Oliver Kahn

Wenn ich morgens aufstehe und überall die Schmerzen spüre, geht die Wehmut ganz schnell weg.

Ex-Torwart Oliver Kahn über seinen Job als ZDF-Fußballexperte bei der WM 2010, Sicherheit in Südafrika, Kritik an der Eventisierung des Sports, mögliche Titel-Favoriten und warum er nie mehr ins Tor zurückkehren wird

Oliver Kahn

© ZDF

Herr Kahn, bei der WM 2010 sind Sie als ZDF-Fußballexperte im Einsatz. Haben Sie eigentlich einen Presseausweis?
Kahn: Nein, den habe ich noch nicht (lacht). Die Experten sind ja irgendwo in der Grauzone anzusiedeln, obwohl mein Ansatz schon ein sehr journalistischer ist. Bei mir geht’s schon darum, sehr sachlich, fachlich und neutral Dinge zu bewerten und den Menschen einen Mehrwert zu liefern – in dem Sinne, dass ich ihnen versuche ein paar Dinge zu zeigen, die sie so vielleicht noch nicht gesehen haben oder die sie am Fernsehschirm so nicht erkennen können. Ich habe ja während meiner aktiven Zeit einige Weltmeisterschaften erleben dürfen und kann Situationen auf dem Platz, denke ich, schon sehr gut einschätzen. Der Zuschauer kann dann für sich entscheiden, wie er die Situationen sehen will. Das ist ja die Kontroverse, die dann entsteht, und dem Fußball auch ganz gut tut.

Wie bereiten Sie sich auf Ihre Expertenrolle vor?
Kahn: Als aktiver Spieler habe ich mich natürlich etwas anderes vorbereitet – das fing wesentlich früher an und war auch etwas schweißtreibender (lacht laut). Jetzt als Experte informiere ich mich komplett über alle Mannschaften, alle Spieler, die Trainer und eben alles was den Fußball im Moment bestimmt. Ich versuche mir davon ein genaues Bild zu machen. Den Rest lasse ich einfach nur auf mich zukommen, um dann viele Dinge aus meiner Erfahrung heraus zu beurteilen.

Die WM 2010 ist Ihre erste WM als Experte. 2006 waren Sie noch im Kader dabei. Glauben Sie, dass da während der Spiele so etwas wie Wehmut aufkommen wird?
Kahn: Nein, das glaube ich nicht. Schon wenn ich morgens aufstehe und überall die Schmerzen spüre,, geht die Wehmut ganz schnell weg. Mein Karriereende ist inzwischen zwei Jahre her und ich habe inzwischen eine gewisse Distanz gefunden. Es gibt natürlich immer mal Momente, wo du denkst, da wärst du schon gerne noch mal dabei, aber das geht dann auch relativ schnell wieder weg. Letztendlich bin ich froh über die vielen anderen spannenden Aufgaben, die auf mich warten. Zum Teil haben die natürlich auch noch mit Fußball zu tun, aber eben nicht nur.

Könnten Sie sich denn vorstellen, auch mal Spiele zu kommentieren?
Kahn: Nein, mein Ansatz ist es nicht, da jetzt tiefer einzusteigen, zu moderieren oder zu kommentieren. Die Rolle als Experte macht mir Spaß, aber dabei belasse ich es dann auch.

Inwiefern versuchen Sie auch gerade Frauen stärker für den Fußball zu begeistern?
Kahn: Unter den Zuschauern in der Allianz Arena, habe ich mir sagen lassen, sind mittlerweile 40 Prozent Frauen. Das zeigt natürlich das große Interesse. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob es denen wirklich um Taktiksysteme geht, oder mehr um die neuen Frisuren der Spieler. Vielleicht geht es ihnen auch einfach nur um die Stimmung, um das Event. Ich glaube da ist von allem ein bisschen was dabei. Weil ich als Experte aber natürlich sehr viel über Taktik und Spielphilosophien sprechen muss, wird es schwer, die Frauen dafür zu begeistern. Schau’n wir mal wie das läuft – wünschenswert wäre es natürlich. Unter den Frauen gibt es ja mittlerweile auch viele Experten, zum Beispiel meine Kollegin Katrin Müller-Hohenstein, mit der ich ja in Südafrika gemeinsam vor der Kamera stehe.

