Mr. Alexander, können Sie sich noch erinnern, wie sich das anfühlt: mit 21 die erste Platte zu veröffentlichen, auf deren Cover bereits der Titel prangte: „Alexander der Große“?
Monty Alexander: Ich hatte das so natürlich nicht erwartet. Ich bin damals in die USA gekommen und hatte drei Jahre später bereits eine LP bei einem der Top-Jazz-Label. Das war aufregend! Ich habe in New York in einem Club namens Jilly’s gespielt, wo Frank Sinatra mich entdeckte. Kurz darauf gab es die Möglichkeit, ein Album für Pacific Records aufzunehmen.
Und die Idee zum Titel?
Monty Alexander: Das war ganz sicher nicht meine. Ich war damals glaube ich 22 und bin oft während der Pausen von Jilly’s ein paar Schritte weiter zum Ende der Straße gelaufen, wo das Birdland war, um zu sehen, wer dort gerade spielte. Dort waren all die großen Musiker, John Coltrane, Horace Silver, Art Blakey, Duke Ellington. Auch Les McCann spielte dort – und einmal ist er in seiner Pause rüber ins Jilly’s gekommen, hörte mich spielen und empfahl dann seinem Plattenboss, mit mir eine Aufnahme zu machen.
War man als Pianist auch Konkurrent?
Monty Alexander: Nein, überhaupt nicht. Ich denke, jeder hatte den Willen, dass Beste zu machen, aber es war ein freundlicher Wettbewerb. Ich war inspiriert von Les McCann, auch von Oscar Peterson, Nat King Cole, Ahmad Jamal, Art Tatum und Erroll Garner – das waren meine Klavierhelden.
Hatten Sie Klavier studiert?
Monty Alexander: Nein. Ich war nicht auf der Musikschule, ich hatte nur in frühen Jahren ein paar Klavierstunden. Angefangen zu spielen habe ich vor allem, weil ich in Jamaika Leute habe spielen sehen. Als ich drei oder vier war bin ich selbst ans Klavier gegangen und habe angefangen zu spielen, habe Lieder erfunden, kleine Folk-Songs, … ich konnte Sachen nachspielen, die ich im Radio hörte. Meine Eltern waren erstaunt, und dachten, ich sei ein kleiner Mozart.
Wenn ich mich „blue“ fühle, kann ich mich ans Klavier setzen, und dieses Gefühl fortjagen.
Wen würden Sie als Ihre Lehrer benennen?
Monty Alexander: Ich war immer fasziniert, wenn ich einen alten Mann am Klavier sah, ob das nun der Organist in der Kirche oder ein Barpianist war. Es gab auch Pianisten, die in den Hotels für die Touristen gespielt haben. Da erinnere ich mich an einen Mann namens Aubrey Adams, ein wunderbarer Gentleman. Der merkte, dass ich Talent habe und ermutigte mich, einen Song auf dem Klavier zu spielen, das war aufregend. Adams war der jamaikanische Einfluss, den ich hatte.
Daneben war auch Louis Armstrong mein großer Held, eine so freudvolle Person und dazu die swingige Musik, die er spielte. Auch die jamaikanischen Bands haben mich beeinflusst, mit Banjo, Gitarre, Maracas und der Calypso-Musik. Einmal habe ich auch Nat King Cole in Jamaika gehört, meine Eltern hatten alle seine Platten.
Mussten Sie Noten lernen um voran zu kommen?
Monty Alexander: Nein, nie. Die Noten hinderten mich ja daran, besser zu werden. Ein ständiger Blick auf die Noten hätte meinen Ausdruck behindert, die Seele der Musik wäre nicht zur Geltung gekommen. Für mich wurde das Hören viel wichtiger. Ich fühlte mich nicht wohl mit dem Notenlesen, auch wenn ein Profi das eigentlich können muss. Ich hätte dadurch sicher auch mehr Möglichkeiten gehabt, Studioaufnahmen zu machen. Aber ich war auch ohne das froh, ich spielte ja bereits Konzerte.
Dee Dee Bridgewater erwähnte in unserem Interview ebenfalls, dass sie keine Noten lese…
Monty Alexander: Genauso war es mit Frank Sinatra, Tony Bennett und Erroll Garner, die haben auch nie Noten gelesen, aber sie waren unglaublich, sie haben einfach ihr Ohr benutzt.
Was spielten Sie eigentlich, als Sinatra Sie im Club Jilly’s entdeckte?
