Norbert Bolz

Das Soziale wird wiederentdeckt als wirtschaftliche Produktivkraft.

Medienphilosoph Norbert Bolz über Häuptlinge und Gefolgschaft auf Twitter, Datenflut und Social Networks als Plattformen für sozialen Reichtum

Norbert Bolz

© TU Berlin

Herr Bolz, was ist für Sie der interessanteste Internet-Trend der letzten Monate?
Bolz: Mich hat zuletzt weniger ein neuer Trend besonders begeistert, sondern mehr die Art und Weise, wie man neue Medien kulturell interpretieren kann. Insbesondere, wie es Seth Godin macht, in seinem Buch über die Stämme ("Tribes – We Need You to Lead Us"). Ich finde, es ist ein brillanter Gedanke, den man sich zum Beispiel an Twitter deutlich machen kann: Dass wir im großen Rausch der radikaldemokratischen Kollaboration mit Hilfe der internetbasierten Medien völlig übersehen haben, dass es ein großes Bedürfnis nach Führung gibt und dass Medien wie Twitter oder Podcasts sich hervorragend eignen, um solche Leaderships zu inszenieren.

Weil jeder bei Twitter seine „Followers“ hat?
Bolz: Ganz genau. Nachdem wir die letzten anderthalb Jahre die gewaltige Lust beobachtet haben, selber zu produzieren und die eigene Stimme zu erheben und hörbar zu machen, sehen wir jetzt, dass es auch einen sehr großen Bedarf gibt, zu folgen. Da passt auch das Phänomen der Obama-Mania hinein. Diese neuen Medien befördern also nicht nur das Zuwortkommen eines jeden, sondern ermöglichen auch Gefolgschaft.

Wie stehen Sie diesem Trend gegenüber? Skeptisch? Befürwortend?
Bolz: Mich überzeugt es, weil ich prinzipiell immer davon ausgegangen bin, dass dieser Wunsch, geführt zu werden, nicht ausstirbt. Insofern ist das eine medientechnologische Bestätigung dessen, was man sich auch soziologisch schon immer gedacht hat: dass es für jeden Stamm auch einen Häuptling geben muss. Das war in den letzten Jahren ein bisschen in Vergessenheit geraten. Wo man nur noch von der Weisheit der Massen gesprochen hat gibt es jetzt auch die Lust an der Führung, daran, etwas zu bewirken, Leute zu faszinieren und mit sich zu ziehen.

Mit Botschaften aus 140 Zeichen a la Twitter?
Bolz: Dieses Format ist ja der blanke ingenieurstechnische Zufall. Aber dass es funktioniert, hat nicht mit Medientechnik zu tun, sondern das ist ein kulturelles Phänomen.
Und wenn man sich anschaut, wie viele Politiker das inzwischen machen, besteht glaube ich schon eine bestimmte Leader-Möglichkeit. Die Figur des Opinion-Leaders bekommt jetzt eine ganze neue Konkretheit.

Aber es lassen sich über 140 Zeichen nur selten richtige Inhalte kommunizieren.
Bolz: Es geht ja gar nicht um die Qualität von Inhalten sondern um den Mobilisierungseffekt. Soziale Bewegungen im Großen wie im Kleinen entstehen aus der Tautologie: Mobilisierung mobilisiert Mobilisierung.
Wenn jemand twittert, dass er gerade etwas Tolles in einem Restaurant gesehen hat und man sofort hinkommen soll, dann ist das kritisch betrachtet eine Nullnachricht – aber der Mobilisierungseffekt kann gewaltig sein. Es gibt eine Soziallust und die wird hier blendend bedient. Weil man eine ganze neu Zwischenform gefunden hat zwischen der many-to-many, one-to-one und one-to-many-Kommunikation. Das geht fließend ineinander über. Und der große Spaß, den man daran hat, ist der Spaß an der sozialen Mobilmachung selber. Kommunikation geht in Handeln über, in Situationismus, das ist glaube ich das Verlockende daran. Nicht der Inhalt, der ist meistens idiotisch.

