Frau Barakat, Sie sind Libanesin und schreiben neben Ihrer Muttersprache Arabisch auch auf Französisch und leben und arbeiten wie viele andere Ihrer Landsleute in Paris: Ist die französische Sprache eine Art europäische Stimme für die arabische, speziell libanesische Kultur?
Barakat: Nun, natürlich ist der Libanon nach der arabischen Sprache durchweg frankophon. Daneben sprechen übrigens immer mehr Libanesen deutsch. In der Tat ist die französische Sprache nicht nur Verkehrssprache, sondern auch Literatursprache. Als Journalistin und Autorin spreche und schreibe ich im vorwiegend französisch, da die Artikel sowohl in den frankophonen Ländern als auch in libanesischen und maghrebinischen Tageszeitungen direkt rezipiert werden. Französisch ist in gewisser Weise die zweite Muttersprache der frankophonen arabischen Länder, in kultureller und literarischer Hinsicht besonders für die Libanesen, nachdem unsere Hauptstadt Beirut, das "Paris des Ostens", im Bürgerkrieg zerstört wurde und trotz aller Wiederaufbauaktivitäten bis jetzt nicht an den alten Glanz anknüpfen kann. Ja, ich finde, Paris ist eine arabische Stadt (lacht).
Der in Deutschland lebende syrische Schriftsteller Rafik Schami sagte einmal, man müsse als Autor die Sprache und Kultur der neuen Heimat annehmen wie das Zusammenleben mit einem Menschen: "Wenn man dessen Charakter mit all seinen Launen akzeptiert, so wird er einem auch seine Geheimnisse und seine Seele anvertrauen. Hingabe ans Exil öffnet Welten." Teilen Sie diese Ansicht?
Zaqtan: Rafik Schami hatte da sicherlich noch mehr Hingabe zu leisten als ich, der ich ja überwiegend im arabischen Exil gelebt habe und keine neue Sprache lernen musste. Aber: Natürlich ist ein anderes Land ein anderes Land: Mögen auch die Sitten und Gebräuche in Tunesien der palästinensischen Kultur ähnlicher sein als die deutsche – man muss sich im Exil vollkommen neu definieren: Es gibt zunächst keine Freunde, die Familie ist weit weg, man kann nicht so einfach seinen Platz finden, muss sich auf neue Menschen einstellen. Vor allem: Egal, wie sich der Alltag im Exil entwickelt: Man bleibt immer der Fremde, der Suchende. Ich habe Englisch als meine zweite Verkehrssprache gewählt, da in Palästina neben der arabischen Muttersprache hauptsächlich Englisch gelehrt wird. Allerdings arbeite und schreibe ich weiterhin erst auf Arabisch, denn Palästina ist nicht so durchweg anglophon wie es das Französische im Libanon ist. Ich glaube, Najwa Barakat ist in Sachen Sprachkenntnis mir gegenüber im Vorteil.
Frau Barakat, Herr Zaqtan, Sie beide lebten bzw. leben seit langer Zeit außerhalb Ihrer Heimat. Verhilft Ihnen diese Distanz, näher am politischen und kulturellen Diskurs Ihrer Heimatländer zu sein oder spüren sie eher eine Entfremdung?
Zaqtan: Wie gesagt, im Exil muss man sich neu definieren. Gleichwohl gibt einem das Exil die Möglichkeit, mental sehr nah an der Heimat zu sein, denn die Probleme der Heimat belasten nicht mehr den Alltag. Ich habe das Exil dafür geliebt. Ich hatte meine Freiheit, aktiv am politischen wie literarischen Diskurs meiner Heimat teil zu nehmen, ohne Gefahr laufen zu müssen, sofort dafür belangt zu werden. Das Exil setzt ungeheure Energien frei, man ist quasi entfesselt, es ist wie eine Art Hotelzimmer, in dem man sich aufhält: Essen, Schlafen, Waschen – für alles ist gesorgt, man kümmert sich als Gast nur um sich selbst. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass man fast verrückt wird, nicht in den Alltag der Heimat einwirken zu können. Melancholie überrumpelt einen. Doch dieser Widerspruch gebiert eine kreative Energie. Ich weiß nicht, ob ich ohne die Erfahrung des Exils, das einen großen Teil meines Lebens bestimmt hat, heute dort wäre, wo ich jetzt bin. Ich habe mich durch das Exil vielleicht einigen Personen entfremdet, nicht jedoch meiner Heimat, im Gegenteil, ich glaube, ich bin dadurch meiner Heimat näher gerückt.
