Ilja Lagutenko, Sie leben heute vor allem in Los Angeles – worin unterscheidet sich das Leben dort von dem in Moskau?
Lagutenko: Das Wetter ist anders. Und der Verkehr – die Leute in L.A. klagen immer über den Verkehr, aber verglichen mit Moskau ist das gar nichts.
Es sind sehr verschiedene Städte. L.A. erinnert mich mehr an meine Heimatstadt Wladiwostok als an Moskau. Sie liegen ja auch am gleichen Ozean.
Warum sind sind Sie eigentlich die USA gegangen?
Lagutenko: Das hat hauptsächlich mit meiner Arbeit zu tun, etwa so wie ein deutscher Ingenieur zu Audi nach China geht. Ich verbringe in den USA mehrere Monate im Jahr, um dort zu arbeiten. Was wir zuletzt mit Mumiy Troll aufgenommen haben, ist größtenteils in den USA entstanden, im Moment konzentrieren wir uns auch auf den US-Markt. Wir probieren neue Möglichkeiten aus, wobei wir aber auch unseren russischen Fans treu bleiben wollen. Ich fühle mich immer noch russisch, ich mag die Leute und die Sprache.
Könnten Sie russische Eigenschaften an sich benennen?
Lagutenko: Ich glaube, ich habe diese fernöstliche Prägung, damit meine ich den fernen Osten Russlands, alles was nach dem Baikalsee kommt. Ich bin in Wladiwostok aufgewachsen, ich habe dort die Band gegründet, weitab von allem, die nächste große Stadt Chabarowsk ist 1000 Kilometer entfernt und der Flug nach Moskau dauert 10 Stunden. Du fühlst dich anders als in Moskau. Dort sagen dir die Leute, du würdest Russisch mit Akzent sprechen.
Nach dem die Sowjetunion zusammenbrach hat sich die Regierung auch nicht sonderlich um Wladiwostok gekümmert. Früher spielte die Stadt ja eine wichtige Rolle, insbesondere als Militärstützpunkt, mit dem großen Hafen. Inzwischen kümmert sich die Regierung wieder, es wird gebaut und man versucht, die Wirtschaft anzukurbeln. Doch in den frühen 90ern, als wir mit der Band die ersten Songs aufnahmen, da war das ein gottverlassener Ort.
Sie veröffentlichen nun mit „Vladivostock“ das erste englischsprachige Album – welche Rolle spielt es für Sie, außerhalb Russlands als russische Band wahrgenommen zu werden?
Lagutenko: Mir ist es eigentlich egal, was für einer Identität die Leute uns zuordnen. Rockmusik ist ein so universelles Medium – deswegen bin ich seit dem ersten Tag gerne in einer Rockband. Du überwindest Grenzen, es gibt keinen festgelegten Rahmen, du kannst immer das machen, was du willst. Ob ich nun auf Russisch, Englisch oder Deutsch singe, dass macht bei Rockmusik keinen großen Unterschied. Es gibt höchstens Anforderungen durch Gesetze des Musikmarktes, ungeschriebene Gesetze. Aber was die Identität anbelangt wären wir einfach gerne als Mumiy Troll aus Wladiwostok bekannt.
Sie haben Mumiy Troll bereits 1984 zu Sowjetzeiten gegründet – gab es damals Probleme mit den staatlichen Behörden?
Lagutenko: Rockmusik war offiziell nicht verboten in der Sowjetunion, aber die Musikindustrie wollte seine Existenz offiziell auch nicht anerkennen. Das ist in etwa so, wie wenn du einem Freund etwas vor die Nase hältst und er sagt zu dir: ‚Du hast doch gar nichts in der Hand.‘ In so einer Situation sind wir groß geworden, du konntest die Musik spielen, aber die Offiziellen taten so, als würde sie nicht existieren.
Deshalb war es sehr wichtig, Fans zu finden, die dich wahrnehmen und die anhören, was du machst. Wir hatten keinen Zugang zu offiziellen Medien. Und damals gab es kein Internet, das war der große Unterschied, die Popularität kam daher nur durch Mundpropaganda zustande. Deshalb konnten Bands aus der Zeit auch lange existieren, weil sie eine loyale Fanbase hatten. Diese Fanbase kam eben nicht durch Marketing oder Medienpropaganda zustande.
