Nicola Conte, Sie haben Anfang 2008 eine Compilation herausgebracht mit wichtigen Stücken und Bands der Bossa Nova, farbenfroher, harmonischer Latin-Jazz mit Samba-Elementen aus den 60er Jahren. Sie haben dazu gesagt: „Heute spielt niemand mehr diesen Sound“ – warum eigentlich nicht?
Conte: Weil sich die Musik seit der Zeit, in den 70ern, 80ern und 90ern sehr verändert hat, die Art, wie die Leute spielen und wie Musik unterrichtet wird. Wenn Sie heute nach Brasilien gehen werden Sie dort kaum Leute finden, die noch so spielen wie in den 60ern. Das war eine andere Generation von Musikern und deren Stil ist über die Jahre irgendwie verloren gegangen. Die Musik ist immer ein Spiegelbild der Zeit und der Gesellschaft. Und heute herrscht eben eine ganz andere Auffassung von Ästhetik in unserer Gesellschaft als vor 40 Jahren. Man kann das an fast allem sehen, Musik ist da keine Ausnahme.
Es ist allerdings nicht so, dass niemand mehr in dieser Stilistik spielt, schließlich spiele ich mit meiner Band diese Musik (lacht).
Aber sonst ist es schon so, dass Jazz-Musiker diese eher traditionelle Jazz-Spielweise ablehnen, weil sie sich weiterentwickeln wollen, neue Ansätze suchen…
Conte: Ich denke, das ist zum Teil eine Frage des Wissens und zum Teil auch eine Frage, was du mit der Musik ausdrücken willst. Davon abhängig wirst du dich für einen bestimmten Stil entscheiden.
Jemand, der heute 25 Jahre alt ist, also Anfang der 80er geboren wurde, hat wahrscheinlich nie eine dieser Aufnahmen aus den 60ern gehört, sondern seine Referenz sind Schlagzeuger der späten 80er und frühen 90er – die spielen einen komplett anderen Stil.
Dabei ist heute doch fast jede Jazz-Aufnahme aus den verschiedenen Jahrzehnten verfügbar…
Conte: Ja, es scheint alles zugänglich und verfügbar zu sein. Aber faktisch ist es das nicht. Du kannst zwar fast alle Platten und Aufnahmen kriegen, aber gleichzeitig ist es nicht einfach, sie zu finden. Weil du wissen musst, wonach du suchst. Wenn du das nicht weißt, wirst du von ihrer Existenz wahrscheinlich nie erfahren. Und ich denke, da ist das Wissen heute sehr begrenzt.
Es gab natürlich Zeiten, wo ein Teil dieser Musik neu erfunden wurde, vor allem durch die DJ-Kultur. Wobei DJs und Musiker aber immer zwei verschiedene Welten waren, zwischen denen es nur wenig Interaktionen gab. So nah wie heute waren sich diese zwei Welten früher nicht.
Sie repräsentieren heute beide Seiten, sind sowohl Jazz-Musiker als auch DJ. Verbringen Sie mehr Zeit damit, Jazz zu hören oder Jazz zu spielen?
Conte: Ich würde sagen Hälfte, Hälfte.
Und Sie brauchen das eine, für das andere, das Hören für das Spielen?
Conte: Ja, das beeinflusst mich, so entwickele ich meinen Stil.
Was fasziniert Sie an den 60ern? Ist Ihr Album „Rituals“ als eine Hommage zu verstehen?
Conte: Nein, das ist halt einfach Jazz, wie ich ihn spiele. Diese Musik hat eine gewisse romantische Haltung und ich finde mich, meine Persönlichkeit in ihr gut dargestellt, durch die Art der Sounds. So klingt es halt, wenn wir live Musik machen, da gibt es keine Tricks oder Spielerein, sondern das ist sehr direkt und pur.
Ich habe mich inspirieren lassen von einem bestimmten Zeitabschnitt der Geschichte, aber ich bin darauf nicht festgelegt.
Wenn Sie sagen, Musik ist ein Spiegel der Zeit, was spiegelt Ihre Musik dann von Italien wieder?
Conte: Oh, das weiß ich nicht, da müsste ich wohl eher Soziologe sein, um hierauf eine gute Antwort zu geben. Ich denke, bei uns ist das wahrscheinlich eher so ein Avantgarde-Ding…
Warum Avantgarde?
Conte: Weil unsere Musik nicht dem allgemeingültigen Geschmack und Stil entspricht. Was nicht bedeutet, dass die Leute sie nicht mögen. Aber sie ist, sagen wir, nicht repräsentativ. Sie kommt nicht aus der gleichen Richtung, wie der Großteil der heutigen Musik, sondern aus einer ganz anderen Ecke.
Ist Italien ein Jazz-freundliches Land?