Barakat: Bei mir ist es nicht so wie bei Ghassan Zaqtan, denn als ich nach Paris ging, so tat ich dies aus freiem Willen. Ich plante bewusst einen Neuanfang in einem anderen Land, was in gewisser Weise auch kein so großer Schritt in die Fremde war, da ich ja, wie gesagt, die französische Sprache beherrschte und ohnehin eine große libanesische Gemeinde in Paris lebt. Ich vermute, bei mir verhielt es sich so wie mit einem Iren, der nach New York geht: Alles ist neu und gleichsam vertraut: Einmal durch die Sprache, zum Anderen durch die vielen Bilder und Erzählungen über die fremde vertraute Stadt, die einem durch Freunde oder Verwandte bereits geliefert wurden. So kann ich nicht sagen, dass ich mit meinem Leben in Paris näher an Beirut bin, denn ich habe meinen Lebensschwerpunkt in Frankreich gefunden. Auf der anderen Seite arbeite ich natürlich als Journalistin und Autorin in einem permanenten Dialog mit meiner libanesischen Heimat: Ob Kollegen, Interviewpartner, Verlagshäuser: Sie alle reihen mich natürlich in einen Nahost – Kontext ein und verlangen von mir Antworten, die ich nur zum Teil wieder geben kann, da ich ja nur noch besuchsweise nach Beirut fahre. Auf der anderen Seite ist die libanesische Gemeinde in Paris sehr präsent und das betrifft nicht nur Cafés und Restaurants: Künstler, Schriftsteller, Musiker aber auch Industrielle nehmen aktiv am Pariser Leben teil und liefern beinahe mehr Stoff zur aktuellen libanesischen Geschichte, als der Libanon selbst. Das ist natürlich übertrieben, aber ich denke, dass der Informationswert, den sie in Paris über den Libanon, über Beirut erhalten, hoch konzentriert ist und dass sie, wenn Sie wollen, viel einfacher an diese Informationen herankommen, als im leider immer noch marginalisierten Libanon selbst. Das liegt auch daran, dass die Franzosen seit jeher einen engen Bezug zu ihren ehemaligen Kolonialgebieten haben, der sich sowohl in der Literatur als auch in Film und Journalismus ausdrückt. Ich erinnere an Marguerite Duras, Jean Genet, Albert Camus und vielen anderen Autoren: Sie haben die Thematik der Fremde, der Beziehung von Frankreich zu Arabien, Indochina oder Afrika als einen permanenten Dialog verstanden. Diesem steten Diskurs folgt eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Fremde, im Umkehrschluss ist man als Araber, Vietnamese oder Karibe in Frankreich weniger isoliert als vergleichsweise Ausländer von nicht frankophonen Ländern.
Wie beeinflusst das Leben im Exil die eigene Arbeit? Wird man eher zum Wanderer oder zum Mittler zwischen den Welten?
Zaqtan: Ach, es ist ja mit den Palästinensern so: Seit über 50 Jahren leben Palästinenser bereits mit dem Leben im Exil. Gerade meine Generation ist diejenige, die das Leben in der Fremde als Teil der eigenen Identität akzeptieren musste. Ob man Wanderer oder Mittler zwischen den Welten wird, ist meiner Meinung nach auch eine sehr persönliche Frage: Wer ins Exil geht, um dort für sein Land aktiv zu bleiben, ja vielleicht aktiver als in der eigenen Heimat, wird bestimmt eher zu einem Mittler zwischen Gastland und Heimatland, denn man begreift sich ja mit einem gewissen Auftrag ausgestattet, versucht, zu erklären, um Verständnis zu bitten. Wer ins Exil geht, um dort Abstand zu gewinnen, um den Schwierigkeiten der Heimat zu entkommen, der wird vielleicht eher geneigt sein, sich in die neue Umgebung zu integrieren.