Monty Alexander: Das war nicht nur Jazz, das waren einfach Songs, die ich mochte, auch Songs, die Fats Domino gespielt hat. Und natürlich alle möglichen Standards. Die kannte ich, weil wir zuhause viel Platten hörten, von Louis Armstrong, Nat King Cole… Die haben die Standards gesungen wie „World on a String“, „It’s Only a Paper Moon“, die Songs von Gershwin, Cole Porter, Jerome Kern…
Wie wichtig ist dieses Liedgut heute noch?
Monty Alexander: Viele Jazz-Musiker wollen heute um jeden Preis einzigartig und individuell sein, weshalb sie sich absichtlich von der Tradition absetzen, von der Geschichte des Standards, vom Great American Songbook. Sie bewegen sich dann nicht nur von den Songs weg, sondern auch von der Haltung. Wenn ein junger Pianist heute einen Standard spielt kann man manchmal gar nicht mehr erkennen, welcher Song das ist. Das ist dann schon fast andere Musik, für die man ein anderes Wort finden müsste. Jazz ist für mich, wenn du diese Gemeinschaft von Musikern hast, die zusammen swingen. Heute ist aber alles sehr ernst geworden, fast so wie in der klassischen Musik.
Also eher der Gedanke der Kunstmusik?
Monty Alexander: Absolut. Es ist natürlich auch großartig, wenn man Leute hört, die sehr talentiert sind. Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass da einer am Klavier sitzt, der gerade große Schmerzen erleidet. Für mich war es immer wichtiger, dass es sich gut anfühlt. Natürlich ist nicht jeder Moment in deinem Leben erheiternd, es passieren schreckliche Dinge. Musik ist auch das Leben, was du gesehen und erlebt hast, was du gefühlt hast. Aber dann spielst du zwischendurch auch mal etwas Albernes wie „Three Blind Mice“ – und machst einen Spaß daraus.
Das ist ja auch das, was die meisten Leute wollen: eine gute Zeit haben. Ich muss denen nicht zeigen, wenn ich verärgert bin. Sondern die sollen am Ende rausgehen und denken „Gut dass ich hier war“, und wenn sie Ärger hatten, haben sie den durchs Konzert vielleicht schon vergessen.
Und wenn Sie mal schlechte Laune haben?
Monty Alexander: Wenn ich mich „blue“ fühle, sauer bin oder ein Problem hatte mit jemandem, kann ich mich ans Klavier setzen, und dieses Gefühl fortjagen. Geh weg, ich will dich nicht!
Hat Ihre positive Einstellung auch etwas mit dem Klima und dem sonnigen Wetter auf Jamaika zu tun?
Monty Alexander: Vielleicht. Wenn du in einer Umgebung aufwächst, wo die Sonne scheint, du das Meer und eine Brise hast – das kann die Leute schon beeinflussen. Aus Nordeuropa höre ich immer, dass dort viele Leute mentale Probleme haben, in den kalten Regionen.
Wie sind denn Ihre Erinnerungen an den Schwarzwald, wo Sie für das Label MPS Aufnahmen gemacht haben?
Monty Alexander: Ich liebte es, im Schwarzwald zu sein. Mit diesen unglaublichen Pinien, mit dem Schnee, mit der Bratwurst…
Die Zeit bei MPS ist wirklich ein schöner Teil in meinem Leben gewesen. Ich habe Hans Georg Brunner-Schwer kennen gelernt, Oscar Peterson hatte mich gehört und hatte ihm empfohlen, mich aufzunehmen. Weil sie auch nach jungen Musikern suchten. Vom ersten Moment an als ich in Villingen ankam, fühlte ich gute Vibes. Man setzte sich im Wohnzimmer ans Klavier, dort wurde aufgenommen, es waren um die 20 Freunde von Hans Georg da – die hatten eine Party!
Wie haben Sie generell das Publikum in Europa erlebt, auch im Vergleich zu den USA?
Monty Alexander: Ich würde fast sagen, dass ich das Publikum in Europa mehr mag.
Der Punkt ist: In Amerika ist diese Musik geboren, gewachsen, und hat diese unglaubliche Ausdruckskraft bekommen. Deswegen sehen die Leute in Amerika diese Gabe als selbstverständlich an. Mit dem Aufkommen von neuen Herangehensweisen, beispielsweise von Wynton Marsalis, ist die Wertschätzung des Jazz in den USA zwar gewachsen. Aber wenn wir ehrlich sind: damals wurde es nicht geschätzt. Dagegen in Frankreich oder Deutschland, auf der ganzen Welt hat man realisiert, wie phänomenal Louis Armstrong war, oder Sidney Bechet und die großen Jazz-Komponisten. In den USA wurde das einfach als gegeben angesehen, während es in Europa mehr Bewunderung gab. Sowohl für die ernsteren Sachen als auch für die fröhlichen gibt es in Europa ein Publikum. Das macht mir Freude.