Der „Spiegel“ titelte im vergangenen Jahr mit der Frage: „Macht das Internet doof?“ – Wie wäre Ihre Antwort?
Bolz: Da gibt es nur eine Antwort, nämlich Nein. Natürlich gibt es massenhaft Doofheit. Und im Gegensatz zu früher geraten die Doofen jetzt ins Rampenlicht. Die Leute sind nicht dümmer als früher oder ungebildeter oder oberflächlicher, sondern die Dummen hatten früher keine Chance, in die Öffentlichkeit zu kommen. Heute fördern alle möglichen Kommunikationstechnologien und auch die Bedürfnisse der Massenmedien die Selbstdarstellung der Dummheit. Das Medium Internet hat mit Dummheit also überhaupt nichts zu tun, es ermöglicht aber den doofen und oberflächlichen Leuten, auf der obersten Schaumkrone der Weltkommunikation mit zu surfen. Das ist das Neue. Nicht die Dummheit nimmt zu, sondern die Möglichkeit für dumme Leute, an der Weltkommunikation teilzunehmen.

Könnte es nicht auch passieren, dass die Dummheit zunimmt, weil unser Gehirn viel weniger trainiert wird, wenn alle Daten im Netz immer sofort verfügbar sind?
Bolz: Das sehe ich nicht so. Was heißt denn, das Gehirn trainieren? Die Zeit liegt lange hinter uns, wo Leute in den Schulen noch Gedichte auswendig gelernt haben. Ich habe es gerade noch auf drei, vier Gedichte geschafft, von meinen Studenten kann dagegen keiner mehr ein Gedicht rezitieren. Früher hätte man das für eine Entwicklungskatastrophe gehalten, heute hält man das für selbstverständlich und jeder Entwicklungsminister würde Ihnen sagen: „Man  muss die Hirne von unnötigem Ballast befreien“ oder wie diese Redensarten der Politiker immer lauten.  Die Frage ist: Womit belasten wir unser Gehirn? Das Gehirn organisiert sich in Zukunft vielleicht anders, es wird anders belastet, aber ich sehe eigentlich nicht, dass die Menschen dadurch dümmer werden.

Sie halten nichts von der These einiger Wissenschaftler, dass unsere Konzentrationsfähigkeit aufgrund der übermäßigen Datenflut in Mitleidenschaft gezogen werden könnte?
Bolz: Als das Fernsehen massenweise eingeführt wurde hat man auch vermutet, dass es zu einer allgemeinen Verblödung führt. Die Verblödung hat aber nichts mit dem Medium Fernsehen zu tun, sondern mit Sozialisation und Erziehung. Und genauso ist das mit dem Internet. Bei all den Diskussionen, die es seit Jahrzehnten gibt, ob das nicht den Kindern schadet, wenn sie sechs Stunden am Tag Videospiele spielen, ob sie dadurch aggressiv werden etc., kann ich nur sagen: Diese Fragestellung ist lächerlich, weil sie sich nämlich nur um die alles entscheidende Fragestellung drückt.

Die da wäre?
Bolz: Wer trägt eigentlich die Verantwortung dafür, dass sich Jugendliche mit bestimmten Medien auf diese oder jene Art und Weise beschäftigen? Warum kann ein Kind von 14 Jahren jeden Tag vier oder fünf Stunden lang am Computer sitzen kann, um Spiele zu spielen? Das führt natürlich sehr schnell zum Thema Erziehung und das ist genau das Thema, an das niemand heran möchte.

Geht es Ihnen um eine Erziehung zur kritischen Mediennutzung?
Bolz: Nein, kritische Mediennutzung ist absoluter Blödsinn. Es gibt nur “Media fallout-rationing”, wie das Marshall McLuhan schon vor 50 Jahren gesagt hat. Das heißt: Alle Medien produzieren einen „fallout“, eine Art geistige Radioaktivität. Und die muss man einfach rationieren. Sie können sich nicht gegen Radioaktivität schützen, aber sie können sich überlegen, welche Dosis erträglich und welche Dosis zu hoch ist. Und genau das ist auch die Frage des Umgangs mit den Medien.

