Nina de Vries

Ich arbeite nicht aus Mitleid heraus.

Die Niederländerin Nina de Vries arbeitet als Sexualassistentin mit Menschen mit schweren physischen und psychischen Beeinträchtigungen. Im Interview spricht de Vries über professionelle Zärtlichkeit mit behinderten Menschen, den Unterschied zur Prostitution, Tabuisierung von Sexualität, Inklusion und warum Mitleid der falsche Weg ist.

Nina de Vries

© Hanna Becker

Frau de Vries, Sie arbeiten seit 18 Jahren als Sexualassistentin. Wie erklären Sie anderen Menschen Ihren Beruf?
Nina de Vries: Sexualassistenz ist eine bezahlte sexuelle Dienstleistung für Menschen mit Beeinträchtigungen. In meinem Fall beinhaltet das Massagen, nackten Körperkontakt, Kuscheln und Streicheln. Wenn es gewünscht wird, bringe ich jemanden zum Orgasmus, auch wenn das nicht unbedingt im Mittelpunkt steht. Es wird Sexualassistenz genannt, aber es hat mit dem, was in der Regel unter Sex verstanden wird, weniger zu tun. Mehr mit Sinnlichkeit. Ich biete keinen Geschlechtsverkehr oder Oralkontakt an; aber nicht, weil ich es unmoralisch oder schlecht fände, sondern weil es einfach meine persönliche Grenze ist.

Den Vorwurf der Prostitution müssen Sie sich jedoch oft anhören. Sie grenzen Ihre Arbeit von dieser ab…
de Vries: Dieses Thema spreche ich bei meinen Workshops und Vorträgen mittlerweile von alleine an, noch bevor die ersten Fragen danach kommen. Bezahlte sexuelle Dienstleistungen werden in unserer Gesellschaft Prostitution genannt. Dieses Wort ist sehr negativ behaftet, es ist eigentlich ein Schimpfwort – damit wird verbunden, sich unter Wert zu verkaufen und sich benutzen zu lassen. Ich nenne es lieber Sexarbeit.
Man muss klar unterscheiden, zwischen den Menschen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, weil es ihnen Spaß macht, und denen, die dazu gezwungen werden, was leider auch oft vorkommt.
Bei mir geht es um eine bewusst gestaltete Begegnung zwischen zwei Menschen, nicht um mechanische sexuelle Handlungen, wo gesagt wird: Du zahlst jetzt 100 Euro und dann gehöre ich dir eine Stunde und tue so als ob es mir Spaß macht.

Doch die Intention der Kunden ist in beiden Fällen vermutlich ähnlich: Ich zahle für eine intime Begegnung, weil ich sie auf dem normalen Wege nur schwer bekommen kann, oder?
de Vries: Für Menschen ohne sichtbare Behinderung ist es oft leichter, sexuelle Kontakte zu bekommen. Es gibt aber auch Menschen, die trotz einer Behinderung ihr Leben wunderbar führen können und gar keine Probleme haben, einen Sexualpartner zu finden. Allerdings muss man sehr stark und selbstbewusst sein und sich über viele Hürden hinwegsetzen.

An welche Hürden denken Sie?
de Vries: In unserer Gesellschaft herrscht die Idee: Man darf Sex haben, aber nur wenn man jung ist und den Schönheitsidealen entspricht. Was natürlich Quatsch ist. Aber daran verdienen unter anderem die kosmetische Industrie, die Schönheitschirurgie und Firmen, die Diätprodukte herstellen. Außerdem herrscht bei diesem Thema eine große Befangenheit. Viele Blockaden können jedoch aufgelöst werden, wenn man darüber spricht. Und es kann behinderten Menschen die Angst vor Sexualität nehmen, wenn sie jemanden treffen, mit dem sie üben können, entspannt und unbefangen.

Zitiert

Sexualassistenz ist eine Erfahrungsmöglichkeit, keine Liebesbeziehung.

Nina de Vries

In den Niederlanden absolvierten Sie eine therapeutische und eine Körperarbeitsausbildung in Deutschland waren Sie Aushilfserzieherin in einem Rehazentrum. Welche Rolle spielte das für Sie?
de Vries: Ich konnte meine Berührungsängste abbauen. Da waren ganz unterschiedliche Menschen, darunter Frauen, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt waren, Menschen mit einer Querschnitts- oder spastischen Lähmung, Menschen mit unheilbaren Krankheiten.

Danach bin ich gereist und habe angefangen in einem Massagestudio zu arbeiten in das auch manchmal körperbehinderte Menschen kamen. Als ich merkte, dass ich diese Arbeit richtig mag, habe ich mich selbstständig gemacht.