Wo Sie das Eventhafte am Fußball ansprechen – ist es für Sie manchmal zu viel Entertainment beim Fußball und zu wenig Sport?
Kahn: (überlegt) Nein, ich glaube die Mischung ist das Entscheidende. Der kommerzielle Aspekt muss mit den Werten und der Basis des Sports kombiniert werden. Natürlich gibt es immer wieder Exzesse, wo man sich fragt, ob man die wirklich braucht, aber ich glaube noch befinden wir uns in so einer Situation, in der der Sport trotz der Eventisierung immer noch im Mittelpunkt steht. Wenn man nach Amerika schaut – da könnte man bei so manchen Sportereignissen schon eine andere Meinung bekommen, wenn wir nur an den Superbowl denken.

Aber viele Fans, gerade beim FC Bayern München, kritisieren die zunehmende Verkommerzialisierung des Vereins. Es würde eigentlich nur noch darum gehen, möglichst viel Geld aus den Fans rauszuziehen, und auch die Stimmung im Stadion sei schlecht…
Kahn: Nein, das glaube ich nicht. Der Ansatz ist es nicht, möglichst viel Geld aus den Fans rauszuziehen, sondern um den Fußball herum eine große Dienstleistung anzubieten, die der Fan dann nutzen kann oder eben nicht. Da wird ja keiner zu gezwungen. Du kannst heute ins Stadion kommen, kannst dir weiterhin deine Bratwurst kaufen, das Spiel ansehen und dann wieder heimgehen. Aber es gibt natürlich auch andere Interessensgruppen, die das vielleicht ein bisschen anders sehen. Keiner muss sich da verkommerzialisieren lassen.

Es gibt diese legendäre Rede von Uli Hoeneß auf der Jahreshauptversammlung des FC Bayern im November 2007, in der er sagte: „Wer glaubt ihr eigentlich, wer euch finanziert? Das sind die Leute in der Loge, denen wir das Geld aus der Tasche ziehen (…) Und wer lässt euch denn für 7 Euro in die Südkurve?“…
Kahn: Ja, genau das ist es. Das ist das Argument. Wenn man sich die Preispolitik bei Bayern München, gerade für die Nord- und Südkurve ansieht, dann ist das schon sehr, sehr sozial. Da werden so gut wie nie irgendwelche Preiserhöhungen durchgeführt. Nur ist es ja so: Auf der einen Seite wollen die Fans den FC Bayern München in der Champions League siegen sehen, auf der anderen Seiten wehren sie sich, also nicht die Fans, sondern Teile der Fans, gegen eine weitere Kommerzialisierung des Vereins. Das geht natürlich nicht. Wenn du heute konkurrenzfähig sein willst, dann musst du eben diese Sitzplatz-Logen und Business-Seats verkaufen, um einfach diese Einnahmen zu haben. Und natürlich musst du dann auch im Sponsoring eine gewisse Rolle spielen. Wenn das alles nicht wäre, dann möchte ich mal sehen was dann los wäre. Man muss dass sehr differenziert sehen.

Was halten Sie denn von der Preispolitik der FIFA bezogen auf die WM in Südafrika? Fakt ist ja, dass sich viele Südafrikaner den Eintritt nicht leisten können…
Kahn: Ich stecke jetzt nicht so genau in der Preispolitik der FIFA drin. Ich weiß nur, dass es vor jeder Welt- und Europameisterschaft immer Diskussionen gibt – um Karten, um zu viele Karten, zu wenige Karten und zu teure Karten. Wenn dann die WM oder die EM gelaufen ist, ist das alles vergessen. Da waren dann unheimlich viele Fans im Stadion, Fans mit Fahnen und super Stimmung. Auf einmal waren diese Probleme gar nicht mehr gegeben, die jedes Mal vorher angesprochen worden sind. Ich weiß auch gar nicht, ob es die tatsächlich gibt, oder ob die nicht irgendwo konstruiert werden.

