Frau Wagner, als Kulturwissenschaftlerin und Essayistin haben Sie viel über Musiktheater, speziell über das Wagner-Theater geschrieben und Sie halten vielerorts öffentliche Vorträge, in welchen Sie über die Geschichte der Oper, deren ästhetisch-technischen Veränderungen im Wandel der Zeit und über die neuen Seh- und Hörgewohnheiten des Publikums sprechen. Wo sehen Sie eigentlich das Musiktheater heute? Mit welchen Veränderungen ist es in der Zukunft konfrontiert?
Wagner: So genau kann man das nie sagen, denn jedes geglückte neue Werk gibt wieder eine neue Antwort. Ich bin ja kein Prophet, sondern nur ein Beobachter der Szene. Die medialen Technologien, Projektionen und Film werden heute selbstverständlich auf die Opernbühne gebracht, sowohl beim neu komponierten Musiktheater wie bei den alten Repertoire-Opern. Bei neuen Werken können die neuen Bild-Medien gleich mitkonzipiert werden, bei den alten sieht das etwas anders aus. Das Problem der Gewichtigkeit von Musik und Bild stellt sich da dringlicher – was hört man noch, wenn die Bildlichkeit dominiert? Neben den filmischen Bildüberschwemmungen der Bühne hat aber auch das Regietheater die alte Opernästhetik sehr verändert, die Seh- und Hörweisen aufgebrochen. Entscheidend bleibt, dass die Musik dicht und interessant genug ist, das hilft den Szenikern mehr als sie ahnen. Daneben gibt es natürlich noch die ganze Welt der Musik, die nur mit Klängen arbeitet: Klanginstallationen, Klang-Raum-Wort-Licht-Performances. Das ist zwar nicht Operntheater, aber offenes experimentelles Klangtheater, dort mischen sich die Genres am leichtesten, dort ist vielleicht am meisten Zukunft.
Ist das Musiktheater überhaupt noch zeitgemäß in unserer heutigen Gesellschaft?
Wagner: Ich finde ja. Je mehr Virtualität und Cyberzeug, desto mehr wird das physisch erfahrbare Theater an Boden gewinnen. Musiktheater vereint alle Kunstsparten, ist deshalb ein Angriff auf alle Sinne. Sinnliche Erlebnisse ereignen sich immer im Hier und Jetzt. Und vielen Komponisten brennen gerade die zeitgenössischen Probleme auf der Seele – wie oft wird die existenzielle Situation des Individuums in undurchschaubarer oder gewalttätiger Zeit auf der Opernbühne reflektiert! Oder das Aktuelle in den zeitlosen alten Themen herausgearbeitet – ob in der Geschichte des Odysseus oder der biblischen Apokalypse. Musiktheater ist vermittelte Gegenwart, ein Gesamterlebnis, das man vor dem Fernseher, im Konzertsaal oder auch im Kino so nicht hat.
Und es ist ja doch jedes Mal anders.
Wagner: Musik- oder Operntheater ist immer einmalig, immer live, kein Abend ist wie der andere. Das ist der Unterschied zu den Konservenkünsten. Eigentlich sind auch die Schwellenängste überflüssig, die viele junge Leute der "Oper" gegenüber haben. Die Intendanten bringen die hohen Künste längst in "locations" unter, in Industriehallen oder in offenen Räumen. Keiner muss sich mehr umziehen, wenn er in die Oper geht.
Heute ist auch evident, dass ‚klassische‘ Opernregisseure seit einigen Jahren anscheinend nicht mehr gefragt sind und Künstler für Inszenierungen engagiert werden, die vorher nur sehr wenig Berührung mit dem Musiktheater hatten. Ich denke da gerade in Berlin an Doris Dörrie, Percy Adlon oder Bernd Eichinger, der demnächst sein Opernregiedebüt an der Staatsoper geben wird. Ist das ein neuer Weg für das Regietheater?
Wagner: Nur bedingt. Der Ansatz ist ja leicht zu verstehen, man hofft auf das frische Auge, das frische Handwerk und eine ganz andere Perspektive. Von der Publicity mal abgesehen. Aber Dilettantismus tut keiner Kunstform gut. Wenn Filmregisseure plötzlich auf der Bühne inszenieren, fehlt ihnen alles, was ihr Können ausmacht: kein Zooming, keine Schnittmöglichkeit, keine Montage. Sie fallen dann unweigerlich in die alten Opernkonventionen zurück, weil sie diese gar nicht kennen und Oper erst "entdecken". Oder hauen halt poppig-bunt drauf, Musik egal. Umgekehrt dreht ein Bühnenregisseur auch nicht von heute auf morgen einen Film, und wenn er es tut, ist die Gefahr groß, dass abgefilmte Operninszenierungen daraus werden.
