gibt, die Politiker wahren müssen. Du musst als Kanzler oder Außenminister dafür sorgen, dass dieses Land, für das du die Verantwortung trägst, in einer Beziehung zu anderen Nationen steht, die nicht ausartet in militärische, ökonomische oder andere Konflikte. Bei aller begründeter Rechtschaffenheit: Da musst du als amtierender demokratischer Politiker manchmal die Zähne zusammenbeißen. Eines können wir uns nicht leisten – einen neuen Kalten Krieg.

Ihr Freund Schröder neigte jedenfalls zu Schönfärberei und sein in dieser Hinsicht bekanntestes Zitat war die Bezeichnung Putins als „lupenreiner Demokrat“. Haben Sie mal mit Schröder darüber gesprochen?
Naumann: Ich würde sagen, diese Lupe muss erst noch geschliffen werden.

Herr Naumann, Sie waren vor ein paar Monaten noch Anwärter auf das Amt des Hamburger Bürgermeisters. Heute sind Sie wieder „Zeit“-Herausgeber. Sehen Sie bei Ihrer jetzigen Arbeit einen ähnlichen Gestaltungsspielraum, wie Sie ihn in der Politik gesucht haben?
Naumann: Nein, ich bin jetzt 66 Jahre und das Blatt wird vom Chefredakteur Giovanni di Lorenzo gestaltet. Meine Aufgabe ist es, zu beraten, zu schreiben, Konferenzen zu organisieren, Reden zu halten und meine Erfahrung einzubringen. In die „Zeit“ bin ich vor  37 Jahren eingetreten – und seitdem immer wieder zu ihr zurückgekehrt.

Aber allgemein gesprochen, hat man als Blattmacher bei der „Zeit“ diese Möglichkeiten? Hat man einen politischen Gestaltungsspielraum oder ist man nur der Beobachter?
Naumann: Nun, die „Zeit“ ist ein Meinungsblatt. Wir wollen die Politik als Journalisten natürlich zumindest indirekt mit beeinflussen durch Kontrolle und Vorschläge. Jeder Reporter möchte, wenn er schreibt, im Sinne der Aufklärung arbeiten. Das ist nicht nur Eitelkeit, sondern man möchte die Welt verändern, verbessern. Warum sonst wird man Journalist?  Das ist schon immer die Aufgabe unseres Blattes gewesen und insofern ist die „Zeit“ gewissermaßen ein geballter Gestaltungswille. Im Sinne der Aufklärung.

In Hamburg wollten Sie nicht nur aufklären, sondern direkt Hand anlegen.
Naumann: Ja, das wollte ich. Ist aber schiefgegangen.

Ihnen wurde vorgeworfen, dass Sie sich danach sofort wieder aus der Politik verabschiedet haben.
Naumann: Merkwürdig, die selben Leute, die mir vorwarfen, als Journalist in die Politik zu gehen, haben mir dann vorgehalten, dass ich wieder Journalist werden wollte – und musste. Im übrigen bin ich ja durchaus Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft geworden – allerdings in der festen Überzeugung, als Verhandlungsführer mit der SPD in eine große Koalition zu gehen. Wir hatten mit der CDU auch praktisch keine Konflikte – aber die CDU wollte etwas anderes, nämlich einen kleinen Koalitionspartner. Die hatten Angst – wenn die SPD wieder den Fuß in der Tür hat, wie man so sagt –  dass die CDU die nächste Wahl verlieren würde. Verstehe ich. Dieses Vorhaben ist also gescheitert. Ich bin aber hauptberuflich Journalist und habe nicht vor, in Rente zu gehen. Was mache ich dann? Ich kann nicht in der „Zeit“ über Politik schreiben und gleichzeitig im Parlament sitzen. Für die Anwälte oder Lehrer in der Hamburger Bürgerschaft stellt sich diese Frage natürlich nicht.  Also musste ich mich entscheiden: Entweder bleibe ich im Stadtparlament, verdiene ca. 2000 Euro – das ist ja ein Freizeitparlament –  oder ich verdiene meinen Lebensunterhalt als Herausgeber der „Zeit“. Als Rentner wollte ich nicht im Parlament sitzen. Insofern fiel mir die Entscheidung leicht – und schwer zugleich.

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