War Ihnen damals bewusst, dass dieses Thema noch immer ein großes Tabu in unserer Gesellschaft ist?
de Vries: Nein, nicht wirklich. Ich war etwas überrascht darüber. In den Niederlanden geht man offener damit um. „Sex Helpers“ sind dort schon seit den 70-er Jahren aktiv. Hier ist es bis heute tabuisiert.

Warum?
de Vries: Sexualität an sich wurde in unserer abendländischen Kultur über Jahrhunderte durch die Kirchen tabuisiert und als etwas Schlechtes dargestellt. Denn Menschen, die Sexualität entdecken, fangen möglicherweise an, ihren Körper und dieses Leben zu lieben und nicht so sehr an das Leben nach dem Tod zu denken, das man sich erst durch die Unterdrückung seiner sexuellen Bedürfnisse verdienen muss.
Dazu kommt, dass viele behinderte und auch ältere Menschen in Deutschland institutionalisiert werden, sie werden in Heime gesteckt und somit aus dem Sichtfeld der Gesellschaft genommen.

Wie könnte man dem Abhilfe schaffen?
de Vries: In Schweden hat man schon in den 80-er Jahren mit der Deinstitutionalisierung begonnen. Man hat rigoros nach und nach alle Heime geschlossen und es den Leuten ermöglicht, zuhause bei der Familie zu bleiben, in dem diese angemessene Unterstützung bekamen. Sexualität ist etwas Intimes und in einem Heim haben Menschen wenig Privatsphäre. Außerdem begegnen viele Pflege- und Behinderteneinrichtungen diesem Thema noch immer mit einer großen Skepsis und auch in den Ausbildungen wird es kaum behandelt. Da hilft nur Aufklärung.

Und wie könnte die aussehen?
de Vries: Ich halte regelmäßig Vorträge, außerdem gibt es In Hamburg die Initiative „Nessita“, deren Gründerin Gabriele Paulsen sich vorgenommen hat, diesen Beruf aus der Schmuddelecke zu holen. Sie hat einen Pool für Sexualassistentinnen gegründet und vermittelt diese an alte und behinderte Menschen. Die Grundidee ist: Gesundheit und mehr Lebensqualität durch Nähe und Berührung. Würdevoll und diskret. Ich glaube, dass das Erfolg haben wird. Vielleicht erkennen immer mehr Leute, dass es nicht darum geht, Sex zu verkaufen, sondern beeinträchtigten Menschen die Möglichkeit zu geben, Körperlichkeit zu erfahren.

Eine Frau mit einer Körperbehinderung erzählte uns einmal in einem Interview, dass sie vermutet, dass die bis heute nicht vollständig stattfindende Inklusion von Behinderten unterbewusst auch mit der Zeit des Nationalsozialismus zusammenhängt, in der Behinderte ausgegrenzt und umgebracht wurden. Wie sehen Sie das?
de Vries: Vielleicht könnte da ein Zusammenhang sein. Mir wird mit dem Alter immer klarer, dass diese Zeit noch gar nicht lange her ist. Ich wurde 1961 geboren, 16 Jahre nach Kriegsende. Millionen Menschen wurden in der NS-Zeit umgebracht, weil sie nicht den Vorstellungen der Nazis entsprachen. Nach dieser Zeit wurden viele Fragen nicht gestellt und vieles blieb erst mal unausgesprochen. In Deutschland werden sowieso sehr wenige Fragen gestellt. Das ist in den Niederlanden anders. Da gilt es als unhöflich, wenn du jemandem keine Fragen stellst.

Sie sind ein sehr neugieriger Mensch?
de Vries: Oh ja. Wenn ich meine Klienten treffe, will ich sie kennenlernen. Ich will sie nicht als Betroffene wahrnehmen und bemitleiden, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnen. Auch Menschen, die nicht sprechen können, die auto-aggressive Verhaltensweisen zeigen. Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, mit solchen Menschen zu kommunizieren. Darunter sind auch welche, die nicht wissen, oder verstehen können, dass man in der Öffentlichkeit nicht masturbieren darf. Das muss man ihnen erklären, mit einer klaren Offenheit und nicht mit einem verschleierten Mitleidsblick.

Sie schreiben auf Ihrer Homepage: „Ich kann diese Arbeit nur Menschen anbieten, die klar sagen oder signalisieren können, was sie wollen und was nicht“. Wie schwierig ist es diese Signale zu deuten, wenn jemand beispielsweise nicht sprechen kann?
de Vries: Das fragen Menschen, die diese Menschen nicht kennen. (lacht) Die meisten meiner Klienten, die nicht sprechen können, haben einen passiven Wortschatz. Sie können mich verstehen und mit Ja oder Nein antworten. Entweder mit der Stimme oder mit Gebärden. Die machen nichts, was sie nicht wollen. Man kann ihnen etwas anbieten, muss aber erst mal folgen, wenn sie etwas signalisieren. Sie äußern sich über Töne, durch Gestik und Mimik, nehmen meine Hand oder gehen einfach weg, wenn sie nicht wollen.