Sehen Sie diese Besetzungspolitik aus der Sicht der Theaterhäuser eher als medienwirksame, auf Sensation abgestellte Taktik?
Wagner: Durchaus, und als ziemlich hemmungslose obendrein. Dahinter steht aber eben das ökonomische Kalkül. Namen, die aus den Medien bekannt sind, sollen das Publikum in die schlecht ausgelasteten Opernhäuser ziehen. Mit künstlerischen Erwägungen hat das nichts zu tun.
Warum gibt es allerdings in der heutigen Zeit, wo eine für das Regietheater verbindliche Opernästhetik nicht mehr existiert, immer noch gewisse Momente äußerster Skandalträchtigkeit? Vor einiger Zeit besuchte ich eine Inszenierung des "Troubadour" von Hans Neuenfels, die bereits seit 1996 läuft und längst ihr Publikum gefunden hat, als während der Vorstellung ein Zuschauer laut rief "Scheiß Inszenierung!" und damit einen Tumult provozierte.
Wagner: Tumult ist das Schönste für einen Intendanten. Da hängt sich dann die Presse dran, und schon ist das Haus mit Empörten und Neugierigen voll. Dass die Oper solche Emotionen entfesseln kann, ist ja richtig gut. Aber jenseits des Marktschreierischen beginnt das Problem erst. Die Skandalträchtigkeit, von der Sie reden, hat immer mit enttäuschter Erwartung zu tun. Wer in die Oper geht, erwartet Festliches. Dieser Erwartungshorizont ist tief im Bürgertum verwurzelt, wozu hat es dem Adel schließlich und endlich das festliche Vergnügen Oper abgejagt und es zu seiner Repräsentationsform gemacht. Der Besucher möchte also das Andere, Schöne, Erhabene von der Oper. Die großen Gefühle, die gewaltigen Kulissen. Wenn er dann auf der Bühne die Blümchentapeten, Container und das zerschlissene Sofa der Einwandererschichten sieht, also das, was ihn im "normalen Leben" schon missfällt, gibt es Enttäuschungen. Das Regietheater führt ihm seine Gegenwart in den alten Stücken vor – auch Wagners Wotan ist längst und bis zum Überdruss als Konzernherr dargestellt worden – das mag nicht jeder. Und versperrt sich damit leider auch vielen produktiven Einsichten. Die Zeit ist ja nicht stehen geblieben und wir fühlen und sehen und hören anders als die Jahrhunderte vor uns. Ich bin jedenfalls immer dankbar für neue Erkenntnismomente, die durch Regie oder durch ein ganz anderes Verhältnis zwischen Musik und Szene zustande gekommen sind.
Es gibt ja selbst Regisseure und Dramaturgen, bei denen man deutlich merkt, dass es ihnen an Sachkenntnis fehlt.
Wagner: Ja, leider. Dort setzt auch meine Kritik an. Es gibt viele Regisseure, die sich nur eben mal inspirieren lassen von einem Stoff und um jeden Preis auffallen wollen. Musiktheater ist aber ein Metier. Auch wenn man "unbefangen" drangehen und experimentieren soll, müssen Kenntnis und Respekt die Basis bilden. Die Grenzlinien zwischen extravagantem Unsinn und origineller neuer Sichtweise sind oft schwer zu ziehen. An der Konsequenz ihrer Arbeit kann man Künstler aber durchaus erkennen. Gute und schlechte Kunst gab es außerdem immer, man muss halt wach bleiben, unterscheiden und vergleichen lernen. Auch in der Bühnenkunst gibt es ja kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘.
1996 titelte eine Festspielzeitschrift "Rebellion – Oder Was? Nike Wagner attackiert ihren Onkel vehement und verlangt nach einer neuen Ära auf dem Grünen Hügel." Das war noch vor 1999, als Wolfgang Wagner das offizielle Bewerbungsverfahren um seine Nachfolge auslöste. Seitdem sind einige Jahre vergangen und die Festspiele stehen immer noch unter dem alleinigen Diktat und eisernen Patriarchat Ihres Onkels. Warum hat sich bis heute nichts geändert?
