Mirjam Pressler

Mir tun junge Menschen leid, wenn sie gar nicht lesen.

Mirjam Pressler über ihren Roman „Nathan und seine Kinder“, E-Books und die Unersetzbarkeit von Büchern

Mirjam Pressler

© mirjampressler.de

Frau Pressler, unter jungen Lesern wird das Lesen von Mangas immer populärer, wie bewerten Sie das?
Pressler: Ich finde das hübsch, aber ich habe es wirklich nicht mit Comics. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, eines Tages mal an einem Comic mitzuwirken – das ist nicht meins.
Ich denke, man sollte im jungen Alter ebenso Klassiker lesen, auch wenn diese nicht so leicht zu lesen sind. Einfach weil es dazugehört und weil es zur Verständigung nötig ist. Sie werden sonst manche Sachen überhaupt nicht lesen und verstehen können, weil sie nicht die Vorbildung haben. So verlieren sie die Möglichkeit der Kommunikation: Sie verstehen Zitate nicht mehr und können auf Dinge, auf die wir ganz normal zurückgreifen, nicht mehr zurückgreifen. Da frage ich mich, wie dann die Verständigung laufen soll.

Wie sehen Sie die Tendenz, dass Jugendliche und Kinder heutzutage oft andere Medien den Büchern vorziehen?
Pressler: Auch früher haben nicht alle Kinder oder Jugendlichen gelesen, deswegen finde ich es gar nicht so furchtbar. Aber dadurch, dass es mehr Medien gibt und somit mehr Dinge, die sie machen können, geht natürlich sehr viel Zeit verloren, die sie nicht für das Lesen nutzen. Mir tun junge Menschen leid, wenn sie gar nicht lesen. Bücher können Dinge in einer Art und Weise ansprechen, wie es meinem Gefühl nach kein anderes Medium kann.

Wie könnte man Kinder und Jugendliche noch mehr an Bücher heranführen?
Pressler: Indem man ihnen viele Bücher anbietet. Wenn es zuhause allerdings keine Bücher gibt und die Eltern die BILD-Zeitung lesen, sehe ich wenige Chancen für die Kinder.

Was ist Ihr Hauptanliegen, wenn Sie Bücher schreiben?
Pressler: Ich schreibe hauptsächlich für mich und habe kein Anliegen, zumindest nicht vordergründig. Ich schreibe gerne, es macht mir Spaß mit Sprachen zu arbeiten und Geschichten zu erzählen.

Ihre Bücher thematisieren oft ernste Themen. Geht die Orientierung an realen Problemen in der heutigen Kinder- und Jugendliteratur verloren?
Pressler: Sicher ist das ein bisschen verloren gegangen, aber es wird wiederkommen, so etwas verläuft in Wellen.

Zitiert

Wenn es zuhause keine Bücher gibt und die Eltern die BILD-Zeitung lesen, sehe ich wenige Chancen für die Kinder.

Mirjam Pressler

Was für konkrete Lösungsmöglichkeiten bieten Sie in Ihren Büchern jungen Menschen an?
Pressler: Ich erzähle Geschichten, Geschichten von Personen. Es geht mir wirklich nicht darum, dass ich eine Form von Happy-End biete oder sage: „Das und das wäre die Lösung.“ Ich bin aber dafür, dass man über alles redet und sich Gedanken macht.

Und wie ist die Resonanz bei den Lesern?
Pressler: Immer wieder kommen Leute und sagen: „Das war’s, das Buch damals hat mir geholfen." Das geht, glaube ich, allen Autoren so. So funktionieren Bücher natürlich. Auch mir haben bestimmte Bücher geholfen oder haben mich beeindruckt, das muss nicht unbedingt Weltliteratur sein. Ein bestimmtes Buch zum richtigen Zeitpunkt kann viel bewirken.

Es wird oft die negative Wirkung von Medien diskutiert, durch z.B. Gewaltfilme bei Jugendlichen. Können auch Bücher einen negativen Einfluss haben?
Pressler: Man kennt es schon von „Die Leiden des jungen Werthers" von Goethe: Nach der Veröffentlichung des Romans gab es damals haufenweise Selbstmorde. Ich denke, dass Gewaltverherrlichung schaden kann, vor allem wenn sie mit Bildern gekoppelt ist. Das hat so einen gewissen Gewöhnungseffekt, Gewalt wird etwas Normales.