Gleichwohl bleibt man immer eine Art Wanderer, egal, wie man sich definiert, was vor allem daran liegt, dass der Prozess Israel-Palästina bisher noch nicht abgeschlossen ist, weder für die Hardliner noch für die Friedensaktivisten auf beiden Seiten: Es herrscht ein Jahrzehntelanger Patt, der psychologisch auch in den Köpfen der Emigranten festsitzt: Kein Ergebnis, Keine sichtbare Zielmarke – auch das trägt dazu bei, dass man sich lebenslang wie auf einem Rangierbahnhof, wie in einer Wartehalle befindet. Ich denke, das ist eher ein Bild, das passen würde, denn der Wanderer zwischen den Welten wäre erst ein solcher, wenn er problemlos zwischen all den Welten hin und her spazieren könnte und damit der einen oder anderen Kultur stets etwas mitbringt. Das ist in Palästina anders: Hier wandert keiner, man sucht sich seinen Platz in der Warteschlange.
Barakat: Auch hier ist meine Situation nicht mit der von Ghassan Zaqtan vergleichbar: Ich würde sagen, meine Arbeit in Paris generiert etwas völlig Neues: Weder bin ich Wanderer noch Vermittler, sondern vielmehr Teil einer eigenständigen Gemeinde sowohl in Paris als auch Beirut. Wir sind, dank einfacherer Reisemöglichkeiten, in der Tat eher Wanderer, bringen Informationen beider Länder ein, doch stößt dieser Informationstransfer auf mehr Verständnis: Es ist viel leichter und auch normaler, von Beirut nach Paris zu fliegen, als beispielsweise von Gaza nach London. Was allerdings innerhalb der arabischen Gemeinde in Paris passiert, ist, dass die Situation in Palästina als Teil des eigenen Konflikts rezipiert und thematisiert wird: Ob Libanese, Algerier oder Syrer: Das Leiden in Palästina ist Teil des eigenen Leides, obwohl viele Araber niemals in Palästina waren. Warum ist das so? Zum einen, weil die arabische Sprache und Herkunft verbindet. Zum anderen, weil sowohl Algerier, Libanesen, Ägypter … Kriege, Kolonialzeit und Besatzung kennen. Gewaltvolle Auseinandersetzungen sind Teil einer panarabischen jüngeren Geschichte, die in einigen Ländern abgeschlossen ist, wie in Ägypten, in anderen Ländern erst beginnt, wie im Irak und wiederum in anderen Ländern eine neue Dimension erreicht, wie in Algerien. All diese Konflikte sind direkt oder indirekt Folgen des Kolonialismus. Palästina ist Synonym für das Leid, ja für Zermürbnis – das verbindet, auch in der Literatur. So ist man als Araberin in Frankreich, also in Europa, in der Tat Teil eines vermittelnden Dialogs, ja, aber in meinem Fall würde ich sagen, ist dieses Vermitteln eher ungeplant, es ergibt sich einfach aus dem Kulturkontext und lässt sich nicht abschütteln, ob man will oder nicht.
Herr Zaqtan, Ein bedeutender Teil Ihrer Lyrik ist geprägt von Erinnerungen und Ereignissen Ihrer Heimat in Palästina: Ihre Gedichte "Guide", "Pillow" oder "Darkness" reflektieren fast illustrativ die alltägliche Tragik des gewaltvollen Konfliktes. Gleichwohl klagen Sie nicht an, sie schenken den Leidtragenden eine Stimme. Ist die lyrische Arbeit eine Art Flucht, eine Reise an einen Ort, der im tatsächlichen Leben utopisch wäre?
