Ole von Beust

Man lebt in einer Scheinwelt.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust über sein Buch „Mutproben“, Angela Merkel, Scheinwelten und den Einfluss der Medien auf die Politik

Ole von Beust

© Nahuel Lopez

Herr von Beust, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Mutproben – ein Plädoyer für Ehrlichkeit und Konsequenz“. Welche Politiker finden Sie mutig, ehrlich und konsequent?
Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière. In schwierigen Zeiten braucht man ruhige und unaufgeregte Politiker, die konsequent ihre Positionen durchsetzen. Ich schätze Schäubles beharrliche Einstellung zum Euro und de Maizières Verwirklichung der Bundeswehrreform und Entwicklung einer langfristigen Strategie für Afghanistan.

Wie betrachten Sie die Ehrlichkeit eines Horst Seehofer, dessen ungewöhnlich offenen Worte im Interview mit dem Heute-Journal im Mai 2012 für Aufsehen sorgten…
Was er gesagt hat, fand ich Norbert Röttgen gegenüber unhöflich und taktlos. Wenn man in schwierigen Zeiten Wert auf Solidarität von anderen legt, muss man selbst auch solidarisch sein. Auch Horst Seehofer hatte problematische Phasen in seinem Leben, wo sich die anderen zurückgehalten haben. Aber es schien mir sehr spontan.

Das Seehofer-Interview war ungewöhnlich, weil man von Politiker-Interviews ja eher gestanzte Phrasen gewöhnt ist…
In der Politik gibt es eine Kunstsprache mit fest gefügten Formulierungen. Statt zu sagen „Ich bin traurig“ sagt man „Ich bin ein Stück weit betroffen“. Das geschieht nicht bewusst, sondern ergibt sich automatisch, weil man sich dauernd im politischen Umfeld bewegt. Physiker, Sportler oder Künstler haben auch ihre eigene Sprache.

Wer ist denn noch „normal“?
Ich finde, dass Angela Merkel noch sehr authentisch ist. Andere haben sich erheblich mehr angepasst.

Neue Arbeitsplätze, Steuersenkungen, mehr Geld für Bildung – die Wahlversprechen wiederholen sich auch ständig…
Wahlversprechen sollte man sein lassen. Politiker, Journalisten und Versicherungsvertreter haben die geringste Glaubwürdigkeit aller Berufsgruppen. Warum soll ich was anpreisen, was keiner glaubt? Man sollte versuchen, die Haltung, die jemand emotional hat, deutlich zu machen.

Also ein auf die Persönlichkeit der Kandidaten ausgerichteter Wahlkampf?
Ja, weil die Programme sich ähneln. Es gibt noch Unterschiede zwischen CDU und SPD, aber der internationale Druck und die Schnelle der Ereignisse zwingen die Parteien in unglaubliches pragmatisches Handeln. Die ideologische Unterscheidbarkeit wird geringer. Dann treten automatisch Personen in den Vordergrund.

Die FAZ schrieb vor einigen Jahren in einem Artikel „Warum Anna Netrebko singt wie Guido Westerwelle spricht“, dass man Politiker wie Helmut Kohl und Franz Josef Strauß zwar kritisiert hat, ihnen aber – im Gegensatz zu den Politikern von heute – ihre Überzeugung glaubte.
Die Älteren waren sehr authentisch. Aber man kann das Guido Westerwelle & Co nicht vorwerfen. Wir sind in einer Zeit groß geworden, die uns nicht viel abverlangt hat. Die Generation vor uns hat Krieg, Vertreibung, Tod und Ausbombung erlebt. Solche Erfahrungen prägen die Persönlichkeit. Ich selbst bin 1955 geboren. Ich habe nie etwas Existentielles auszustehen gehabt. Das kann man gar nicht vergleichen.

Was war das Mutigste, das Sie in letzter Zeit getan haben?
Mutig war sicher, mit der Politik komplett abzuschließen und etwas völlig Neues zu machen. Ich habe keine Existenzängste ausstehen müssen, aber die Frage, wie geht’s weiter, konnte ich damals nicht beantworten.

Viele warfen Ihnen vor, Sie hätten einfach keine Lust mehr gehabt.
Wie Sie’s machen, ist es falsch. Wenn Sie aus freien Stücken zurücktreten, ist es falsch, und wenn Sie lange im Amt sind und nicht aufhören, auch. Mir ist lieber, die Leute sagen, „Schade, dass Sie gegangen sind.“ als „Wann hört der Kerl endlich auf?“.

Sie waren für vier Jahre gewählt. Spürten Sie keine Verantwortung dem Bürger gegenüber?
Mir vorzuwerfen, mein Rücktritt sei völlig überraschend gekommen, ist ungerecht. Wenn man nicht mehr kandidieren will, ist es normal, dass man rechtzeitig vor der nächsten Wahl aufhört, damit der Nachfolger die Chance hat, im Amt an Profil zu gewinnen. Ich habe immer gesagt: Ich weiß nicht, ob ich noch mal kandidieren werde, und wenn nicht, gebe ich das ein Jahr vor der Wahl bekannt.