Mit Ihrem neuen Buch „Nathan und seine Kinder" adaptieren Sie einen bekannten Klassiker. Welche Idee steht für Sie dahinter?
Pressler:  Zuerst einmal habe ich schon zwei Bücher geschrieben, die in diese Richtung gehen. Einmal „Shylocks Tochter“, da geht es um den „Kaufmann von Venedig" von Shakespeare und dann „Golem stiller Bruder", dort erzähle ich eine jüdische Sage nach. Dazu passt mein neues Buch sehr gut. Der Hauptgrund ist, dass ich sehr dafür bin, dass Geschichten immer wieder erzählt werden, dass sie nicht verloren gehen. Als meine Töchter in der Schule „Nathan der Weise" gelesen haben,  kamen sie nach Hause und sagten: „So ein Gelaber"  und wollten es nicht lesen. Da habe ich damals schon gedacht  „So gehen Geschichten verloren, so geht die Ringparabel verloren!" Wie sollen Leute merken, welche Geschichten es wert sind, bewahrt zu werden, wenn sie nicht erzählt werden? „Nathan der Weise" ist im Original sehr schwer zu lesen und ist vor allem keine richtige Geschichte. Das Stück besteht eigentlich nur aus Statements, es wird die ganze Zeit nur Toleranz gefordert, ohne zu erzählen, wo der Druck herkommt und was genau darunter zu verstehen ist.

Aber fiel es Ihnen nicht schwer, ein so bekanntes Stück neu zu erzählen?
Pressler: Es war überhaupt nicht leicht. Die Geschichte spielt um 1200 n. Chr. in Jerusalem, das war die Zeit der Kreuzzüge. Als Lessing das geschrieben hatte, konnte er sicherlich fest damit rechnen, dass alle Leute über die Kreuzzüge Bescheid wussten. Das ist heute nicht mehr so. Ich musste also wahnsinnig viel recherchieren. … Doch ich habe nicht gezögert ein solches Werk umzuschreiben, ich habe das relativ unbefangen gemacht. Natürlich werden irgendwelche Leute sagen, ich hätte mich vergriffen. Aber ich will, dass die Geschichte bleibt.

Das Hauptmotiv in „Nathan der Weise" ist die religiöse Toleranz. Wie würden Sie Toleranz definieren?
Pressler: Da gibt es diesen platten Spruch „Leben und leben lassen". Toleranz bedeutet anderen zuzugestehen, etwas anderes zu denken. Lessing forderte die Vernunft, das ist es was wir brauchen. Das funktioniert bis heute nicht. Es war damals in Jerusalem so und ist auch heute noch so.

Warum sind Klassiker heutzutage noch wichtig? Gibt es nicht auch gute neuere Literatur?
Pressler: Klassiker sollten weiterhin gelesen werden, das ist unser kulturelles Erbe. Aber auch Kinderbücher wie „Huckleberry Finns Abenteuer“ oder die „Rote Zora“ – die gehören für mich zu den Klassikern, die eigentlich jedes Kind mal gelesen haben sollte. Doch auf die alten Klassiker sollte man nicht ganz verzichten.

Das E-Book wird immer populärer, haben Sie schon einmal eins gelesen?
Pressler: Nein, aber ich könnte es mir gut vorstellen, dass ich mir das irgendwann anschaffe, zum Beispiel für Reisen. So kann ich mehr Bücher dabeihaben. Es ärgert mich, wenn ich im Urlaub bin und merke, dass ich die drei falschen Bücher mitgenommen habe. In solch einer Situation könnte ich es mir gut vorstellen. Zuhause möchte ich lieber richtige Bücher lesen.

Ist das E-Book vielleicht auch eine Chance junge Menschen mehr für das Lesen zu begeistern?
Pressler: Ja, es ist natürlich eine Spielerei. Ich mag diese technischen Spielereien auch sehr gerne, ich liebe meinen Computer sehr. Wenn sie Bücher lieber als E-Book lesen wollen, dann ist es okay, da habe ich überhaupt nichts dagegen. Ich habe lieber ein Buch in der Hand.

Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt geboren. Sie studierte an der Akademie für bildende Künste in Frankfurt a. M. und arbeitete danach in verschiedenen Berufen, u. a. in einem Kibbuz in Israel. 1979 begann sie mit dem Schreiben, heute ist sie mehr

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