Wagner: Weil sich nichts ändern kann, so lange dieselben Akteure da sind und die geschlossenen Verträge gültig sind. Das Bewerbungsverfahren für die Nachfolge war eine Farce, weil Wolfgang Wagner einen Vertrag auf Lebenszeit hat und gar nicht gehen muss, wenn die Dinge nicht in seinem Sinn geregelt werden. Als er seinen Kandidaten – oder besser seine Kandidatin – beim Stiftungsgremium nicht durchbringen konnte, trat er eben nicht zurück und alles war wie vorher. Und nun beobachten Sie diese wundersame und verrückte Langzeitstrategie: der alte Herr, Jahrgang 1919, versucht, nachdem seine Frau als Nachfolgerin abgelehnt worden war, seine sehr junge Tochter aus zweiter Ehe einzubringen. Wobei das sehr geschickt gemacht wird: zuerst wird das Terrain medial abgesichert und dem Töchterchen entweder über die Wagnervereine oder über publikumsbedürftige Opernhäuser Wagnerinszenierungen zugeschanzt, so dass sie dann, nach dem Tod ihres Vaters, als ‚wählbar‘ dasteht. Sie hat doch schon dies und jenes inszeniert, wird es dann heißen, sie versteht was von Wagner. Diese mediale Aufbereitung und Zurichtung einer künftigen politischen Entscheidung geschieht ganz offen, jeder durchschaut das Spiel. Auch die Kulturpolitiker. Sie haben die Verantwortung. Wenn sich in Bayreuth etwas ändern soll, sind sie gefragt.
Aber Sie haben Ihre Bewerbung noch nicht zurückgezogen?
Wagner: Nein. Die Zukunft ist dunkel und es gibt immer das Unvorhergesehene, die Zufälle. Vielleicht haut die junge Frau ja mal auf den Tisch und erkennt, dass sie in und für Bayreuth von allen Seiten manipuliert wird. Auch wenn das schwierig ist innerhalb eines Milieus, das sie als Kronprinzessin hofiert und unter Theaterleuten, die wissen, dass der Weg ins begehrte Bayreuth über ihre Sympathien führt.
Mich verwundert es schon sehr, dass Katharina Wagner bei Proben hospitierte und Aufgaben als Regieassistentin wahrgenommen hat, obwohl doch ihr Vater Bayreuth gerade nicht als Ausbildungsstätte für seine Kinder und Enkel versteht.
Wagner: Wolfgang Wagner ist ein Politiker. Was kümmert ihn sein Geschwätz von gestern?
Nun wird Katharina 2007 "Die Meistersinger" in Bayreuth inszenieren?
Wagner: Sie wird genügend Helfer haben. Es geht ja nicht um Kunst-Entscheidungen an Deutschlands berühmtesten Kunstinstitut, sondern um Machtstrategien und Medienrummel.
Können Sie sich denn abgesehen von Bayreuth noch andere Posten vorstellen? Sie waren schließlich schon als Kultursenatorin für Hamburg und als Kölner Opernintendantin im Gespräch und haben nun einen Intendantenposten in Weimar bezogen.
Wagner: So schwierig es ist, ein Kunstfest in Weimar auf die Beine zu stellen – die Aufgabe passt grundsätzlich bestens zu mir. Hier gibt es Gestaltungsfreiheit, hier ist ein "mythisch" mit Kultur und Kunst voll gesogener schöner Ort und auch die politische Geschichte spielt eine Rolle. Im ehemaligen "Osten" ist es vielschichtiger als an einem westlichen Festivalort. Ein Festival, das man über die Jahre aufbauen kann, ist naturgemäß auch reizvoller als ein politischer Posten.
Außerdem bin ich von Haus aus Essayistin und das Kunstfest ist sozusagen ein ins Leben getretener Essayismus. Beim Essay werden verschiedene Fäden und Gedanken sinnvoll und überraschend zugleich miteinander verknüpft – beim Festival ist das nicht anders.
Und Heimweh nach Bayreuth, gibt es das?
Wagner: Ach, da bleibt immer ein Rest. Ich bekenne mich auch dazu. Ich liebe das Bayreuther Festspielhaus, bin dort aufgewachsen, meine geistig-psychische Formation hat dort stattgefunden. Diese ganz enge primäre Bindung bleibt. Nur weiß mein Heimweh: dieses Bayreuth gibt es nicht mehr. Dieses Heimweh hat sich inzwischen aber vom puren und sinnlosen Privatgefühl in ein Verantwortungsgefühl verwandelt: dort soll Hervorragendes passieren, dann bin ich zufrieden und das Heimweh beruhigt.