Nun werden Sie 70 Jahre alt, Ramsey Lewis ist 78, Herbie Hancock 73. Wie geht es weiter, welche Jazz-Pianisten machen Ihnen Hoffnung für die Zukunft?
Monty Alexander: Ich verfolge das nicht die ganze Zeit, aber hin und wieder gibt mir jemand einen Tipp. Ich habe gehört, dass es in New York exzellente Nachwuchs-Musiker gibt, die auch die Tradition weitertragen, die so viel Talent und Möglichkeiten haben, das Klavier sehr gut kontrollieren…
Ich würde zum Beispiel Gerald Clayton nennen, der ist außerordentlich. Der sitzt am Klavier wie ein Adler, ist dynamisch, spielt aufregend. Oder Dan Nimmer, der mit Wynton Marsalis spielt. Auch Jeb Patton der mit Jimmy Heath spielt – es gibt eine ganze Menge Leute. Sie sollten sich unbedingt Joey Alexander anhören – wir sind allerdings nicht verwandt. Der ist erst 12 Jahre alt, er ist ein Universalgenie, das ist ein Wunder.
Talente und Genies wird es auch immer geben. Nur die Zeiten ändern sich. Erst war es die Zeit als Jazz geboren wurde, dann kam die BigBand-Era, die Cool Era usw.
Welche Ära haben wir heute?
Monty Alexander: Heute ist es die Ära des Computers. Niemand nimmt sich mehr Zeit, alles geht schnell, es ist so viel zu tun, ständig muss man Emails beantworten – wir leben jetzt in einer anderen Welt.
Im Gegensatz zur Bigband-Ära ist Jazz ist heute eine Nische. Ist das Musikgeschäft auch härter geworden?
Monty Alexander: Es ist jetzt ein anderes Paradigma. Parallel zum Niedergang der Musikindustrie stieg die Nachfrage durch den Nachwuchs. Viele junge Leute wollten Jazz lernen, gingen auf die Musikschulen – aber nur nur wenige hatten dieses spezielle Talent. Der Rest ging raus, versuchte, Gigs zu finden, die Hälfte von ihnen wurde dann wieder Lehrer… Doch was Jazz damals so einzigartig machte, war ja auch, dass es noch nicht so viele Leute gespielt haben. Und unter den wenigen gab es diese gemeinsame Verbindung.
Heute ist das Klima ein anderes. Es gibt jetzt so viele junge Leute, jeder macht seine eigene CD… Es geschieht so viel und dadurch geht ein Stück Einzigartigkeit verloren. Daran ist im Grunde niemand schuld, sondern das kommt durch die moderne Welt, in der wir leben.
Der Pianist Robert Glasper sagte einmal, Jazz sei heute zu oft eine Geschichtsstunde, anstatt dass man einfach Musik macht, die sich gut anfühlt, die Spaß macht.
Monty Alexander: Dem stimme ich zu 100 Prozent zu. Ich würde vielleicht nicht ‚Geschichtsstunde‘ dazu sagen. Aber ich sehe, dass viele junge Leute dieses Akademische beibehalten. Vielleicht spielen sie großartig, aber sie denken das ganze eher wie ein Recital, wie in der klassischen Musik. Die meisten Lehrer denken ja nicht daran, dass es auch darum geht, dass sich das Publikum wohl fühlt. Stattdessen sollst du so viel wie möglich auf dem Saxofon lernen, Sachen wie Charlie Parker spielen, wie John Coltrane… Kein Lehrer sagt dir: Mach es um dich gut zu fühlen.
Und da ist Glaspers Haltung anders: Er will Spaß dabei haben, er kommt mit Groove, mit gewitzten Sounds, funky, im HipHop-Stil… Und er macht das auch, um dem Publikum zu dienen. Und wir sind Diener des Publikums.
Sie kommen aus Jamaika – wie viel Jazz steckt in der Musik Bob Marleys?
Monty Alexander: Gute Frage. Wenn ich Bob Marley singen höre, denke ich, er muss Billie Holiday gehört haben. Diese etwas träge Art zu singen, immer ein bisschen neben dem Beat, dieser Singsang, das ist fast wie Billie Holiday.
