Nico Siegel

Wir justieren immer wieder nach.

Nico Siegel ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstitutes Infratest dimap, welches für die ARD den "DeutschlandTrend" und die Prognosen am Abend der Bundestagswahl erstellt. Im Interview spricht der Demoskop über Umfrage-Methoden, Spätentscheider, Umfragewerte der AfD und den Einfluss von Fake-News.

Nico Siegel

© David Ausserhofer

„Glaube nur einer Statistik, die du selbst gefälscht hast“ lautet ein geflügeltes Wort. Welchen Statistiken glauben Sie, Herr Siegel?
Nico Siegel: Ich glaube allen Statistiken, die auf Grundlage einer wissenschaftlich abgesicherten Methode erhoben wurden. Dazu muss ich wissen: Wer wurde wie befragt, bei welcher Stichprobengröße und wie kommen die Ergebnisse zustande? Wenn die Methode wissenschaftlich abgesichert ist, sollte man in demokratischen Gesellschaften einer Statistik Glauben schenken, denn ohne sie könnten Menschen sich nicht verdichtet informieren und Wissenschaftler könnten einige Fragen inner- und außerhalb der Politik nicht beantworten.

Haben Sie im bei Ihren Methoden, im Vergleich zur vergangenen Bundestagswahl, bestimmte Schrauben neu justiert?
Siegel: Wir arbeiten kontinuierlich an unseren Methoden, denn Politik und Kommunikation unterliegt einem Wandel. Den sollte man nicht zu sehr dramatisieren, aber auch nicht unterschätzen. Wir justieren unsere Methoden natürlich immer wieder nach. Wir haben 2017 zum Beispiel mehr Online-Erhebungen und wir haben bei der AfD mehr Erfahrungswerte sammeln können. Das ist ein kontinuierlicher Prozess.

Zitiert

Auf Umfragen basierte Erkenntnisgewinnung wird auch in zehn Jahren noch einen hohen Stellenwert haben.

Nico Siegel

Umfrageinstitute werden von Anhängern der neuen rechten Bewegungen mitunter als Teil ihrer politischen Gegnerschaft gesehen, viele Bürger verweigern die Teilnahme an Umfragen. Werden Ihre Ergebnisse zur AfD dadurch ungenau?
Siegel: Die These, dass Menschen, die eher eine rechte Einstellung haben, sich weniger häufig an politischen Umfragen beteiligen ist nicht falsch. Wenn wir jedoch das Phänomen kennen und die Größenordnung abschätzen können, haben wir verschiedene Möglichkeiten, es zu korrigieren. Wir können zum Beispiel mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden arbeiten oder mit verschiedenen Gewichtungsfaktoren. Der Abstand zwischen den Werten der AfD bei Vorwahlerhebungen und beim Wahlergebnis ist deshalb schon geringer geworden.

In den USA gab es den „shy-Trump“-Effekt: Ètliche Trump-Wähler haben sich in Vorwahlumfragen nicht als solche offenbart. Rechnen Sie hierzulande mit einem „shy-AfD“-Effekt?
Siegel: Um sagen zu können, ob es einen solchen Effekt gibt, müssten wir das Wahlergebnis kennen. In Bezug auf Trump muss man das allerdings auch relativieren: Die nationalen Umfragen in den USA hatten im Durchschnitt die Anteile, die Donald Trump dann bei den Präsidentschaftswahlen erhielt, um drei Prozentpunkte unterschätzt – also nicht um 20 oder 30 Prozent.
Wir wenden im Blick auf die Wahl Gewichtungsfaktoren an, die dafür sorgen sollen, dass die Wähler der AfD gut abgebildet werden. Wir gehen auch davon aus, dass wir in den letzten drei Jahren genügend Erfahrungswerte gesammelt haben, um mit methodischen Mitteln ein vernünftiges Stimmungsbild zur Anhängerschaft der AfD abgeben zu können. Vorwahlerhebungen sind ja keine Prognosen, sondern messen Stimmungstrends.

