Herr Fülling, während der Olympischen Sommerspiele schaut die ganze Welt auf China, das Land hat "Reformen für die Beschränkung der Todesstrafe sowie eine größere Transparenz in der Anwendung" angekündigt. Es scheint, die chinesische Bevölkerung würde von den Spielen profitieren.
Fülling: Ja, das ist durchaus so. Die Chinesen sehen die Olympischen Spiele als Chance. Ich war letzten Sommer, im Rahmen meiner Recherche für mein neues Buch, in China und habe mich mit den Einheimischen unterhalten: Für sie sind die Spiele eine große Hoffnung, da sie im Land für mehr Transparenz sorgen können.
Wie soll denn in einem Land Transparenz geschaffen werden, in dem die Regierung massiv gegen die Rechte und Würde der eigenen Bürger/innen vorgeht?
Fülling: Genau dies ist eines der Missverständnisse, die immer wieder in unseren Medien auftauchen. Ich kann nur betonen, wie ich es auch in meinem neuen Buch mache: Eine Tendenz der Regierung, den Bürgern mehr Rechte zu gewähren und die Todesstrafe zu lockern, gibt es schon lange. Die Gerichte sind von staatlicher Seite bereits angewiesen, die Todesstrafe nicht mehr zu verhängen. Was die Regierung in Peking beschließt, wird allerdings nur selten in den Dörfern oder Provinzen umgesetzt. Der Arm der Regierung reicht aber einfach nicht bis in die ländlichen Regionen. Große Städte wie Peking oder Shanghai sind schon jetzt sehr stark westlich orientiert. Doch auf dem Land sind die Bürger wesentlich konservativer – und so auch die Richter und Beamten. Wenn beispielsweise ein Blogger dort über etwas Regierungskritisches berichtet, wird er nicht nur von der lokalen Justiz verurteilt, sondern auch von der ansässigen Bevölkerung geächtet. Die Provinzen arbeiten gegen die Politik, indem sie einfach ihre eigenen Süppchen kochen.
Aber wie sollen denn die Olympischen Spiele die konservative Landbevölkerung zähmen?
Fülling: Die Spiele könnten ein Einheitsgefühl hervorrufen. Vielleicht ignorieren die Bewohner in den konservativen ländlichen Regionen dann nicht länger, was die Politiker beschließen und wie die westlich orientierten Bewohner der Großstädte handeln. Auch die Berichterstattung der ausländischen und lokalen Journalisten wird perfekt, wenn auch vermutlich eingeschränkt, ablaufen. Von Januar 2007 bis Oktober 2008 soll für alle Journalisten durchgängige Pressefreiheit gelten. Die chinesische Regierung will sich nicht in die freie Berichterstattung einmischen. Auch, sagt sie, hätte niemand die Möglichkeit, alle anwesenden Reporter zu überwachen. Wie weit so viel Freiheit dann tatsächlich zugelassen wird, muss sich aber erst noch erweisen. Diese Berichterstattung wird alle Teile Chinas erreichen. Auch das ist ein weiterer Schritt, der der Demokratie, der Transparenz und der politischen Diskussion in China den Weg bereiten kann.
Weil diese Transparenz in China noch nicht erreicht ist, haben sich viele Länder gegen China als Austragungsnation der Spiele ausgesprochen: Unter anderen die USA und das Europäische Parlament.
Fülling: Die Chinesen haben wenig Verständnis für solche Beschlüsse. Die Menschen in China, mit denen ich diskutiert habe, freuen sich auf die Spiele. Sie hoffen, dass Olympia 2008 Teil eines Prozesses sein wird, der hilft, die Missstände in China nach und nach zu beseitigen.
Wie beurteilen Sie die Veränderung der politischen Lage in Tibet?