Fiel Ihnen das am Anfang schwer?
de Vries: Ich hatte durch meine therapeutische Ausbildung, die auf intensiver Selbsterfahrung basierte, eine gute Vorbereitung. Ich bin, mit der Zeit, auf jeden Fall viel sicherer und gelassener geworden. Oft ist es aber auch gar nicht so schwierig mit diesen Menschen zusammen zu sein, eher spannend und oft auch lustig und vor allem herzerwärmend.

Wie entsteht der Kontakt zu Pflegeeinrichtungen, wie werden die Klienten auf Sie aufmerksam?
de Vries: Wenn es um kognitiv behinderte Menschen geht, melden sich manchmal die Mütter oder die Einrichtungsleitungen. Bei Pflegeeinrichtungen tritt die Pflegedienstleitung an mich heran. Wichtig ist dann vor allem eine gute Vorbereitung. Ich brauche ein paar Informationen über den Klienten, damit ich weiß, ob mein Angebot das Richtige sein könnte. Wer kam auf die Idee, mich anzurufen und warum? Wie sieht das – oft als störend empfundene – Verhalten aus? Welche Medikamente nimmt die Person ein? Inwiefern ist dadurch die Psyche oder auch die Libido beeinträchtigt? Wie ist die familiäre Situation?
Wenn es dann zu einer Sitzung kommt, ist es mir wichtig, dass die Person frisch geduscht ist, dass die Bettwäsche sauber ist, dass wir uns zu einer Zeit treffen, wo die Tagesform und die Situation im Umfeld optimal sind, da sind mehrere Faktoren, die man beachten muss.

Wie alt sind Ihre Klienten?
de Vries: Da gibt es keinen Durchschnitt. Mein ältester Klient war 100 Jahre alt. Bei den Menschen mit einer Austismus-Spektrum-Störung sind es manchmal auch junge Männer, neulich traf ich einen, der 21 war.

Zwischen 90 und 120 Euro kostet eine einstündige Sitzung mit Ihnen. Reicht eine Stunde wirklich aus, um eine große Vertrauensebene zu einem beeinträchtigten Menschen aufzubauen?
de Vries: Zum Preis muss ich sagen, dass diese Preise für viele Menschen sehr hoch sind. Einige meiner Klienten verdienen in den Werkstätten nicht viel, deshalb sind die Preise auch variabel.
Zur Dauer kann ich sagen: Autistische oder auch demente Menschen haben eine ganz andere Wahrnehmung. Die sind mit einer Stunde oft schon voll ausgelastet. Ich denke, dass ich mittlerweile in der Lage bin, in dieser einen Stunde eine gute Grundbeziehung herzustellen. Ich glaube, deshalb arbeite ich auch nicht mehr mit Menschen, die nur körperlich behindert oder nicht sichtbar behindert sind. Denn da kommt immer das Thema „Beziehung“ auf: Was ist das jetzt zwischen uns? Mag sie mich auch? Werden wir heiraten? Gehen wir mal ein Eis essen? Bleibst du länger? Wann kommst du wieder?

Und das kommt bei kognitiv behinderten Menschen nicht vor?
de Vries: Nein, meine Klienten sind meist schwer kognitiv behindert und können das, was wir eine Beziehung nennen, nicht eingehen. Die kognitiven Bedingungen dafür, zum Beispiel abstraktes Denken, sind bei ihnen nicht gegeben. Sexualassistenz ist eine Erfahrungsmöglichkeit, keine Liebesbeziehung. Der Dienstleistungscharakter schließt ja nicht aus, dass es zu einer schönen zwischenmenschlichen Begegnung kommen kann. Ich arbeite im Moment nur mit Menschen zusammen, die mich wirklich brauchen, weil ihre Lebensqualität und die ihres Umfeldes beeinträchtigt ist. Ich muss aber klar betonen, dass ich diesen Job an erster Stelle für mich mache.

Also durchaus aus egoistischen Motiven heraus?
de Vries: Ich bin neugierig auf diese Menschen, ich arbeite mit ihnen nicht aus einem Gutmenschengedanken oder aus Mitleid heraus. Und wenn ich jemanden unbedingt kennenlernen möchte, der aber nur wenig Geld hat, dann gehe ich auch runter mit dem Preis. Der Preis alleine sollte kein Hindernis für ein Treffen sein. Ich halte nichts davon, zu sagen: Wer das Geld nicht hat, hat eben Pech gehabt! Es kann immer verhandelt werden. Zu sagen, diese Menschen sind durch ihre Behinderung ja schon genug gestraft, jetzt müssen sie auch noch für Sex bezahlen, wäre falsch. Denn in diesem sogenannten Mitleid ist Ablehnung enthalten.