Nicht nur die Medien gelten bei Teilen der Bevölkerung als „Lügenpresse“, auch Umfrageinstitute müssen sich vorwerfen lassen, dass sie zum Meinungskartell gehören. Wie gehen Sie mit dem Vorwurf um, Sie manipulierten Umfrageergebnisse?
Siegel: Dass es einen Anteil in der Bevölkerung gibt, der sehr kritisch gegenüber der politischen Elite, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und damit vielleicht auch uns als Umfrageinstitut ist, können wir nicht ausschließen. Aber wir können unseren Beitrag dazu tun, zu zeigen, dass es dafür keinerlei stichhaltige Beweise gibt. Zum Beispiel in dem wir unsere methodischen Standards bei jeder Untersuchung entsprechend offenlegen. Wir nehmen bei Infratest dimap auch keine Beratungsaufträge für Parteien an.

Aber ihre Berechnungsschlüssel hüten Meinungsforschungsinstitute doch wie Kekshersteller ihr Teigrezept.
Siegel: Das stimmt nur teilweise. Wir haben in wissenschaftlichen Publikationen erläutert, wie das funktioniert: Es sind im wesentlichen zwei Gewichtungsschritte. Zuerst gewichten wir unsere Stichproben nach sozialstrukturellen Merkmalen, weil wir zum Beispiel wissen, dass Menschen mit formal niedrigen Bildungsabschlüssen etwas weniger häufig in den Stichproben vertreten sind. Im zweiten Schritt nehmen wir auf Basis von Erfahrungswerten eine politische Gewichtung vor. Natürlich haben wir als privates Erhebungsinstitut kein Interesse, dieses über viele Jahre kumulierte Wissen mit Wettbewerbern zu teilen.

Die USA werfen Russland Wahlmanipulation vor, hierzulande wird vor Fake-News und Social Bots gewarnt. Spielen diese möglichen Einflüsse für Ihre Umfragen eine Rolle?
Siegel: Wir stellen ja Fragen wie: „Wählen Sie überhaupt“ und „Was würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“ oder „Heißen Sie eher die Rentenpolitik der einen oder der anderen Partei für gut?“ Insofern ist es bei unserer Arbeit schwierig zu sagen, wo Fake-News Einfluss auf die Meinungsbildung der Befragten haben.
Menschen sind schon immer Informationsselektivitäten ausgesetzt gewesen, ob als Kind im Elternhaus oder in der Jugend über Peer-Groups. In einem links-intellektuell geprägten Haushalt gab es vielleicht bestimmte Meinungen dazu, ob Unternehmen nur kurzfristig nach Profit streben und sich nicht um das Wohl der Mitarbeiter kümmern. Dagegen hat jemand in einem Unternehmerhaushalt vermutlich oft gehört, Gewerkschaften würden die Unternehmensfreiheit behindern. Was ist richtig, was falsch? Für unsere Umfragen sind am Ende nur die Meinungen der Befragten relevant, worauf diese basieren, ist für uns nicht überprüfbar.

Vorhersage-Softwares und Big-Data-Prognosen sind auf dem Vormarsch. Sind Umfragen noch ein zeitgemäßes Mittel, um Wahlergebnisse vorherzusagen?
Siegel: Ich bin relativ optimistisch, dass auf Umfragen basierte Erkenntnisgewinnung auch in zehn Jahren noch einen hohen Stellenwert haben wird. Nur auf dieser Basis kann man absolut sicherstellen, dass man es mit einem einzigen Menschen zu tun hat, der mit einem klarumrissenen Fragebogen zu einem bestimmten Zeitpunkt Auskunft gibt.
Dass innovative Verfahren wie „Big-data inspired prediction“ an Boden gewinnen, ist wahrscheinlich. Aber es kommt immer darauf an, für welchen Zweck man dies verwendet. Für die Prognosen am Wahlsonntag, die mit der Schließung der Wahllokale um 18 Uhr veröffentlicht werden, und bei denen wir für Bundestagswahlen über 100.000 Menschen und bei Landtagswahlen über 20.000 Menschen in den Wahllokalen befragen, sehe ich derzeit kein Verfahren, das diese Prognosen ablösen könnte.