Zaqtan: Hm … Flucht klingt mir zu resignativ, Utopie wäre zu weit weg. Reise trifft es eher, ja. Eine Reise zu vergessenen Momenten, eine Reise zu inneren Orten. Diese Reise führt an den tatsächlichen Unruheherd: Der zerrissenen Seele. Ich versuche, den Konflikt in seinem Innern darzustellen. Was verändert die Menschen? Was verursachen Druck und fortwährende Spannung? Woran klammern sich die Menschen? Ist es ein Erlebnis aus unbeschwerten Kindertagen? Der erste Kuss? Die Freude über das Wiedersehen geliebter Menschen? Oder ist es das Aufbewahren von Reliquien Gestorbener, nächtliches Gewehrfeuer, Angst vorm kommenden Tag? Das Zelebrieren schöner Momente, die Erinnerung an bessere Zeiten ist womöglich eine Art Leben in der Utopie, denn man wünscht sich die Ausdehnung und Wiederholung dieses Momentes, der sich partout nicht als Normalität einstellen will! Jedenfalls ist die lyrische Arbeit keinesfalls Flucht. Sie öffnet vielmehr die Tür zu einer anderen Form des Dialogs. Sie zeigt innere Räume, die sonst niemand betritt. Sie fordert ihre Besucher auf, dort zu verweilen, wo es vielleicht am intimsten ist. Wer mit dem Herz nicht sieht, ist auch auf dem Auge blind!
Begreifen Sie sich beide als politische Autoren?
Zaqtan: Ich denke, als Palästinensischer Autor lässt sich die Trennung von schöpferischer Arbeit und politischer Einflussnahme nur schwer vollziehen: Politik ist omnipräsent, sie durchströmt den gesamten Alltag, es ist kaum möglich, sich davon zu befreien, selbst, wenn man wollte, es sei denn, man geht nach Südamerika und schreibt über en Tropenwald.
Aber: Ich habe überhaupt keine Lust, wie ein Historiker die Geschichte Palästinas aufzuschreiben. Ich schreibe nicht über einzelne Siedlungsprojekte im Westjordanland oder über UNO – Resolutionen. Ich definiere mich in erster Linie als Lyriker, denn Poesie ist meine Arbeit, mein Leben. Gleichzeitig bin ich selbstverständlich ein politisch denkender Mensch. Das Resultat findet sich in meiner Lyrik: Ich möchte ja, dass die jüngere Generation endlich einmal ein anderes Leben führt, als unsere Generation. Die Gedichte beschreiben schließlich nicht nur einen Zustand, sie wecken auch Sehnsüchte, Sehnsüchte nach einem Leben ohne Druck, ohne Furcht. Meine Lyrik impliziert ja eine Abneigung von Politik. Zumindest veranschaulicht sie die Dominanz von Politik bis in die tiefsten Gründe der Psyche. Diesen Konflikt darzustellen, ist Vorraussetzung dafür, Platz in der Seele zu schaffen.
Barakat: Ich glaube nicht, dass ich mich als vorwiegend politische Autorin begreife. Mein Ansatz ist deskriptiver, journalistischer. Ich beschreibe die Personen in meinem Roman aus soziologischer Perspektive. Was geht in den Menschen vor? Welche Ziele verfolgen sie und wie gehen sie mit Konflikten um? Natürlich bin ich ein politisch denkender Mensch, doch ich würde nicht so weit gehen, mich als politische Autorin zu begreifen. Ich weiß nicht, vielleicht schreibe ich bald zu einem politischen Thema – doch als Journalistin würde ich vermutlich die Form des Sachbuches wählen, Fakten zusammentragen, Hintergründe schildern.