Hat Sie das als Band stark gemacht?
Lagutenko: Ja, aber ’stark‘ nicht im Sinne von kämpfen. Sondern du lernst dadurch, damit umzugehen, wenn bestimmte Leute dir keine Aufmerksamkeit schenken. Du schaffst deine eigene Welt und in der heißt du diejenigen willkommen, die dich mögen. Und wenn andere dich nicht mögen, dann ist das ok und du gehst deinen Weg weiter.
Ich mag den Gedanken, dass die größte Kunst nicht die Realität reflektiert, sondern neue Realitäten kreiert. Das habe ich vom ersten Tag an versucht. Mir ging es nicht darum, dass die Regierung oder die Industrie uns hilft. Ich wusste, dass ich von denen nicht gebraucht werde. Ich brauche nur mich selbst.
Eine Rockband zu machen ist für mich ein unendliches Abenteuer. Es ist nicht besonders effizient, aber daran dachte ich auch nicht, als ich mit der Band angefangen habe, es ging mir nicht darum, mit der Band Geld zu machen, sondern es ging um die Musik.
Mumiy Troll wurde in den 90er Jahren eine der bekanntesten Bands in Russland – haben Sie durch diese Popularität auch eine Verantwortung gespürt, für Ihre Fans, vielleicht auch für Ihr Heimatland?
Lagutenko: Nein. Der Erfolg hat mir mehr Freiheit gegeben, das zu verfolgen, was ich wirklich will.
Aber hatten Sie so etwas wie eine Botschaft an die russischen Fans?
Lagutenko: Unsere Botschaft ist vor allem: Höre auf niemanden, sondern überleg‘ dir selbst, was du unbedingt machen willst – und dann mach‘ es richtig gut. Egal ob du Gitarre spielst oder Toiletten reparierst, versuche, die die besten Ergebnisse zu erreichen. Wenn du das tust, dann werden wir miteinander viel Spaß haben können.
Ob ich nun auf Russisch, Englisch oder Deutsch singe, dass macht bei Rockmusik keinen großen Unterschied
Ich stieß kürzlich auf ein Interview, in dem Sie sagten, für Sie seien russische Politiker „viel mehr Showbiz-Persönlichkeiten, mehr als die echten russischen Entertainer“. Was haben Sie damit gemeint?
Lagutenko: Viele unserer Politiker, die man im Fernsehen sieht, reden in den Talkshows vor sich hin, ohne dass wirkliche Ergebnisse folgen. Ich fände es besser, wenn man diese Sendezeit jungen Musikern gibt, anstelle von politischen Diskussionen. Das wäre für die Musiker eine gute Bühne, um ihre Ideen mit anderen zu teilen. Denn niemand braucht nutzlose politische Debatten.
Du erfährst in den staatlichen russischen Medien auch wenig darüber, was in entfernten Regionen, passiert, in Sibirien – manche Leute wissen noch nicht mal, wo Wladiwostok liegt. Stattdessen wird viel über politische Theorie geredet. Wir sollten sehen, wie wir das Leben der Leute da draußen konkret verbessern, anstatt immer nur in den Medien zu sein.
Im Juni 2010 saßen Sie mit am Tisch, als Wladimir Putin im Rahmen einer Benefiz-Veranstaltung mehrere kulturelle Persönlichkeiten Russlands zu einem Essen einlud. Wie haben Sie ihn damals erlebt?
Lagutenko: Ich habe ihn nach diesem Essen auch nochmal im Rahmen des „Tiger Summit“ in St.Petersburg getroffen, als Premier hat er für den Schutz der Tiger in Russland sehr viel getan. Er hat mir die Hand geschüttelt, und gesagt, dass er – nachdem er ein Konzert von uns gesehen hat – in der Rockmusik einiges Potential sieht (lacht).
Er hat aber so viel auf seiner Agenda – sicher kann man ihn auf so einer Veranstaltung etwas fragen, aber es nicht so, wie wenn man sich mit einem Freund unterhält. Das ist eher so ein halboffizielles Medien-Ding.
