Herr Blüm, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre, würden Sie Ihr Kreuzchen bei der CDU machen?
Ja, das würde ich. Ich habe mich vor vielen Jahren für die CDU entschieden und bleibe bei dieser Entscheidung. Ich gebe zu, dass ich nicht immer mit allem einverstanden bin, was meine Partei macht. Ohnehin gäbe es wohl nur eine Partei, mit der ich hundertprozentig einverstanden wäre. Diese Partei würde allerdings nur aus einem Mitglied bestehen, und das wäre ich selbst. Man muss sich vor Augen halten, dass Parteien ein notwendiger Kompromiss sind. Die einwandfreie Partei gibt es nicht.
Wie erklären Sie sich, dass die Deutschen so unzufrieden mit der Arbeit der Bundesregierung sind? Die Umfragewerte für die schwarz-gelbe Koalition sind im Keller, Bundeskanzlerin Angela Merkel ist so unpopulär wie lange nicht mehr.
Auf Umfragewerte als Qualitätsbeweis würde ich mich nicht verlassen. Ich verlasse mich da lieber auf meinen eigenen Kopf, der auch schon mal im Gegensatz zur Mehrheit stehen kann. Und da muss man sagen, dass die Kanzlerin auch eine Menge richtig macht. Zum Beispiel hat sie die Regulierung der Finanzmärkte weitergetrieben. Man kann nicht warten, bis der letzte in Europa mit neuen Spielregeln einverstanden ist, da muss man notfalls auch im Alleingang voranschreiten.
Es war allerdings grundlegend falsch von meiner Partei, zu einem Zeitpunkt von Steuersenkungen zu sprechen, wo uns das Wasser schon bis Unterkante Oberlippe steht. Da hat die Union bei den Bürgern Hoffnungen geweckt, die sie nicht erfüllen kann.
Und dann widerspricht natürlich auch die Kopfpauschale, die die CDU einführen will, meinen elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen. Dass der Chauffeur dieselben Krankenkassenbeiträge zahlen soll, wie sein Chef, kann nicht gerecht sein. Daran kann auch ein Ausgleich über Steuergelder nichts ändern. Die Kopfpauschale führt zu mehr Staat und mehr Bürokratie. Was wir brauchen, ist kein Schnüfflerstaat, sondern eine solidarische Gesellschaft.
Eine Forderung, die merkwürdig altmodisch klingt. Ist die soziale Marktwirtschaft nicht längst zum politischen Auslaufmodell geworden?
Nein, im Gegenteil. Die Zeit des Neoliberalismus liegt hinter uns. Wir kämpfen gerade weltweit um neue Regeln für die Finanzmärkte. Noch vor zehn Jahren war es ein globaler Sport, Regeln abzubauen. Der größte Held war der, der am fleißigsten privatisiert und dereguliert hat. Jetzt sind die Neoliberalen ganz kleinlaut geworden. Kein Wunder: Das Desaster, mit dem wir es aktuell zu tun haben, basiert nicht auf der sozialen Marktwirtschaft, sondern auf dem enthemmten Kapitalismus.
Das klingt fast so, als ob die Finanzkrise eine Chance für die soziale Marktwirtschaft sein könnte?
Inzwischen sollte jedem klargeworden sein, dass die Sozialpolitik auch ein politischer Stabilitätsfaktor ist. Ohne Löhne, Gehälter und Renten gäbe es keine Nachfrage. Und ohne einen funktionierenden Sozialstaat könnte die Marktwirtschaft nicht existieren.
Anders als die meisten Ihrer Parteifreunde sind Sie für die flächendeckende Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes. Haben Sie keine Angst, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet werden?
Der Mindestlohn ist auch für mich nicht das Ideal. Aber wenn die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert, muss der Staat als letzter Nothelfer einspringen und für Ordnung sorgen. Lohn von Arbeit muss über der Sozialhilfe liegen. Wenn derjenige, der nicht arbeitet, genauso viel Geld hat, wie jemand mit einem schlecht bezahlten Vollzeitjob, stellt sich schon die Frage, warum man überhaupt noch arbeiten gehen sollte. Diese kurzsichtige Politik ruiniert die soziale Marktwirtschaft.
Auch während Ihrer Zeit als Arbeitsminister wurden befristete Arbeitsverhältnisse ausgeweitet. Jetzt fordern Sie die Bundesregierung als Schirmherr der Kampagne „Gleiche Arbeit, gleiches Geld“ auf, die Ausweitung von Leiharbeit zu stoppen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nein, das finde ich nicht. Wenn ein befristeter Arbeitsvertrag die Brücke zu einem dauerhaften Arbeitsverhältnis wäre, hätte ich kein Problem damit. Aber wenn nach und nach zum Normalfall wird, was als Ausnahme gedacht war, fällt eine Gesellschaft auseinander.
Was war Ihr größter politischer Erfolg als Minister?
Ich hatte das große Glück, die sozialpolitische Einigung Deutschlands mitgestalten zu können. Über Nacht haben wir vier Millionen Renten umgestellt und verbessert. Wir mussten aus dem Nichts eine Arbeitsverwaltung mit 11000 Mitarbeitern aufbauen. Der Großteil hatte bis dahin das Arbeitsförderungsgesetz noch nicht einmal in der Hand gehabt. Dass das Projekt so gut gelungen ist, lag nicht zuletzt am Idealismus und der Begeisterungsfähigkeit aller Beteiligten.
Von der Euphorie und der Aufbruchstimmung ist im zwanzigsten Jahr der Wiedervereinigung nicht mehr viel zu spüren. Viele Ostdeutsche wünschen sich Errungenschaften der DDR zurück.