In gewisser Weise reflektiert Ihre Frage das Problem, welches ich eingangs erklären wollte: Sobald ich die Abenteuer einer jungen Frau vom Lande in der Großstadt beschreibe, wird ein "Frauenroman" draus. Warum? Weil ich eine Frau bin? Sobald ich von einer Kindheit im Libanon schreibe, wird automatische ein politischer Roman daraus. Warum? Weil das Thema Libanon, dazu geschrieben von einer Araberin, sofort im politischen Kontext assoziiert wird. Das ist das eigentliche Hauptproblem zeitgenössischer arabischer Kultur: Bald wird man im etymologischen Lexikon unter "Arabien" auch "Politik" in der Konnotationsangabe finden. Ein Drama. Wir als arabische Autoren sind auf Politik zurechtgestutzt – umgekehrt wird auch ein Schuh draus: Viele Europäer meinen, politischer Diskurs ist ein Segment der arabischen Kultur. Der Film einer arabischen Regisseurin wird sofort zum politischen Thema, unabhängig davon, was sein Inhalt ist, nur aufgrund der Tatsache dass ihn erstens eine Frau und zweitens eine Araberin gedreht hat. Wir sind gefangen in der Politik. Wenn Sie so wollen, antworte ich auf Ihre Frage "Bin ich eine politische Autorin" mit Ja, was mein Verlagsmarketing betrifft und mit Nein, was meine Person betrifft!
Frau Barakat, in Ihrem Roman "Ya Salam", erzählen sie von den Schwierigkeiten des Friedens. Was bedeutet für Sie das Wort "Friede"? Verwenden Europäer und Araber unterschiedliche Konnotationen für diesen Begriff? Und weiter an Herrn Zaqtan: Ist ein Friede zwischen Israelis und Palästinensern in absehbarer Zukunft möglich?
Barakat: Unterschiedliche Konnotationen? Im Grunde genommen, nein: In beiden Kulturen kann das Wort zweierlei bedeuten: Friede kann zunächst vom "Be-Frieden" stammen, also vom Schaffen einer Ausgangsbasis durch Tatsachen, sei es militärischer oder vertraglicher Art. Das meint im Prinzip nur "Ruhe" und stellt den Zeitraum zwischen gewaltvoller Auseinandersetzung dar. Der Friede, den jeder Mensch jedoch herbeisehnt, ob Europäer oder Araber, ist der tatsächliche Friede, der ausgeglichene Zustand der Seele, der von "friedlich" herrührt. Nur dieser Friede kann das Fundament für ein dauerhaftes Zusammenleben sein. Alles andere meint eher einen Waffenstillstand. Wir hatten ja schon so oft "Frieden" in der Geschichte, nicht nur im Nahen Osten, auch in Europa, der letztendlich keinen Frieden schenkte. Nehmen Sie Deutschland und Frankreich: Zwei so genannte Friedensverträge führten letztendlich nur zu weiteren Kriegen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begegneten sich die beiden verfeindeten Länder mit dem tatsächlichen Willen zum Frieden. Die Ära Adenauer/de Gaulle ist ja auch als Zeit der Aussöhnung in die Geschichte eingegangen: Es war beiden Staatsmännern tatsächlich wichtig, den Frieden von Innen heraus zu entwickeln, persönlich, freundschaftlich, aussöhnend. Das ist im Prinzip auch das, was sowohl Israelis als auch Araber wollen: Ein tatsächliches Bekenntnis zum Frieden.
Zaqtan:Daran knüpfe ich sofort an: In der Tat hatten wir bereits so viele Friedensgespräche und Waffenstillstände erreicht. Doch blieb es beim Waffenstillstand. Das ist kein Friede. Tatsächlicher Friede ist ein Willensbekenntnis. Friede erfordert persönliche Demut, Verzicht auf überkommene Ideale, Respekt dem Anderen gegenüber und die Bereitschaft, ein Neues Kapitel aufzuschlagen.
Ich beantworte die Frage nach einem möglichen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern grundsätzlich mit einem Ja. Wann aber dieser tatsächliche Friede kommt, das vermag ich nicht zu sagen. Ich habe schon viel zu oft an ein Ende der gewaltvollen Auseinandersetzungen geglaubt. Die größte Enttäuschung kam nach der Ermordung von Israels damaligem MP Rabin: Spätestens da wussten alle, dass es auch in Israel einflussreiche Kräfte gibt, die nichts von einem Frieden halten, die eher vom Krieg profitieren.