Mit Ihren Publikationen bieten Sie Regisseuren und allen am Musiktheater Interessierten dramaturgisches, interpretatorisches Handwerkszeug an. Wie würde ein Regietheater bzw. wie würde ein Bayreuth von Nike Wagner aussehen?
Wagner: Bei meiner Kandidatur hatte ich damals ein Konzept zur Erneuerung der Bayreuther Festspiele vorgelegt. Dies besagte in groben Umrissen: Innerhalb des Korsetts, das durch die Stiftungsgesetze gegeben ist, muss man versuchen, Bayreuth vom Künstlerisch-Dramaturgischen her neu zu denken. Zum Beispiel: der Spielplan muss nach sinnvollen Gesichtspunkten gestaltet werden, man muss wissen, warum man dieses Stück spielt und nicht jenes. Jede Zeit hat das Recht, nach ihren Interessen auszuwählen. In Bayreuth wurden Erneuerungen immer nur von der bildnerischen Ebene her betrieben, man müsste aber auch einmal von der klangtechnisch-musikalischen ausgehen. Wir haben die Live-Elektronik und können alles machen, auch den von Wagner konzipierten Rundklang im Festspielhaus weiterdenken. Organisatorisch sollte man auch den starren Sommer-Rhythmus aufbrechen: Zu Ostern oder Pfingsten könnte man eine "junge Saison" veranstalten, wo die Absolventen der Regieklassen die Gelegenheit bekommen, in diesem Haus zu inszenieren – es braucht ja nur ein Akt sein, nur mit Klavier, muss nicht die große Kiste sein. Und wenn wir schon nur Wagner spielen dürfen, dann bitte auch die Jugendwerke, nur so lassen sich die Zusammenhänge in Wagners Schaffen zeigen – mit mutigen, interessanten Regisseuren. Außerdem müsste man einen intellektuellen Kontext zum Spielplan schaffen, mit spielerischen Verweisen auf die Zeit vor und nach Wagner, den Monolith "Wagnerbayreuth" auflösen. In Bayreuth herrscht diesbezüglich immer nur Selbstzufriedenheit: man hat das herrliche Haus, das immergleiche Repertoire und alles ist ausverkauft – warum sollte man nachdenken?
Hinter Ihrer Bewerbung stehen also allein die künstlerischen Interessen?
Wagner: Nur diese. Alles andere "läuft" ja, vor allem die Finanzen. Ich habe meine Standards durch Wieland Wagner gesetzt bekommen, aber das Opernschaffen seither sehr genau beobachtet und auch darüber gearbeitet. Es muss ein anderer Geist nach Bayreuth, ein kompromisslos künstlerischer. Das Fabelhafte ist ja, dass Bayreuth sich das auch leisten kann. Weder muss es sich nach den Medien noch nach der society richten. Selbst wenn die Hälfte des Publikums wegbliebe, wäre immer noch genug da. Die Schwierigkeiten der "Machbarkeit" dieser Festspiele werden tendenziös übertrieben: Bayreuth ist ein Sommertheaterchen mit immer den gleichen Stücken – was haben dagegen die Repertoirehäuser mit all ihren Lasten und Zwängen zu leisten!
Nun gibt es Mitglieder in der Wagner-Familie, die sich bewusst aus der öffentlichen Diskussion um Bayreuth heraushalten. Gibt es auch einige, die sogar Namen und Identität verleugnen?
Wagner: Den Namen wohl nicht. Aber es gibt durchaus Familienmitglieder, die sich so weit zurückgezogen haben, dass sie dem Scheinwerferlicht nicht dauernd ausgesetzt sind. Die Vordefinition durch die anderen ist eine Belastung, die nicht jedem angenehm ist.
Sie arbeiten auch als Produktionsdramaturgin, haben zum Beispiel kürzlich erst die Neuinszenierung des "Ring des Nibelungen" in München begleitet. Wird von Ihnen vielleicht mal eine eigene Regiearbeit zu sehen sein?
Wagner: Nein. Ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann.
Als Kulturwissenschaftlerin und Essayistin haben Sie die Wiener Moderne zu ihrem geistigen Zuhause deklariert, Karl Kraus, Otto Weininger oder Arthur Schnitzler sind die Männer ihrer literarischen Studien. Wird in dieser Hinsicht wieder etwas zu erwarten sein?
Wagner: Vorläufig nicht. Ein Festival machen und literarische Texte schreiben sind gänzlich verschiedene Dinge. Schreiben ist ein sehr introvertierter, in sich abgeschlossener Vorgang, einsam mit Katzen und Büchern. Ein Festival organisieren ist permanente Extrovertiertheit, Kommunikation, Telefon, Reisen.