Was halten Sie von der Auffassung bestimmter Medien, dass Angela Merkel keine starken Persönlichkeiten in den eigenen Reihen duldet?
Das ist dummes Zeug. Ich kann natürlich nicht für andere sprechen aber das war nicht der Grund für meinen Rücktritt. Sie verbrauchen sich in Führungspositionen. Die Verweildauer von Vorständen in DAX Unternehmen liegt nur bei etwa zwei Jahren.

2010 hat die CDU binnen eines Jahres sechs Ministerpräsidenten verloren, Dieter Althaus, Günther Oettinger, Roland Koch, Jürgen Rüttgers, Christian Wulff und Sie…
Früher wurden Sie Ministerpräsident mit Mitte fünfzig und haben bis zum Pensionsalter gearbeitet. Wir sind mit Mitte dreißig Berufspolitiker geworden und haben das um die zwanzig Jahre gemacht. Die Dienstzeit in der Politik ist nicht kürzer als früher, der Zeitraum hat sich vorverschoben. Das ist eine Generationenfrage.

Helmut Kohl war 16 Jahre Bundeskanzler, Angela Merkel tritt 2013 zum dritten Mal an, es gibt durchaus Gegenbeispiele.
Menschen sind verschieden, und die Kanzlerin hat ein sehr belastbares Naturell. Aber nach acht Jahren ist die Gefahr sehr groß, dass Sie sich in einem solchen Amt verbraucht fühlen und auch tatsächlich verbraucht sind.

Welche Lösung schlagen Sie vor?
Die amerikanische Regelung ist interessant. Eine fünfjährige Legislaturperiode und einmalige Wiederwahl. Dann legen sich Machtstrukturen nicht zu sehr fest, wenn man mal länger dabei ist.

Wenn man bereits mit Mitte dreißig Bundesminister wird, wie Kristina Schröder oder Philipp Rösler, fehlt dann nicht die Lebenserfahrung?
Das ist das Gute an Hamburg: Die Abgeordneten haben alle einen normalen Beruf. Uns nennt man ja auch „Feierabendparlament“. Ich selbst war zehn Jahre Anwalt, bevor ich Berufspolitiker geworden bin, eine Unabhängigkeit zu haben schadet nicht. Eine Partei braucht einen Generationenmix, ältere, erfahrene und jüngere. Wenn die führenden Köpfe alle in den Dreißigern und vom gleichen Typ sind, wird es schwer. Das war der Fehler der FDP. Die haben zu sehr auf Jugendlichkeit gesetzt.

Zitiert

Wahlversprechen sollte man sein lassen.

Ole von Beust

Politiker, die in den Ruhestand gehen, haben oft Probleme, sich mit dem normalen Alltag zu arrangieren, finden ohne Chauffeur keinen Parkplatz usw. Entfernt man sich als aktiver Politiker zu sehr von der Realität des Bürgers?
Man lebt in einer Scheinwelt. Ich habe als Bürgermeister keine Emails beantwortet, keine Flüge oder Zugtickets gebucht, das haben Mitarbeiter gemacht. Man darf aber nicht bequem werden und sich alles abnehmen lassen. Volksnähe muss man sich erkämpfen. Ich bin ins Kino gegangen, habe eingekauft, wusste den Preis für ein Pfund Butter oder eine Packung Knäckebrot. Das ist nicht einfach, weil man immer beobachtet wird und in der Bevölkerung der Eindruck herrscht, der geht ja nur zur Wäscherei oder zu Peek & Cloppenburg, weil der volksnah scheinen will. Dass Sie wirklich einkaufen, glauben Ihnen die Leute gar nicht.

Warum nicht?
Die Medien interpretieren in Banalitäten so viel rein. Kein Wunder, dass die Menschen denken, wir seien eine andere Spezies.

Wie stark haben die Medien Ihre Entscheidungen beeinflusst? Fühlten Sie sich behindert?
Behindern wäre zu stark formuliert. Aber bei Entscheidungen fragt man sich schon, wie die Medien darüber berichten werden und was die Bild – Zeitung schreibt.

Können Sie den berühmten Mailbox- Anruf von Christian Wulff beim Chefredakteur der Bild-Zeitung verstehen?
Manchmal ist man wütend, dann passiert so was. Ich selbst schlafe lieber eine Nacht drüber. Aber auch ich habe Fehler gemacht. Ich würde nicht mit dem Finger auf Christian Wulff zeigen. Eigentlich könnte man in der Politik eigentlich recht gelassen sein, denn oft denkt die Bevölkerung ganz anders, als die Stimmung in den Medien ist. Aber das ist man natürlich nicht.

Aber warum nicht? Ist es nicht kontraproduktiv, wenn sich Politiker ständig durch die Stimmungsmache der Medien beeinflussen lassen?
Grundsätzlich ja. Aber die eigenen Leute, Partei und Fraktion lassen sich stark von den Medien beeinflussen, mehr als die „normale“ Bevölkerung. Deren Unterstützung brauchen Sie aber und müssen daher auf diese, auch in ihrer Medienempfindlichkeit, Rücksicht nehmen.