Bei allem Leid, das bisher passiert ist: Die Gewalt, die tagtägliche Gewalt ist so präsent, so normal, dass ein Friede im Sinne von Aussöhnung kaum durch einen Vertrag möglich sein wird, so kompromissvoll dieser auch sein mag. Es fehlt an Politikern, die die Macht und Glaubwürdigkeit besitzen, tatsächlichen Friedenswillen zu beweisen. Ich glaube schon, dass die reformierte Autonomiebehörde unter Abbas den Willen hat, ich glaube auch, dass die Israelis zu großen Teilen diesen Willen haben, doch Ariel Scharon eignet sich kaum als personifizierter Friedensengel. Ich komme auch auf das Beispiel Adenauer/de Gaulle zurück: Adenauer war während der NS-Diktatur im Gefängnis, er selbst war ein Opfer der Nazi-Willkür. De Gaulle führte als General die Befreiung Frankreichs voran – er hatte kein Interesse an der Besetzung des Rheinlandes. Dazu waren beide Politiker konservativer Natur aber gleichzeitig reformbereit. Die Bevölkerung beider Länder nahm Ihnen diese Dialektik ab. Sie waren erst einmal glaubwürdige Menschen, danach Politiker. Wo ist diese Glaubwürdigkeit im Nahen Osten? Die Politiker nehmen das Wort Frieden in den Mund, ohne das Gewehr abzulegen. Jede Seite legitimiert Ihren Gewaltanspruch mit dem Recht auf Vergeltung. Wir kommen so nicht weiter. Ich befürchte, dass ein wahrer Friede noch weit, weit entfernt ist und hoffe, dass ich mich irre. Gleichwohl müssen wir alles daran setzen, die Voraussetzung für einen Frieden zu schaffen, also wirklich endlich mit der Umsetzung des Friedensplans, der "Road Map" oder wie immer sie wollen, beginnen.
Frankreich und Deutschland waren über drei Generationen verfeindet. De Gaulle und Adenauer waren nicht so naiv zu glauben, dass mit ihrem Handschlag die Bevölkerung sofort "befriedet" wäre. Aber sie haben an ihre Zukunft gedacht, an Ihre Kinder und Enkel. Und die profitieren nun von gemeinsamen Werten im "Alten Europa". Generationendenken. Das war glaubwürdig!
Glauben Sie, dass das aktuelle US-amerikanische Engagement im Nahen Osten einen Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn herbeiführen kann?
Barakat: Da würde ich zuerst fragen, welches Engagement Sie meinen: Sicher, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch können die USA den notwendigen Druck auf alle Parteien, vor allem aber auf Scharon ausüben, der sonst auf niemanden hört. Aber: Der US-Kurs im Irak bestätigt ja lediglich die Politik der Hardliner beider Seiten: Die UNO gilt als Hindernis, Resolutionen sind nur Blattwerk, Europäer sind, Briten einmal ausgenommen, völlig unwichtig. Das impliziert: Weiter so mit der Gewalt! So, und was die Zivilverwaltung im Irak angeht: Die USA bestimmen, wer sich an einen Tisch setzen darf und wer nicht. Reine Willkür. Gut, könnte man sagen, dann seid ihr halt die Chefs, kein Problem, es herrsche die Pax Americana, doch dann sorgt bitte auch für uns, gebt uns medizinische Versorgung, baut unsere Universitäten wieder auf, sorgt für unsere Reisefreiheit und den Aufbau unserer Wirtschaft. Das ginge aber wiederum zu weit, für diese so genannten "weichen" Aufgaben dürfen dann sowohl EU als auch UNO wieder eine Rolle spielen. All dies ist einfach eine unglaubwürdige Politik. Die USA verhehlen kaum noch, dass sie lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen. Das tut im Grunde jede Macht, doch die demaskierte Art und Weise, wie die Regierung Bush ihre Interessen verfolgt, ist ernüchternd und erschreckend. Wenigstens ist es ehrlich. Das schlimmste daran ist aber, dass Rücksichtslosigkeit und Egoismus als Beispiel für Erfolg kommuniziert werden. Keinesfalls beruhigend. Natürlich ist jeder Mensch froh, jeder, dass ein Diktator wie Saddam entmachtet ist. Aber wie ist das zustande gekommen? Es gibt keine gesetzliche Grundlage, kein Gericht, keine Anklage, kein Ziel. Die USA fordern eine "zivile" Gesellschaft im Irak, die aber vollkommen unzivilisiert implantiert werden soll. Ich versuche also, Sterilität mit beschmutzten Händen herzustellen. Wie soll das gehen?