Sie versuchen Mitleid in Ihrer Arbeit ganz klar zu vermeiden?
de Vries: Ja, das ist für mich wesentlich. Es gibt diese Neigung, aktive Sexualassistenz entweder zu verteufeln oder zu verherrlichen. Wenn manche Menschen hören, dass ich mit Behinderten arbeite, sagen sie gleich: „Ohh, das ist aber toll! Wow!“ Es gibt aber bestimmt auch Leute, die sagen: „Jaja, die nutzt die bedürftigen Menschen schön aus! Wer weiß, was die da alles macht.”

Diese Arbeit fordert mich heraus und ich kann viel lernen. Mitleid wäre ein sehr schlechter Motor, weil es hemmt und unsicher macht. Diese vielen Inklusionsbemühungen, die jetzt aufkommen, entstehen zum Teil aus Mitleid und einem schlechten Gewissen heraus. Sie müssen mal einen Tag im Rollstuhl durch die Gegend fahren, dann werden Sie merken, wo wir gesellschaftlich wirklich stehen. Die meisten Menschen schauen mitleidig hin oder peinlich betroffen weg.

Man bekommt manchmal das Gefühl, dass das verstärkte Streben nach Inklusion auch damit zu tun hat, dass es jahrzehntelang versäumt wurde…
de Vries: Unsere Neigung ist es, über diese Menschen zu sprechen statt mit ihnen. Menschen mit Behinderung müssen für sich selber einstehen und das tun sie auch. Ich würde mir wünschen, dass auch behinderte Menschen einfach als ganz normale Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden. Vielfalt ist spannender als graue Einheitsmasse. Viele Menschen geben sich so langweilig, haben Angst aus der Norm zu fallen. Dabei ist jeder von uns absolut einzigartig. Stellen Sie sich das mal vor: Es gibt jeden von uns nur einmal!

Inwiefern hat sich durch die Arbeit Ihre eigene Sexualität verändert?
de Vries: Meine eigene Sexualität ist unabhängig davon. Mein Beruf heißt Sexualassistentin, darin ist das Wort Sex enthalten, aber es geht eher um zwischenmenschliche Begegnungen, in denen der Körper und seine erogenen Zonen nicht ausgeschlossen sind. Es ist in meinem Fall keine beidseitige Sexualität. Es geht um eine Assistenz, um eine Unterstützung. Wenn ich Geschlechts- und Oralverkehr anbieten würde, wäre das nochmal etwas anderes.
Ich war während den ganzen Jahren in verschiedenen festen Beziehungen. Jetzt bin ich seit sechs Jahren mit jemandem zusammen. Mein Partner versteht, auf welcher Ebene meine Arbeit stattfindet. Er arbeitet selbst als Musiktherapeut. Da ist keine Ablehnung, keine Eifersucht.
In meiner eigenen Sexualität spielt auch der Orgasmus eine Rolle, das sich fallen lassen können, die Kontrolle und das Zeitgefühl zu verlieren Das erlebe ich nicht während meiner jetzigen Arbeit. Da lasse ich mich nicht mit meiner persönlichen Sexualität auf andere Menschen ein. Das wäre auch nicht sinnvoll.

2 Kommentare zu “Ich arbeite nicht aus Mitleid heraus.”

  1. Gerd Kaller |

    Sehr geehrte Frau de Vries,

    wir wollen eine Firma eröffnen, die sich mit Begleitung befasst.

    Unsere Kunden sollen Ältere, Kranke, Behinderte und, natürlich auch solche Menschen sein, die unsere Dienste, warum auch immer, benötigen.

    Bei der Recherche zu diesem, höchst interessanten, Thema stieß ich dann natürlich auch auf Sie, da ja Sexualbegleitung >Sex-Assistenz< ebenso da-
    zu gehört.

    Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie Kontakt mit uns aufnehmen würden?

    Mit freundlichen Grüßen

    i.A. Gerd Kaller
    Grüner Schirm
    Hauptstr. 1
    51491 Overath

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  2. Roicke Sieglinde |

    Liebe Frau De Vries,

    wir haben uns gestern kennengelernt.
    Ich würde sehr gerne eine Fortbildung in unserem Johanniter-Stift mit Ihnen durchführen.
    Bitte schicken sie mir doch Ihre E-Mail Anschrift zu.
    Vielen lieben Dank.

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