Zitiert

Die Figur des Opinion-Leaders bekommt jetzt eine ganze neue Konkretheit.

Norbert Bolz

In der heutigen Arbeitswelt sitzen Erwachsene teilweise bis zu zehn Stunden täglich vor dem Rechner. Befürchten Sie da auch negative Auswirkungen?
Bolz: Nein, überhaupt nicht. Ich bedauere aber Menschen, die den ganzen Tag auf den Bildschirm gucken müssen. Wo ist der Unterschied, ob ich die Akten der Kommissionssitzung vier Stunden lang am Computer durcharbeite oder ob ich sie in einem Leitz-Ordner durcharbeite? Das ist beides total bescheuert. Leider Gottes gibt es eine Menge Menschen, die so total bescheuerte Arbeit machen müssen und vielleicht ist es für die sogar eine gewisse Erleichterung, dann die Eleganz von Emails in der Kommunikation zu nutzen. So bekommen sie schneller ein Feedback auf das, was sie im Augenblick machen, als wenn sie noch auf dem klassischen Postweg kommunizieren müssten. Ich denke, die meisten, die solche Sklavenarbeit verrichten müssen, empfinden es als eine Art Erleichterung und Befreiung, dass man mittlerweile diese intermediären Instanzen ausschalten und mehr oder weniger direkt kommunizieren kann.

Wie viel Zeit verbringen Sie selbst denn während Ihrer Arbeit mit analogen Medien und wie viel vor dem Computer?
Bolz: Ich würde da gerne differenzieren, denn die Arbeit zerfällt ja in Lesen, Schreiben und Kommunizieren. Diese Dimensionen haben eine unterschiedliche Wertigkeit und die verschiebt sich gerade. Das Kommunizieren nimmt einen immer größeren Teil der Arbeitszeit in Anspruch, ohne dass man das unbedingt gut finden müsste.

Sie finden es nicht gut?
Bolz: Ich persönlich halte das für verheerend, aber unvermeidlich. Und da Kommunikation heute im Wesentlichen elektronisch verläuft, gehört es zur digitalen Ära, wenn man so will. Während sich das, was wirklich produktiv ist, immer noch am Medium Buch orientiert. Es wäre natürlich besser, wenn ein Medienwissenschafts-Professor den Anschein erweckt, im Grunde gebe es für ihn nur noch das Internet und er würde seine ganze Intelligenz in der virtuellen Welt entfalten. Aber da müsste ich lügen, das ist einfach unwahr. Es gibt nach wie vor für eine wirklich intelligente Beschäftigung mit einem Problem noch keine ernstzunehmende Alternative zur Textlektüre.

…Sie meinen zur analogen Textlektüre, richtig?
Bolz: Ja, sofern es ernstzunehmende Textlektüren sind und nicht so ein „Drüber-Gewische“, also das was Politiker beispielsweise machen. Politiker bräuchten keine Bücher mehr. Für die ist die elektronische Möglichkeit ideal. Aber für uns, die wir es noch ein bisschen ernster nehmen, gibt es eigentlich kaum eine Alternative zu Print. Das Schreiben findet natürlich ausschließlich am Computer statt. Doch die Zeit dafür muss man sich heute schon erkämpfen.

Wer oder was hindert Sie?
Bolz: Ich persönlich sehe Verwaltung und Kommunikation als Bedrohung meiner produktiven Arbeit. Und es wird immer schwerer, die klassische Produktivität – also neue Ideen zu entwickeln – dagegen zu verteidigen. So wunderbar diese Internet-Welt ist und so unendlich leicht vieles geworden ist, muss man einfach auch sehen, wo der Preis ist.