Sie versprechen nun als neue Intendantin des Weimarer Kunstfestes einen "Koffer voller Kunst". Das Programm steht seit vielen Wochen fest, der Vorverkauf hat begonnen und das Publikum erwartet mit "pèlerinages" ein neues Musikfestival mit deutlich intellektuellerem Profil. Mit welchen persönlichen Erwartungen sehen Sie dem 20. August, dem Eröffnungstag entgegen?
Wagner: Mit großer Spannung natürlich, wie soll es anders sein. Wenn man über ein Jahr lang ein Festival aufgebaut und Netze geknüpft und an allen Strippen gezogen hat, ist es ungeheuer aufregend, wenn sich am Ende alles zusammenfügt. Ein bisschen wie am Theater, wenn der Lappen hochgeht, muss alles klappen, der Rest ist Nervosität.
Sehr überraschend ist vor allem die enorme Spannbreite der Veranstaltungen: Musik, Theater, Tanz, Literatur, Lesungen, Film und Ausstellungen. Es wird Uraufführungen, multimediale Performances, Podiumsdiskussionen und sogar geführte Wanderungen durch und um Weimar geben. Haben Sie sich für Ihre erste Kunstfest-Saison nicht ein bisschen übernommen?
Wagner: Ihre Frage ist berechtigt. Zunächst hatte ich das Festival prinzipiell als Musikfestival definiert. Mit dem Pianisten András Schiff als Schwerpunkt, der zwei Wochen lang Artist in Residence in Weimar sein wird. Zu seinem eher klassisch-romantischen Programm brauchte ich aber zeitgenössische Gegengewichte. Dann kam die eine Sensation in der bildenden Kunst hinzu: ich konnte die Neue Nationalgalerie Berlin zu einem Gastspiel in Weimar bewegen, sie stellt deutsche Kunst aus der Zeit der Weimarer Republik aus. Und aufs Theater kann man doch wohl nicht verzichten? Zwei Uraufführungen … Ein Festival muss Vielfalt bieten, finde ich, Vielfalt der Künste. Der Festspielbesucher ist auch ein Festspiel-Flaneur, er hat die Abwechslung gern. Deswegen war mein Leben aber auch so schwer in diesem Jahr: in meiner Kunstgier hatte ich mich weit vorgewagt, das Budget war viel zu klein, womöglich ist es sogar die Stadt….. Aber es ist gelungen. Nur an einer Stelle musste ich in letzter Minute doch nachgeben und eine Sparte streichen, die mir am Herzen lag, den Jazz. Für ein wirklich gutes, konzeptuell gedachtes Jazzprogramm waren nicht genug Mittel da.
Aber reicht das jetzige Budget, das von ursprünglich 1,15 Mio. Euro auf knapp 2 Mio. Euro erhöht wurde, denn überhaupt aus, noch dazu bei dieser neuen konzeptionellen Dimension?
Wagner: Nur knapp. Die Mitarbeiter sind unterbezahlt und wir sind unterbesetzt. Wenn Sie mich in meinem Büro – in einem Trakt des Wittumspalais – besuchen kommen, müssen Sie sich erst durch einen Schutthaufen durcharbeiten. Wir sind froh, in der Stadtmitte zu sein, aber für eine Renovation der Räumlichkeiten reichte es nicht. Von ordentlichen Computern ganz zu schweigen. Gleichzeitig ist es wie ein Wunder, dass doch alles irgendwie geht, obwohl ich die ganze Infrastruktur erst aus dem Boden stampfen musste. Die Hauptsache war mir immer das Programm, und da ich darin wenig kompromissbereit bin, gibt es ein Tauziehen ohne Ende. Immer wenn wieder Geld in die Werbung verschoben werden soll und ich tobe, sagte die verschmitzte Geschäftsführerin: "was nützt uns das schöne Programm, wenn kein Mensch kommt?" Aber wissen Sie, wie teuer eine halbwegs gute Werbung ist?!
Sie haben Franz Liszt als Ihren Namenspatron für das Kunstfest ausgewählt: "pèlerinages", was soviel wie Pilgerfahrt oder Wallfahrt bedeutet, ist zugleich der Name eines Klavierzyklus‘ ("Années de pèlerinage") Ihres Ururgroßvaters und Sie gehen mit ihm quasi künstlerisch auf Wanderschaft. Welchen inhaltlichen Zusammenhang gibt es hierbei mit den anderen Sparten, wie und wo verläuft der rote Faden?