Wie viel ist an dem Vorwurf dran, Medien verkauften die Umfrageergebnisse mit höherer Wertigkeit, als ihnen tatsächlich beizumessen ist?
Siegel: Von solchen pauschalen Vorwürfen halte ich nichts. In der These stecken zwei Behauptungen. Einerseits, dass die Relevanz von Umfragen überschätzt wird und andererseits, dass die Medien wesentlich dafür verantwortlich seien.

Vor einer Wahl wird die Rolle der Demoskopie stets betont…
Siegel: …und danach fragt man sich, ob sie überhaupt so wichtig ist. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Medienvertreter gehen unterschiedlich mit Umfragen um, einige sind methodisch sehr gut ausgebildet, andere nicht. Ich warne auch vor der Schlussfolgerung, dass Umfragen einen viel größeren Wert in der Politik haben, als vor 20 bis 30 Jahren. Bereits in den 1960er Jahren wurden auf Grundlage von Umfragen und Zufriedenheitswerten von Politikern wichtige Entscheidungen getroffen. Die Anzahl der Umfragen hat in letzter Zeit deutlich zugenommen, eine Inflation des Vorkommens ist aber nicht mit einem Bedeutungszuwachs gleichzusetzen.

Spätentscheider gehören zu den größten Herausforderungen für Demoskopen – und ihr Anteil wächst. Wird das für Sie zum Problem?
Siegel: Der Anteil der Spätentscheider hat gegenüber der 1970er,80er, 90er Jahre zugenommen. Es ist aber nicht so, dass es sich um ein ungebremstes Wachstum handelt. Es sind je nach Wahl und wie man Spätentscheider wirklich genau definiert zwischen 20 und 30 Prozent. Dem versuchen wir Rechnung zu tragen, indem wir für unsere Vorwahlerhebungen betonen, dass immer noch ein erheblicher Anteil nicht entschieden ist. Gleichwohl ist es immer noch wichtig zu sagen, dass sich die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler nicht erst in den letzten Tagen entscheidet, insbesondere unter den älteren Wählern gibt es noch viele mit hoher Parteibindung. Im Vergleich zu den 1980er Jahren sind die letzten zwei Wochen im Wahlkampf heute wichtiger geworden. Für viele Parteien besteht trotzdem die erste Hauptherausforderung, darin ihre Stammwähler zu mobilisieren. Für die Parteien sind Spätentscheider sicher eine Herausforderung, aber nicht für die Demoskopen, da wir Stimmungsmessungen durchführen und keine Prognosen über das Wahlverhalten in zehn Tagen machen.

Infratest dimap erhält Boni, wenn es besser arbeitet als die ZDF-Kollegen: Also dann, wenn die Differenz vom vorhergesagten und tatsächlichen Ergebnis geringer ist. Finden Sie das eine angemessene Verwendung der Gebührengelder des Rundfunks? Sollte sich das Institut nicht unabhängig von wirtschaftlichen Anreizen um eine gute Prognose-Qualität bemühen?
Siegel: Über vertragliche Details mit Auftraggebern können wir nicht sprechen. Solche Vertragsbestandteile sind absolut vertraulich. Aber man kann sich schon die Frage stellen, ob Institute für schlechte Arbeit genauso bezahlt werden sollten wie für gute Arbeit.

2 Kommentare zu “Wir justieren immer wieder nach.”

  1. Martin Scholz |

    Hallo,

    nochmal der Martin.
    Habe gesehen, der Interview-Ticker akatualisiert sich schon seit Monaten nicht mehr automatisch. Bitte korrigieren. Alte Interviews sind langweilig.

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  2. Martin Scholz |

    Hallo,

    mich irritiert, dass Maybritt Illner das Interview geführt hat.
    Ich kenne Sie sonst nur aus dem Fernsehen.
    Nervt es Sie nicht, ein so langes Gespräch abtippen zu müssen, wenn Sie sonst nach ihren Gesprächen direkt Feierabend haben? Respekt jedenfalls.
    Gelesen habe ich das Interview dennoch nicht. Ich schau lieber fern. *grins*

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