Und dann gibt es diese Geschichte zum Song „Exodus“. Als Marley damals in London war, fand einer seiner Musiker im Plattenladen eine LP mit Filmmelodien, gespielt von Jazz-Musikern. Bob hörte die Version der Filmmelodie von „Exodus“ (1960 komponiert von Ernest Gold) war inspiriert und machte aus dieser Melodie etwas eigenes. Und das ist Jazz für mich: nicht das reine Interpretieren wie in der klassischen Musik, sondern etwas nehmen und dann etwas eigenes daraus kreieren.
Wie viel Jazz-Songs haben Sie selbst komponiert?
Monty Alexander: 30 bis 40.
Aber wenn Sie keine Noten lesen können, wie haben Sie das festgehalten?
Monty Alexander: Mit dem Gedächtnis, ich habe die Songs ja immer wieder gespielt. Aber auch mit – raten Sie mal – dem Kassettenrekorder. (lacht) Wenn ich etwas behalten wollte, dann hatte ich einen alten Rekorder oder Walkman, habe es da reingesungen, bevor ich schlafen gegangen bin. Auf Papier aufzuschreiben wäre für mich zu anstrengend gewesen. Manchmal habe ich es auch aufgeschrieben und dann anstatt Noten die Buchstaben der Töne notiert und mit Bögen versehen, dort wo die Melodie hoch oder runter geht. (lacht)
Aber wissen Sie, die Musiker, mit denen ich spiele, sind in vielerlei Hinsicht genauso wie ich, sie benutzen ihre Ohren, da ist nie ein Blatt Papier auf der Bühne. Wir wollen das gar nicht, sondern die Musik entsteht durch die Verbindung untereinander, durch die Vibes, die Kommunikation.
Teilen Sie die Sichtweise: Im Jazz gibt es keine Fehler?
Monty Alexander: Lassen Sie es mich so sagen: Wenn du mit deinen Musikern die richtige Verbindung hast, wenn du diesen bestimmten Ausdruck hast, dann freut den Zuhörer ein vermeintlich falscher Ton genauso. Im Jazz geht es nicht um Perfektion. Es gibt Musiker, die perfekt sein wollen, aber das wird dann oft steril und kalt. Wenn ich Sinatra gehört habe und er mal eine Note nicht ganz getroffen hat, dann war es trotzdem wundervoll.
Von Ihnen stammt auch das Zitat: Schau auf den Donut, nicht auf das Loch in der Mitte.
Monty Alexander: (lacht) Ja, das hab ich mal bei einem alten Mann aufgeschnappt. Und wissen Sie, da muss ich Ihnen eines verraten: Ich spiele heute mit einem neuen Bewusstsein – weil ich vor anderthalb Jahren Bauchspeicheldrüsenkrebs überlebt habe. Ich hatte auch einen leichten Schlaganfall, der die linke Seite meines Körpers betraf. Die ersten zwei Wochen danach konnte ich nicht ans Klavier, die linke Hand war schwerfällig. Ich wollte ein C spielen, aber mein Finger landete auf dem F. Zuerst dachte ich: Das ist jetzt das Ende meiner Karriere. Aber dann habe ich mich immer wieder ans Klavier gesetzt und nach zwei Wochen – das war schon wundersam – ging es wieder. Ich merke es heute zwar noch ein bisschen, die linke Hand fühlt sich noch ein wenig komisch an. Aber ich kann immer noch Klavier spielen. Ich bin hier, um das Leben zu feiern, Spaß zu haben und den Leuten Freude zu bereiten. Der Song „The River Rolls On“ auf meiner neuen Platte handelt genau davon.
War es Ihr Optimismus der Sie am Leben hielt oder die Musik?
Monty Alexander: Ich weiß nicht, es war geheimnisvoll. Ich denke, Gott hatte da auch seine Hände im Spiel. Aber meine Haltung, wie ich das Leben sehe, hatte wohl auch damit zu tun. Ich habe mich mit schönen Dingen beschäftigt, habe Konzerte gespielt. Ich habe während der Chemotherapie Konzerte in Südafrika und Südkorea gespielt. Ich hab mir gesagt: Spiel Konzerte, mach weiter! Und das ist am Ende der Donut. Die Musik kann Teil der Heilung sein, das ist wie Medizin. Ein bisschen Klavierspielen – das kann schon helfen.