Wagner: Ein roter Faden ist mit dem neuen Namen gegeben und der Name ist auch Programm. "pèlerinages" – so heißt das Festival – steht sinnbildlich für die Idee des Unterwegsseins. Damit soll sowohl ein sozialer wie ein geistiger Zustand unserer Zeit charakterisiert werden: Wir sind alle mehr oder weniger unterwegs, hier die Global Players und die herumreisenden Singles, dort die großen Migrantenströme. Die Beweglichkeit und Bewegtheit der Welt hat sprunghaft zugenommen. Mit dem Begriff "pèlerinages" ist auch mein Kunstbegriff umrissen: Kunst als etwas, was nicht stehen bleibt, nicht zu Hause, nicht sesshaft ist, immer im Aufbruch und unterwegs. So sind viele Befindlichkeiten in dieses schöne Wort gefasst und gleichzeitig die Anspielung auf meinen "Paten" Franz Liszt konzeptionell genutzt. "Années de pèlerinages" – Wanderjahre – heißt ein Klavierzyklus von Franz Liszt.
Außerdem bekommt jedes Festival einen richtigen roten Faden, eine inhaltliche Bestimmung. Jedes Jahr erhält ein Motto. Um die Affinität zu Liszt zu betonen, nehme ich es aus dem reichen Oeuvre-Katalog des Komponisten. In den "Années de pèlerinage" gibt es ein Stück namens "Mal du pays", zu deutsch "Heimweh" und das ist das Motto für 2004. Es passt zu dem Übertitel "pèlerinages", denn wer unterwegs ist, hat auch Heimweh. Das heißt, alle Produktionen, die semantisch definiert sind – Theater, Lesungen, auch Tanz und Performances – müssen sich nach diesem Motto richten. So wird die Vielfalt der Veranstaltungen sinnvoll zusammengehalten und erhält Kontur.
Bei dem Motto "Heimweh" denke ich gerade an Heiner Goebbels‘ "Eislermaterial", das durch das Ensemble Modern an zwei Abenden aufgeführt wird. Inwiefern spielt hier eigentlich der Topos eines Heimweh nach dem utopischen Sozialismus als Gegenbild zu der vielleicht falsch verstandenen "Ostalgie-Kultur" der letzten Jahre eine Rolle? Klingt das nicht nach einem politischen Programm?
Wagner: Ein Festival steht nicht im luftleeren Raum. Es hat immer auch politische Züge. Und ein Goebbels ist "unpolitisch" nicht zu haben. Zunächst ist sein "Eislermaterial" ein hervorragendes Musiktheaterstück, auf der ästhetischen Ebene wunderbar gelungen, auch sehr anrührend. Aber eben auch thematisch wichtig. Eine Besinnung auf Eisler im ehemaligen Osten ist aber nicht einfach. Es gibt einen gewissen Widerstand dagegen, ein Naserümpfen: die hat ja nie im SED-Staat gelebt, die weiß ja gar nicht was das ist. Dann bitte ich explizit: geht hinein, hört euch das Stück an. Ein Rückblick auf verlorene Utopien wird noch erlaubt sein – das große Experiment Sozialismus und "neuer Mensch" ist eklatant schief gegangen, aber auf die Ideen, die dahinterstecken, werden die Menschen immer wieder zurückkommen. "Eislermaterial" ist ja keine nostalgische Angelegenheit, sondern eine Hommage an den Komponisten Eisler und den Ton der Zeit mit allen witzigen Untertönen. Gegen das "Heimweh" nach einem Sozialismus habe ich übrigens einen Kontrapunkt gesetzt: ein Gespräch unter Aristokraten über ihre Formen von Heimweh, Heimweh nach den verlorenen Gütern und Ländern. Wie wird das erlebt und reflektiert?
Aber reibt sich denn nicht einerseits das "Eislermaterial", die Utopie eines Sozialismus mit diesem Gesprächssalon, in welchem Felizitas Gräfin von Schönborn mit Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach und mit anderen Vertretern der deutschen Aristokratie über deren ehemalige Besitztümer sprechen wird? Und, nehmen die Bürger der Stadt, die Weimarer selbst dieses Heimweh überhaupt an?