Schon meine Großmutter hat gesagt, dass früher alles besser war. Aber denen, die von der goldenen DDR schwärmen, muss ich ganz klar sagen, dass es keine Reisefreiheit, aber den Stacheldraht, die Mauer und den Schießbefehl gab. Die DDR wäre auch ohne die Wiedervereinigung zusammengebrochen. Der Sozialismus war wirtschaftlich und politisch am Ende.
Die einwandfreie Partei gibt es nicht.
Was war Ihre größte politische Fehlentscheidung?
Mit heroischen Fehlentscheidungen kann ich nicht dienen, aber mit Niederlagen schon. Ich habe für Mitbestimmungsmodelle gekämpft, von denen ich auch heute noch überzeugt bin, für die ich in meiner Partei aber keine Mehrheit gefunden habe. Ich habe auf dem Leipziger Parteitag gegen die Kopfpauschale gestimmt und den Kürzeren gezogen. Das ist schmerzhaft, aber man muss sich nach seinem inneren Kompass richten. Wenn du weißt, was du willst, musst du marschieren, egal ob der Wind von vorne oder von hinten kommt.
Stehen Sie immer noch zu dem Satz „Die Rente ist sicher“?
Ja, natürlich. Wer über diesen Satz lacht, hat die Wirtschaftsnachrichten der letzten drei Jahre nicht gelesen. Die kapitalgedeckten Hoffnungsträger, die angeblich unser Rentensystem auffangen sollten, wackeln – und das weltweit. Es ist richtig, dass die Höhe der Rente vom Beitrag abhängt. Wenn die Beiträge in die Privatversicherung durch die Riester-Rente umgelenkt werden, fehlen sie in der Rentenversicherung.
Aber was ist mit dem demographischen Wandel? Wie groß sind denn die Chancen, dass ein 20-jähriger für seine Beiträge eine angemessene Gegenleistung bekommt?
Jedes System hat Schwierigkeiten, wenn die Bevölkerung zurückgeht. Allerdings kommt es nicht nur auf die Zahl der Geburten an, sondern auf die Zahl derjenigen, die arbeiten gehen. Die Hauptfrage des Sozialstaats ist und bleibt die Frage, ob wir genug Arbeit haben. Ich bin überzeugt davon, dass uns die Arbeit nicht ausgehen wird. Sie muss nur anders organisiert und anständig bezahlt werden. Hungerlöhne erzeugen Hungerrenten – so einfach ist das.
Kommen wir zurück zu Ihrer Biographie. Eine akademische Karriere war Ihnen nicht in die Wiege gelegt. Sie haben die Volksschule mit 14 Jahren verlassen, um bei der Adam Opel AG in die Lehre zu gehen. Warum haben Sie es trotzdem nach ganz oben geschafft? Waren sie hungrig nach Bildung oder hat Sie die politische Macht gereizt?
Ich habe sehr gerne als Werkzeugmacher gearbeitet. Aber irgendwann habe ich mir gedacht: Vielleicht gibt es ja auch noch andere interessante Dinge im Leben. Ich habe das Abitur nachgemacht und angefangen, Philosophie, Theologie und Germanistik zu studieren. Das war wie ein Abenteuerurlaub. Mir hat sich jeden Tag eine neue Welt eröffnet.
Was müsste passieren, damit mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten den sozialen Aufstieg schaffen?
Ich bin kein Bildungsexperte, aber das Problem sind nicht die verschiedenen Schulformen, sondern die Überlastung der Lehrer. Ein Lehrer braucht viel Kraft und Zeit, um Erziehungsmängel und Bildungsdefizite seiner Schüler ausgleichen zu können. Die Schulklassen sind zu groß.
Glauben Sie, dass ein Politiker, der aus einer Arbeiterfamilie kommt, eine andere Politik macht, als jemand, der dem Bildungsbürgertum angehört?
Zumindest habe ich am Schraubstock bei Opel gelernt, was in meinem späteren Leben sehr wichtig werden sollte: Ausdauer. Was mich am meisten an der polischen Kultur der Moderne stört, ist die Wankelmütigkeit. Der vagabundierende Einfallsreichtum und die mangelnde Fähigkeit vieler Politiker, Probleme so lange und so hartnäckig zu verfolgen und zu bearbeiten, bis man sie aus dem Schraubstock herausnehmen kann. Ich habe erlebt, dass man an Widerständen wachsen kann. Etwas erreicht zu haben, dass einem keiner zugetraut hat, ist eine Erfahrung, die man so schnell nicht vergisst.
Sie waren lange genug in der Politik, um eine ganze Reihe von mehr oder minder schmeichelhaften Etiketten aufgeklebt bekommen zu haben. Für die einen waren Sie ein „Politclown“, für die anderen ein unverbesserlicher „Herz-Jesu-Marxist“. Ärgern Sie solche Zuschreibungen?
Der „Herz-Jesu-Marxist“ war eine Erfindung von Franz Josef Strauß. Darauf bin ich richtig stolz. Mit dem Vornamen „Herz-Jesu“ ertrage ich jeden Zunamen. Ansonsten bin ich aber ganz entschieden der Ansicht, dass Etiketten auf Flaschen gehören, und ich bin nun mal keine Flasche.
Eine kurze Frage zum Schluss: Wie werden Sie Ihren 75. Geburtstag verbringen?
Ich werde meine Berufspflichten erfüllen. In diesem Semester habe ich die Hemmerle-Professur am Lehrstuhl für Systematische Theologie der RWTH Aachen inne. Ich halte eine Vorlesung, in der es um das Thema Gerechtigkeit, die christliche Soziallehre und die Zukunft der Arbeit geht. Das kann ich doch nicht ausfallen lassen, nur weil ich Geburtstag habe!
Macht doch mal neue Interviews