Conte: Italien hat heute einige der interessanten Jazz-Musiker in ganz Europa. Es gibt natürlich auch viele außerhalb Italiens, Til Brönner in Deutschland und genauso gibt es viele großartige skandinavische Musiker. Aber in Italien, so scheint mir, gibt es heute eine besonders große Anzahl von Talenten. Und die gibt es jetzt nicht, weil die Italiener den Jazz besonders unterstützen würden, sondern es ist eher umgekehrt: weil es diese Musiker gibt, gibt es ein wachsendes Interesse am Jazz in Italien. Das Publikum muss die Musik ja mit Personen assoziieren können, auch mit jungen Musikern – bei uns hat man Jazz ja lange Zeit nur mit alten Leuten assoziiert.
Du kannst zwar fast alle Platten und Aufnahmen kriegen, aber gleichzeitig ist es nicht einfach, sie zu finden. Weil du wissen musst, wonach du suchst.
Warum?
Conte: Weil auf all den Festivals fast nur alte Musiker gespielt haben. Über Jahre sahen wir Leute wie Sarah Vaughan oder Dizzy Gillespie, der bis kurz vor Ende seines Lebens noch auf die Bühne gegangen ist. Das sind natürlich fantastische Musiker gewesen, aber ich denke, die Politik der Jazz-Festivals in Europa war falsch: die hätten mehr Platz für junge Musiker schaffen müssen. Die Plattenfirmen übrigens genauso.
Inzwischen hat sich das geändert, heute gibt es in Italien mehr junge Jazz-Musiker, die Platten aufnehmen und es ist einfacher, sie live zu sehen. Über sie wird in den Zeitschriften und Magazinen geschrieben, was auch sehr wichtig ist, weil das Radio in Italien überhaupt keinen Jazz spielt.
An welche Konzerte großer Jazz-Musiker erinnern Sie sich noch?
Conte: Ich habe sehr viele live gesehen, dazu gehörte Dizzy Gillespie oder auch das Gil Evans Orchestra mit Gil Evans – das sind unvergessliche Konzerte gewesen.
War das auch der Moment, in dem Sie sich entschlossen haben, Jazz-Musiker zu werden?
Conte: Nein, damals war ich ja schon in der Jazz-Szene drin. Wobei es verschiede Phasen in meinem Leben gab, eine Zeit lang habe ich mich ja nur auf die Arbeit als DJ konzentriert.
Meine Familie war keine besonders musikalische Familie. Ich bekam Musikstunden, aber dann lebte ich Bari, was eben keine Stadt ist wie Rom, Mailand oder Berlin. Dort befand ich mich sozusagen nur am Rand des Geschehens.
Aber meine Faszination für Platten war sehr groß, so dass es für mich damals sehr natürlich war, vom Gitarrenspiel zum DJing überzugehen. Damals war die Figur des DJs etwas sehr Hippes. Und ich dachte mir: Wenn ich Jazz in Clubs auflege, dann wird das etwas sehr Experimentelles, etwas Neues haben. Diese Idee habe ich über viele Jahre verfolgt. Bis ich merkte, dass ich eine Veränderung brauchte, weshalb ich mich, besonders in den letzten vier Jahren, wieder mehr um das Gitarrenstudium gekümmert habe.
Sie wurden als Musikproduzent zu einer der wichtigsten Figuren in der Entwicklung des Electro-Jazz. Wo sehen Sie das Genre heute?
Conte: Ich habe schon sehr viele Experimente gehört, wo Elektronik im Jazz benutzt wurde oder wo man umgekehrt Jazz in elektronischer Musik verarbeitet hat. Vieles davon klingt aber nach kurzer Zeit schon sehr veraltet. Weil die Technologie sich natürlich die ganze Zeit weiterentwickelt. Da gibt viele Sounds, die schon nach sehr kurzer Zeit total altmodisch klingen.
Also, ich muss sagen, dass ich in diesem Genre bis heute keine Platte gehört habe, die wirklich wegweisend, bahnbrechend gewesen wäre. Ich habe viel Interessantes gehört, aber es war nichts dabei, wo ich sagen würde: Das ist das neue, große Ding.
Einer Ihrer größten Erfolge war 2000 der Song „Bossa per Due“…
Conte: Ja, das war eine der Skizzen, der Entwürfe, die ich damals gemacht habe, dieser Sound passte für mich einfach in die damalige Zeit. Das klingt heute auch immer noch schön, ich denke, dass auch viele der Remixe, die ich gemacht habe, heute noch gut klingen. Aber ich habe diese Sache nie besonders ernst genommen. Ich habe nur immer darauf geachtet, dass die elektronische Seite in dieser Musik nicht den akustischen Teil erdrückt. Das war alles, worüber ich mir Sorgen machte.
Vielleicht brauchen wir einfach noch ein bisschen Zeit, um über diese Art von Musik von damals entsprechend urteilen zu können.
Das Album „Jet Sounds“ erschien mitten in der Lounge-Welle am Anfang des neuen Jahrtausends und Ihre Songs sind damals auf diversen Lounge-Samplern gelandet.