Wagner: Das Aufeinandertreffen zweier historischer, gesellschaftlicher Entwürfe wird weniger kontrovers sein als die Aristokratenrunde selbst. Hier ist Prinz Michael von Sachsen-Weimar-Eisenach die zentrale Person. Weimar hat Schwierigkeiten mit ihm und er hatte sie lange Zeit mit Weimar, viele Bürger heißen ihn gar nicht willkommen, und ohnehin gibt es einen starken antiaristokratischen Affekt im Lande. Nach vier Jahren Streit und Tauziehen ist es kürzlich aber gelungen, eine "gütliche Einigung" zwischen dem Prinzen und dem Freistaat Thüringen herbeizuführen, er hat auf einen großen Teil seiner Entschädigungsforderungen verzichtet. Die Schwierigkeiten miteinander müssten also bereinigt sein. Warum soll er also nicht im Schloss seiner Väter sitzen und diskutieren?
Wird das neue Kunstfest Volksnähe schaffen? Der Erfolg solcher lokalen Festivals ist doch immer an die kulturelle Identität mit den Bürgern der Stadt geknüpft.
Wagner: Volksnähe ist meistens nicht Kunstnähe. Das Kunstfest beteiligt aber sehr gern Weimarer Künstler in einer eigenen Reihe "Salve Weimar". Dort gestalten sie ein eigenes Programm, können sich darstellen. Dieses Weimar-Programm wird als eigenständige Rubrik dem internationalen Programm angegliedert. Ich hoffe, der "kulturellen Identität" des Ortes damit gerecht zu werden. Andererseits gibt es durchaus Probleme mit der Lokalität. Wir haben es mit einer kleinen Stadt von 60.000 Einwohnern mit enormen finanziellen Schwierigkeiten zu tun. Investitionen in die "überflüssige" und "anstrengende" Hochkultur will nicht jedermann, es kam schon zu Boykottaufrufen. In Weimar gibt es – wie überall – massive Bestrebungen, die auf Kommerz- und Unterhaltungskultur setzen. Andererseits gibt es gerade hier auch ein Kulturbürgertum, das sich seiner Verpflichtung für Kultur bewusst ist. Fragt sich halt nur: welcher. Seit Goethe lebt Weimar unter dem starken Druck eines Über-Ichs "Kultur", und dies hat zu sehr konservativen Haltungen geführt. Die Moderne war nie recht gefragt. Hier also das TV-Kultur-Weimar, dort die Musen- und Museumshüter. Beide Lager gilt es zu überzeugen, dass Kultur zugleich anspruchsvoll und aufregend sein kann.
Arbeiten Sie also gegen die kommerzielle Unterhaltungskultur, gegen die sommerliche Mainstreamunterhaltung der letzten Jahre?
Wagner: Durchaus. Man wusste ja, wen man holte, als man mich bat, das Kunstfest zu übernehmen. Also gibt es innerhalb der entscheidenden Gremien in Weimar den Wunsch nach einen Festival der "anspruchsvollen" Sorte. Und auch ein Publikum dafür. Anspruchsvoll heißt ja nicht unvergnüglich. Mein Festival wird bunt und interessant, mit richtig schönen Sachen – aber eben kein Musikantenstadl, kein Bierzelt, keine Anbiederung.
Wie wollen Sie mit "pèlerinages" an das kulturelle Erbe der Stadt anknüpfen, wo sich mit Goethe, Schiller und der Weimarer Klassik als Grundfesten der deutschen Geistesgeschichte der Ettersberg und Buchenwald als Untergang deutscher Kultur Gegensätze bilden?
Wagner: Die Linie 6 des Stadtbusses trägt das Schreckenswort "Buchen-wald" in Leuchtschrift an der Stirnseite – Buchenwald und seine Gedenkstätten liegen der Klassikeridylle Weimar unverrückbar gegenüber. Daran kommt niemand vorbei. Das Kunstfest beginnt jedes Jahr mit einem großen Orchesterkonzert "Gedächtnis Buchenwald", das sich explizit dem Andenken der Opfer widmet. Das ist ein normales, nachdenkliches, sorgfältig programmiertes Konzert, gespielt von der Staatskapelle Weimar. Aber nicht im Steinbruch des ehemaligen KZs oder an anderen authentischen Plätzen, sondern in der Mitte der Stadt, in der Weimarhalle. In der Programmwahl halte ich mich übrigens frei, es können, aber müssen nicht die als "entartet" ausgegrenzten Komponisten von damals gespielt werden. Zu diesem Gedächtniskonzert sind ausdrücklich die Politiker eingeladen, es gibt kurze Reden, dann kann es am nächsten Tag losgehen.