Jurij Schewtschuk, Gründer der Rockband DDT, saß bei dem Essen damals ebenfalls am Tisch und kritisierte Putin im direkten Gespräch heftig, beklagte Repressionen und fehlende Pressefreiheit. Fanden Sie das richtig?
Lagutenko: Jeder in der Runde konnte etwas fragen, Schewtschuk hat die Möglichkeit genutzt, andere nicht.
Hatte er denn Recht?
Lagutenko: Ich denke, die politische Unterdrückung in Russland ist wirklich überbewertet. Wenn du mit einer Sache nicht zufrieden bist, dann machst du einfach etwas dagegen. Wenn du nicht zufrieden bist, mit dem, was du als politische Unterdrückung empfindest, dann musst du es verändern anstatt nur rumzusitzen und sich zu beklagen. Wenn jemand Putin weg haben will und selbst Präsident werden will, dann soll er einfach damit anfangen. Alles ist möglich. Ich habe davon geträumt, ein Rockstar zu sein, und es sprach in meinem Fall alles dagegen. Ich wurde in Wladiwostok geboren, 10 Stunden von Moskau entfernt…
Viele Menschen sind einfach faul, das ist ein großes Problem in Russland, viele Leute reden zu viel und tun nichts.
Haben Sie künstlerische Freiheit in Russland?
Lagutenko: Ja, das denke ich schon. Juri Schewtschuk zum Beispiel geht keine Kompromisse ein, er veröffentlicht Alben, die überall verkauft werden, die Leute hören das, er gibt Konzerte – niemand verbietet ihm das. Wenn er jetzt politisch Karriere machen wollte, dann wäre das vielleicht ein anderes Thema – aber ich weiß es nicht.
Doch wenn die künstlerische Freiheit gegeben ist, verwundert eine Geschichte, die um Ihr 2005er Album „Slijanie i Pogloschenie“ kursiert. Auf dem Cover sieht man neben Ihnen einen Mann und eine Frau vor dem Moskauer Bolschoi-Theater, die Schilder vor ihr Gesicht halten. Angeblich waren auf diesen Schildern ursprünglich Portraits von Putin und Michail Chodorkowski zu sehen, kurz vor der Veröffentlichung wurden diese jedoch durch ein Herz und ein Dollar-Zeichen ersetzt. Stimmt die Geschichte?
Lagutenko: Ja, die Geschichte stimmt. Das hat damals der Vertrieb gemacht, und ich habe daraufhin den Chef gefragt: „Wer hat dir das befohlen? Wer hat dir gesagt, dass dieses Cover nicht gut ist?“ Seine Antwort war: „Das hat mir niemand aufgetragen, ich selbst habe das so entschieden.“ Er selbst fand das Cover nicht gut – und das ist eines der Probleme heute in Russland: zu viele Leute, die damit nichts zu tun haben, Geschäftsleute, die denken, dass man so etwas nicht drucken darf. Dabei hat der Kreml doch ganz andere Dinge zu tun, als irgendwelche CD-Cover zu zensieren. Wir haben den Vertrag mit dem Vertrieb damals gekündigt.
Würden Sie sagen, das war eine Form der Selbstzensur?
Lagutenko: Ja, das ist es gewesen.
Und Sie hatten keine Möglichkeit, diesen Vorgang wieder rückgängig zu machen?
Lagutenko: Es gibt die CD mit Originalcover außerhalb Russlands, in den baltischen Staaten wurde sie mit dem Originalcover verkauft.
Noch eine andere Frage zu Ihren CDs, man liest, dass Mumiy Troll bislang mit Tonträgern kaum Geld verdient hat…
Lagutenko: Nein, wir haben mit CD-Verkäufen nie besonders viel verdient. Als wir mit der Band anfingen, war der Markt dafür noch nicht da, Russland war außerdem ein Vorreiter, was Musikpiraterie angeht (lacht). Die Verkäufe von raubkopierten CDs waren etwa 20 mal höher als unsere offiziellen Verkäufe. Und das Geld aus den offiziellen Verkäufen hat kaum unsere Studiokosten gedeckt. Deswegen waren wir immer abhängig von unseren Live-Shows und Tourneen.