Zaqtan: Ich kann den Ausführungen von Frau Barakat kaum etwas entgegen setzen. Wissen Sie, das Hauptproblem, das immer wieder neue Gewalt heraufbeschwört, ist das Gefühl von Ohnmacht, das gerade die jungen Palästinenser befällt: Sie sind in all diesen Schrecken hineingeboren, sie haben nie etwas anderes kennen gelernt als Bedrohung, Besatzung, Gewalt und Hass. Man muss sich das einmal vorstellen: 18-Jährige Jugendliche aus Gaza kennen in ihrem ganzen Entwicklungsprozess von der Geburt an nur eines: Gewalt! Was um Himmels willen wundert sich da die Welt, woher die Gewaltbereitschaft dieser Jungen kommt. Ich frage Sie etwas anderes: Woher, wenn nicht vom Mond, soll denn da eine Friedensbereitschaft kommen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Alle wollen Frieden. Nur weiß die Mehrheit der unter 25-jährigen in Palästina gar nicht, was ein Leben im Frieden ist. Für diese Jungen ist der Friede tatsächlich eine Art Utopie, denn Sie wünschen sich etwas herbei, was sie gar nicht kennen. Das ist Utopie. Sie nehmen das Wort Frieden eher als Synonym für "Erlösung" wahr.
Zum Stichwort Ohnmacht: Kaum ein junger Europäer, Jugoslawen, Iren und Basken einmal ausgenommen, kann sich heute vorstellen, wie es ist, das permanente Gefühl von Ohnmacht zu haben: Studium, Reisen, Arbeit – alles wird zu einem Problem. Man möchte etwas tun, kann aber nicht. Jede Art von Veränderung wird von außen diktiert, seien es USA, UNO, EU oder sonst jemand, die eigene Stimme ist nichts wert.
Jetzt befinden sich US-Truppen in Bagdad, mitten in einem der Zentren der arabischen Welt. Nicht genug, die fremden Stimmen, diktieren nun, was Frieden und Fortschritt bedeuten – als ob man als Araber zu dumm wäre, selbst die Initiative zu ergreifen. Dieses permanente Fremddiktat ist es, was die arabische Welt zutiefst beschäftigt: Man fühlt sich entmündigt, minderwertig, drittklassig, ohnmächtig. Das führt zu Frustration, dann zu Lethargie und im schlimmsten Falle zu Hass. Gewaltaktionen, die im blinden Hass begründet sind, nehmen Sie die Selbstmordattentate, sind vielleicht vielmehr Ausdruck von Verzweiflung und Ohnmacht als von gezieltem Handeln. Das ändert nichts an ihrer Grausamkeit, erklärt aber die tödliche psychologische Spirale, in der alle Beteiligten sich befinden.
Nun ist das Chaos komplett: die arabische Welt hat sich so weit entmündigen lassen, dass wenigstens das Problem Israel-Palästina ohne die USA kaum noch zu lösen ist. Genau diese Abhängigkeit von den USA jedoch treibt den Frustrationsgrad weiter in die Höhe. Die enttäuschte Bevölkerung treibt so in die Hände bauernfängerischer Fundamentalisten. Es braucht wirklich eine Menge Pragmatismus aller – und ich wiederhole, aller Beteiligten, um diese mortale Dialektik aufzubrechen und endlich einen Neuanfang zu wagen.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Sobald sowohl die israelische als auch die palästinensische Seite tatsächlich den Frieden wollen und alle Zerwürfnisse zu überwinden suchen, brauchen beide Seiten die USA nicht mehr. Es können sich immer bloß zwei Hände gleichzeitig schütteln!