Den anderen Strang, die Anbindung an die großen klassischen Traditionen hoffe ich über Franz Liszt einzufangen. Liszt hat seinerseits damals an Goethe angeknüpft, die "Années de pèlerinage" sind "Wilhelm Meisters Wanderjahre". Liszt wollte die Weltliteratur in Musik setzen, seine symphonischen Dichtungen sind literarisch inspiriert und ein musikalisches Zeitalter sollte dem literarischen folgen, mit ihm und Wagner als Nachfolgepaar zu Goethe und Schiller. Wie wir wissen, hat das so nicht funktioniert. Liszts musikalische Zeitalter ist in Weimar ein bisschen in Vergessenheit geraten und genau dort versuche ich anzuknüpfen. Also: wie Liszt an die literarischen Traditionen von Weimar angeknüpft hat, knüpfe ich nun an ihn an. So reicht man sich quasi über die Zeiten die Hände. Und die Figur Franz Liszts legitimiert auch dazu, zeitgenössische Musik zu spielen. Seine Zeitgenossen waren Wagner, Schumann, Berlioz und meine sind Cage und Berio, Heiner Goebbels, Friedrich Schenker, Steffen Schleiermacher, Wolfgang Rihm. Traditionen müssen lebendig erhalten werden.
Sie sagen selbst, dass das Kunstfest ein Ritual begründen will, ein Ritual zum Gedenken, als kollektives Gedächtnis einer Gesellschaft. Klingt das irgendwie nicht nach Wagners "Parsifal", nach Bayreuth, wo jährlich die Festspiele wie der Gral ritualisiert enthüllt werden?
Wagner: Nicht jedes Ritual muss gleich beim "Parsifal" enden. Rituale sind zunächst mal stabilisierende Faktoren im geistigen Leben einer Gesellschaft. Sie wirken dem schnellen Fluss der Zeit und dem Vergessen entgegen. Deshalb das Konzert zum Gedenken an Buchenwald, das jedes Jahr – anders programmiert natürlich – wiederkommt. Aber darüber hinaus: Wer ein Festival in einer Kleinstadt organisiert, muss überlegen, wie es über die Region hinaus zugkräftig werden könnte. Das Beispiel Bayreuth oder Salzburg oder Ansbach lehrt, dass die rituelle Wiederkehr gewisser Elemente dabei hilft. Das kann immer der gleiche Komponist sein – Wagner, Mozart, Bach – aber auch ein attraktiver Interpret wie Gidon Kremer. Bei mir gibt es den Schwerpunkt Liszt und mein "rituell" wiederkommender Künstler ist der Pianist András Schiff. Man trifft sich übers Jahr wieder, das Wiedersehen von Freunden macht Spaß, das Wiederhören bestimmter Komponisten und Interpreten auch. Daraus ergibt sich ein gewisses Ritual. Im Unterschied zu Bayreuth wird das Ritual in Weimar aber ganz anders sein: Bayreuth ist per Stiftungsgesetz gefangen in seinem Wagner-Ritual, ich bin frei, kann meine eigenen Rituale gestalten.
Vielleicht ist es ein wenig zu hoch gegriffen, aber sehen Sie Weimar zukünftig schon als internationale Festspielstadt neben den etablierten Schlachtschiffen wie Salzburg, Bayreuth oder Bregenz?
Wagner: Das ist eine Frage des Durchhaltens. Unter fünf bis sieben Jahren etabliert sich kein Festival. Erst wenn die Kunstfreunde nicht mehr nachdenken müssen, wenn die Daten wie von selbst im Kalender stehen, ist es gelungen. Sich etablieren heißt ein Stammpublikum bilden und Planungssicherheit von Seiten der Subventionsgeber zu erhalten. Das Jahr 2006 zum Beispiel ist budgetär noch nicht abgesichert, obwohl jetzt die Verträge mit den Künstlern für 2006 geschlossen werden müssten. Die guten Künstler warten ja nicht auf Weimar, die Zugkräftigen haben längst anders disponiert. Das Verrückte ist: ich muss immer so tun, als ob alles gesichert wäre, als ob ich Geld haben werde. Man bewegt sich erst mal in der Welt des Scheins.
Grundsätzlich hat Weimar aber alles, um ein respektables, wenn auch kleines Festspiel-Schlachtschiff zu werden. Weimar hat den Markennamen und viel Aura, es ist ein wunderschöner Ort mit überdurchschnittlich vielen Luxushotels. Man kommt sogar hin: die Autobahn führt vorbei, Leipzig und Erfurt haben Flughäfen, Berlin und Frankfurt sind nicht weit. In Weimar müsste alles möglich sein.
Unsere Schlussfrage: Das Leben ist ein Comic – welche Figur sind Sie?
Wagner: Gustav Gans, der ewige Glückspilz.