Conte: Das war eine Verwertung des Albums, die mir gar nichts gebracht hat. Ich mag das auch nicht unbedingt, diese ganzen Compilations, wo man so alles mögliche reinschmeißt. Das ist auch eine Art, wie die Musik verwässert wird. Aber so etwas kann man selbst kaum vermeiden. Andererseits sind diese CDs ja auch ein Mittel, ein bestimmtes Publikum an eine bestimmte Musikrichtung heranzuführen. Und für mich war es genauso eine Möglichkeit, für meine Musik eine breite Zuhörerschaft zu finden.
Und wenn auf so einem Sampler steht „Easy Listening“?
Conte: Ja, das ist natürlich ein schlechtes Wort für Musik. Wobei, wenn man zum Beispiel von Henry Mancini spricht, der auch unter Easy Listening läuft, dann sage ich: Macht nichts, ich mag diese Musik.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich viele Electro-Jazz-Sampler, wo alles so billig klingt – in dem Fall fühle ich mich unwohl, wenn meine Songs auch auf so einer CD landen.
Ihr Album heißt „Rituals“ – Sie als Bandleader, haben Sie bestimmte Rituale in Konzerten?
Conte: Nein. Bei dem Titel geht es jetzt auch nicht um immer wiederkehrende Rituale, sondern mehr um eine Art mystische Feier, eine Versammlung, etwas, was mit alter Kultur zu tun hat.
Während eines Konzerts gibt es jedenfalls nichts, was sich wiederholt, es ist jedes Mal völlig verschieden. Ich kann mich an kein Konzert erinnern, dass genau das gleiche war.
Welche besondere Eigenschaft haben nur Jazz-Musiker?
Conte: Jazz-Musiker sind ja normale Leute. Die Sache ist nur, dass sie aus irgendeinem Grund, einen Weg finden, sich selbst und ihre Gefühle durch die Musik und die Aufführung auszudrücken. Das ist ein Geschenk, dem musst du dir bewusst sein. Und du musst daran arbeiten. Manche Musiker sehen es als Berufung, andere mehr als Beruf. Ich für mich sehe da eher die Berufung, die Mission. Ich bin mir diesem Geschenk sehr bewusst und nehme es ernst.
Auf Ihrem Album „Rituals“ führen Sie Gastmusiker ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen. Ist das immer einfach, funktioniert das sofort, wenn man zusammen kommt und Musik macht?
Conte: Es funktioniert, wenn die persönliche Beziehung stimmt. Das ist eine der wichtigsten Sachen. Ich muss mich mit jemandem persönlich gut verstehen, um darüber nachzudenken, mit ihm eine Platte zu machen. Til Brönner zum Beispiel, den kannte ich nicht persönlich, bis ich irgendwann Kontakt mit ihm aufgenommen habe. Und schon beim ersten Telefonat begann ich durch den Hörer zu verstehen, dass das am anderen Ende der Leitung eine interessante Person ist, dass eine Freundschaft daraus werden kann. Das ist es auch geworden.
Genauso war es mit den anderen Musikern auch. Bevor jemand mit mir eine Aufnahme macht muss ich ihm genau erklären, worum es mir geht. Wenn ich das Gefühl habe, dass die Sache nicht verstanden wird, dann ziehe ich es vor, diese Option fallen zu lassen. Weil für mich die die emotionale Beteiligung, die Spontaneität das Wichtigste ist. Wenn da jemand kommt, der nicht daran glaubt, was er macht, hat es für mich überhaupt keine Bedeutung mehr, das macht keinen Sinn. Da kann dieser Musiker noch so professionell sein, du wirst merken: da fehlt etwas.
Liegt da vielleicht der wichtige Unterschied zur Pop-Musik, zu Genres wie R’n’B, Pop und HipHop, wo Musik oftmals nur funktional zusammengesetzt wird und nicht daraus entsteht, dass sich Musiker gut miteinander verstehen?
Conte: Das ist halt eine Art von Musik, die sehr mit der geschäftlichen Seite des Ganzen verbunden ist. Das ist eine sehr professionelle Art der Produktion und so kann man auch Musik machen. Ich mache das nicht. Aber ich will mir jetzt auch nicht rausnehmen, zu sagen: Dieser eine Weg ist der richtige, der andere ist falsch. Ich persönlich muss die Musik nicht mögen, die bei so einer Produktion herauskommt. Nur kann ich deswegen noch lange nicht behaupten, dass das schlechte Musiker sind. Manche der R’n’B-Musiker sind sicher große Produzenten und großartige Sänger. Ich für mich würde nur sagen: Es fehlt der Musik manchmal eine Seele. Aber vielleicht ist das auch nur mein Gefühl und jemand anderes würde sagen, dass ich mit dieser Behauptung völlig falsch liege.