2008 verglich Ihr Herausforderer Michael Naumann im Interview das Springer-Monopol in Hamburg mit der Medienmacht Berlusconis in Italien…
Er war gekränkt, weil kaum über ihn berichtet wurde. Die Hamburger Medien sind kritisch, aber sehr lokalpatriotisch. Das kommt immer dem zu Gute, der gerade regiert, so wie es jetzt Olaf Scholz nützt. Da geht es nicht um CDU oder SPD. Die Liebe zur Stadt und die Begeisterung darüber, Hamburger zu sein, ist immer größer, als die Kritik an der Regierung.

Wären Sie gerne wieder politisch aktiv?
Eine Rückkehr in die Politik schließe ich aus, alles hat seine Zeit. Aber mich reizen Themen wie die Frage „Was wird aus Europa?“. Nicht nur ökonomisch, sondern auch inhaltlich und kulturell. Auch die Frage der Integration ist interessant, da hat die CDU sich rasant entwickelt. Man ist das Thema noch nicht genug angegangen, aus Sorge, das konservative Lager zu verärgern.

Sie beklagen in Ihrem Buch die milden politischen Reaktionen auf das Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin. Hat Sarrazin den Mut aufgebracht, der vielen Politikern fehlt?
Mangelnden Mut würde ich Thilo Sarrazin nicht vorwerfen, aber das Buch war inhaltlich falsch. Es ist falsch, eine bestimmte Gruppe herauszunehmen und zu stigmatisieren. Vermutlich kann ich für jede Bevölkerungsgruppe bestimmte Eigenheiten finden, die, wenn ich sie zuspitze, abschreckend wirken. Ein Problem zu benennen, ohne Lösungsvorschläge zu machen, finde ich unredlich. Es hätte von Seiten der Politik viel stärkere Proteste gegen das Buch geben sollen.

Wie konsequent bzw. wie flexibel sollte eine Regierung sein?
Wenn Sie an Ihrer Position festhalten, sind sie halsstarrig und nicht flexibel. Wenn Sie abrücken heißt es, Sie sind windelweich und haben keine Grundsätze. Wir machen es eigentlich immer falsch. Man sollte immer seiner Überzeugung folgen und nicht einer vermuteten Wertung, das geht sowieso schief.

Geschah Ihre Koalition mit dem Rechtspopulisten Ronald Schill und später mit den Grünen aus Überzeugung oder doch aus machtpolitischem Kalkül?
Es geht nicht darum, mit wem man koaliert, sondern um die Inhalte. Natürlich wollte ich regieren, und Schill war auf eine gewisse Art Mittel zum Zweck. Trotzdem ist das Entscheidende der Koalitionsvertrag, und weder im Koalitionsvertrag mit Schill noch mit den Grünen stand inhaltlich Unsinn. Das hat man uns auch nie vorgeworfen.

Jutta Ditfurth und Sie haben die gleiche Urgroßmutter, vielleicht wurde Ihnen eine Nähe zu den Grünen schon in die Wiege gelegt…
Nein (lacht). Persönlich schätze ich sie sehr, aber ich teile nicht immer ihre Meinung. Ich empfand sie als sehr empfindsam, eher schüchtern und zurückhaltend. Ganz anders als ihre Fernsehwirkung, ich war selbst überrascht. Aber oft sind die Menschen privat ganz anders als im Fernsehen.

Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie Jutta Ditfurth das „von“ abzulegen?
Nö, wenn man so heißt, heißt man so.

Sie sind auch „Freiherr“, aber das wurde von der Presse nie betont, anders als bei Karl-Theodor zu Guttenberg. Warum?
Ich komme aus einer mittelbürgerlichen Familie, die bis auf den Namen keine Adelsattribute hatte. Die Lebensumstände, der Ort, das Schloss – das kam bei Karl-Theodor zu Guttenberg alles zusammen. Ich fand nicht, dass er gekünstelt aristokratisch aufgetreten ist. Selbstsicher ja, aber nicht so, wie man sich das Klischee des Freiherrn vorstellt.

Wurden Ihnen bestimmte Werte durch das Elternhaus vermittelt?
Mein Vater war Bezirksbürgermeister in Wandsbek, meine Mutter Halbjüdin. Mein Vater war ein Freigeist, und da wirkte seine Prägung aus dem Adel hinein: Nimm dich nicht so wichtig. Bewundere niemanden. Nimm deine Verantwortung wahr. Ihm war es unverständlich, dass der Adel im Dritten Reich so versagen konnte.

Sie sind ein Jahr jünger als die Kanzlerin und beide in Hamburg geboren. Sind Sie sich eigentlich ähnlich?
Angela Merkel ist erheblich vernünftiger als ich, ich bin intuitiver.

Haben Sie noch Kontakt?
Ja, ich habe ihr vor vierzehn Tagen eine SMS geschickt.

Und was stand drin?
Das sage ich nicht. Aber sie antwortet immer sehr nett. (lacht)

Das Interview entstand im Juni 2012.

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