Fülling: Auch wenn es dem von der westlichen Presse vermittelten Bild widerspricht, fielen die ersten Reaktionen auf die Demonstrationen in Lhasa zu Beginn weitaus besonnener aus als früher. Dass allein zeigte zumindest den politischen Willen, auch in Tibet mehr Freiheiten zuzulassen. Die Mönche in Tibets Hauptstadt Lhasa konnten vom 10. März an vier Tagen unbehelligt demonstrieren und dabei auch Forderungen nach Unabhängigkeit äußern. Was die Behörden vermutlich zu der Zeit nicht wussten, war dass tibetische Organisationen im Januar 2008 bereits die Errichtung eines "Tibet People’s Uprising Movement" angekündigt hatten. Von Anfang an hatten sie also wohl einen Aufstand geplant, um die Olympischen Spiele für ihre Ziele zu nutzen. Die Unruhen gingen dann ja auch von frustrierten städtischen tibetischen Jugendlichen aus, die angesichts einer Fülle sozialpolitischer und soziökonomischer Probleme oft keine Perspektiven sehen. Dass das Einschreiten der Polizei hier rechtens war, kann wohl kaum bestritten werden.
Das klingt, als würde sich auch die Lage in Tibet bessern.
Fülling: Ja, wenn auch sehr viel langsamer als in China selbst. Die Region blüht und man sollte nicht verkennen, dass auch viele Tibeter davon profitieren – vor allem von dem chinesischen Massentourismus nach Tibet. Auch wenn Tibeter es gewiss nicht einfach haben, gewannen sie in den letzten Jahren doch endlich mehr Einfluss und Chancen. Auf tibetischer Seite ist das etwas anders. Dort zeigt der tiefe Graben zwischen alteingesessenen Exiltibetern in Indien und später hinzugekommenen Flüchtlingen – die beide weltanschaulich in völlig verschiedenen Welten leben – dass die tibetische Gesellschaft hochkomplex ist und dass die tibetischen Verhältnisse bei Weitem nicht so einfach erklärbar und durchschaubar sind, wie man sich das bei uns so gerne vorstellt.
Doch nicht alle Menschen profitieren von den Spielen: Das "Zentrum für Wohnrechte und Vertreibung" (COHRE) kritisierte, dass wegen Bauvorhaben im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen Menschen in Peking zwangsumgesiedelt werden. Wie reagieren die Chinesen und Chinesinnen auf die Enteignungen?
Fülling: Die Chinesen sehen die Zwangsumsiedelungen nicht an sich als Problem – ganz im Gegenteil! Diese Häuser, die abgerissen werden, sind meist sehr primitive Wohnungen ohne sanitäre Anlagen. Einige meiner Freunde, die schon in solchen Wohnungen gelebt haben, warteten geradezu darauf, dass auch ihr Haus endlich abgerissen wird. Immerhin werden die Bewohner nach der Quadratmeterzahl ihrer Wohnung entschädigt und können sich so eine neue Wohnung leisten.
Werden diese Entschädigungen an alle enteigneten Bürger ausgezahlt?
Fülling: Leider nein. Und genau darin liegt das Problem. Es gibt auch Fälle, in denen korrupte Polizisten die Entschädigungsgelder in die eigene Tasche gesteckt und nicht ausgezahlt haben. Aber trotzdem fordern auch hier die Bürger immer konsequenter ihre Rechte ein. Im letzen Jahr gab es zum Beispiel tausende Tumulte, weil Bürger nach der Umsiedelung nicht entschädigt wurden. Die Öffentlichkeit und die Beamten nahmen Notiz von den Demonstrationen. Für normale Demonstranten gab es keine Sanktionen. Wenn die Botschaft der Demonstranten bei Volk und Politikern angekommen ist, wird es in Zukunft auch weniger Fälle geben, in denen enteignete Bürger nicht entschädigt werden.
Der spektakulärste Neubau für die Olympiade ist das Nationalstadion in Peking von den Stararchitekten Herzog & de Meuron. Aber braucht China denn überhaupt neue Bauten für die Spiele?
Fülling: Ja. Für die Spiele und für ein China nach Olympia 2008 ist besonders der Ausbau der Infrastruktur wichtig, da die Chinesen in den letzten Jahren ungeheuer mobil geworden sind. Beispielsweise die, wenn auch umstrittene, Tibeteisenbahn, die von Peking bis zum Fuße des Mount Everest reicht. Das Geld für den Bau der Bahn hätte sicher auch für sinnvollere Projekte verwendet werden können. Aber Touristen, die für die Spiele anreisen, können so flexibel durch das Land reisen. Und auch Einheimische nutzen die schnellen Verkehrsverbindungen, um zu den Wettkämpfen zu reisen.