Sie beschreiben es als verheerend. Es scheint Sie also wirklich sehr zu belasten…
Bolz: Ich kenne jede Menge Leute, die das nur noch genießen, dass man nicht mehr lesen und eigentlich auch nicht mehr schreiben muss, im klassischen Sinn. Dass man im Grunde nur noch mit Emails und Google die Welt beherrschen kann. Ich gönne ihnen diesen Genuss und verstehe, dass es so läuft, aber ich als alter Mann muss ganz einfach sagen: Mir ist dieser Preis manchmal etwas zu hoch.

Sind Sie in einem "Social Network" registriert?
Bolz: Nein. Ich habe keine Zeit dafür, ich komme ja noch nicht mal mit dem Einfachsten zurande, zum Beispiel die wirklich dringenden dienstlichen Emails alle zu bearbeiten. Dass ich zusätzlich noch freiweillig etwas in diese Richtung tun würde, ist vollkommen ausgeschlossen.
Ich bin aber auch nicht – wie viele andere – darauf angewiesen. Wenn heute jemand Unternehmer ist, oder wenn sich jemand in eine Gruppe oder eine Stadt integrieren will, dann sollte er da sinnvoller Weise einsteigen. Aber bei mir ist das nicht der Fall.

Und die soziale Lust, die Sie eingangs erwähnten?
Bolz: (lacht) Ich befriedige meine Soziallust noch auf die traditionelle Art und Weise. Es gibt genug Leute, mit denen ich noch face-to-face zu tun habe. Das befriedigt meine Soziallust vollkommen.

Wobei ja auch die Social Networks mitunter zu mehr face-to-face-Kommunikation führen.
Bolz: Das ist vollkommen richtig. Aber Sie müssen bedenken: Ich bin 56, wäre ich 20 Jahre jünger sähe die Sache völlig anders aus. Wenn ich jetzt nochmal am Anfang meiner Karriere wäre, vielleicht gerade meine Dissertation geschrieben hätte, wäre ich natürlich überall in den Netzwerken drin. Das ist der Sozialstil des 21. Jahrhunderts und jeder, der auf die Beine kommen und sich etablieren will muss in diese Medien rein, selbstverständlich.

Welche Auswirkungen der Social Networks sehen Sie langfristig auf die Gesellschaft?
Bolz: Da bin ich extrem optimistisch. Ich halte die Social Networks für die wichtigste gesellschaftliche Entwicklung seit Jahrzehnten, weil sie vollkommen neue Plattformen für die Produktion von sozialem Reichtum bieten. Wir brechen aus der engen scheuklappen-bewährten Betriebswirtschaftslehre aus und sehen endlich, dass es Reichtum und Produktivität jenseits der bisher üblichen ökonomischen Bereiche gibt. Und diese soziale Produktivität, das soziale Kapital wird auf eine unvorstellbare Weise gefördert durch diese neuen Sozialmedien. Weil die Menschen ein tiefes archaisches Bedürfnis nach sozialer Produktion jetzt plötzlich belohnt sehen. Die neuen Sozialmedien machen aus dem Idealismus, der immer schon in unseren Seelen steckte, plötzlich einen Realismus.

Aber wird der soziale Reichtum dann auch zur wirtschaftlichen Größe?
Bolz: Ja, das bezieht sich gerade auf wirtschaftliche Bereiche. Wenn Sie heute diese Soziallust nicht bedienen – im Konsumgüterbereich, auch im B2B-Bereich, überall, wo es um wirtschaftliche Prozesse geht – dann sind Sie draußen. Der Aspekt des sozialen Kapitals ist für Unternehmen heute von außerordentlicher Bedeutsamkeit. So wie man vor 20 Jahren erkannt hat, dass Kommunikation kein Ornament am Rand der eigentlichen Produktivität ist, sondern die Produktivkraft schlechthin, so erkennt man heute, dass das Soziale nicht der Gegensatz zur wirtschaftlichen Effizienz ist sondern die Bedingung. Das Soziale wird wiederentdeckt als wirtschaftliche Produktivkraft.

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