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Wenn du heute konkurrenzfähig sein willst, dann musst du eben diese Sitzplatz-Logen und Business-Seats verkaufen

Oliver Kahn

Ein anderer Aspekt ist die Sicherheit in Südafrika. Wie sehen Sie das?
Kahn: Der Sicherheitsaspekt ist schon auch ein Problem, aber wenn jemand irgendetwas machen möchte, dann wird er das auch schaffen, egal wie hoch die Sicherheitsvorkehrungen sind. Ich persönlich habe es auch abgelehnt, mich ständig nur in einem Schutzpanzer zu bewegen. Die Menschen in Südafrika freuen sich auf dieses Fest, die Emotionen werden hochschlagen. Das ist einfach immer dieses typische Problemdenken. Ich will jetzt gar nicht sagen, dass nur die Deutschen da so problembehaftet sind. Es gibt aber einfach auch viele, viele schöne und gute Aspekte, die da auf uns zukommen. Was wurde nicht alles vor der WM 2006 diskutiert, was da alles nicht klappen sollte, und die Stadien würden halb leer sein. Das habe ich anschließend anders erlebt. Und noch mal bezogen auf die Ticketpreise: Bei der FIFA sitzen ja keine Deppen. Die werden schon eine Preispolitik auffahren, die es allen Menschen ermöglichen wird, Tickets zu kaufen. Da gehört natürlich auch jede Menge Glück dazu. Aber an den Preisen wird es wohl nicht scheitern.

Kommen wir noch mal auf das Sportliche zurück: Wie schätzen Sie die Chancen der deutschen Nationalmannschaft in Südafrika ein?
Kahn: Die Kombination aus jüngeren und älteren erfahrenen Spielern ist im Moment optimal. Viele haben ja schon Welt- und Europameisterschaften gespielt, und ich denke diese Mixtur eröffnet durchaus die Möglichkeit, in diesem Turnier sehr weit zu kommen. Das ist nicht einfach so dahin gesagt. Wir sind Dritter geworden bei der WM 2006, Zweiter bei der EM 2008, also Vize-Europameister – warum sollten wir uns verstecken? Wir formulieren diese Ziele immer klar. Die Mannschaft, die da anreist, möchte Weltmeister werden. Die reist ja nicht nur an, um bei der WM mitzuspielen.

Wenn über die Titel-Favoriten gesprochen wird, wird sehr selten Titelverteidiger Italien genannt. Warum?
Kahn: Ich glaube, dass man so das Gefühl hat, dass die Italiener nach dem WM-Gewinn 2006 in so eine Saturiertheit hineingekommen sind – ob die da noch mal so eine Energieleistung bringen können? Ich bin da skeptisch. Sie haben sich in der ganzen Qualifikation auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Aber trotzdem muss man da vorsichtig sein. Man muss Italien erst mal schlagen. Aber ob sie wirklich noch mal den Titel holen können? Ich weiß nicht.

Wen sehen Sie denn als Favoriten?
Kahn: Ich sehe die Italiener und die Franzosen so ein bisschen ähnlich. Beide haben gerade einen kleinen Durchhänger, sind aber trotzdem immer fähig, bei einer Weltmeisterschaft was zu reißen. Ein bisschen stärker sehe ich die Spanier, die bei der EM 2008 sensationell gespielt haben. Die Frage ist natürlich, ob sie das bestätigen können. Ich sehe die Deutschen auch in einer hoch motivierten Situation. Immer Zweiter, Dritter, dann wieder Zweiter – es wird jetzt mal Zeit, dass die Mannschaft wieder diesen Titel holt. Dann die Südamerikaner: Argentinien und Brasilien werden auch immer brisant sein, werden immer eine Rolle spielen. Auch die Afrikaner darf man nicht unterschätzen, die machen ihre eigene kontinentale Meisterschaft. 2002 waren es die Koreaner, die mit einem unglaublichen Fußball ins Halbfinale vorgestoßen sind. Diesmal können es die Afrikaner sein. Das motiviert ja unheimlich. Die wollen zeigen: Wir sind die beste afrikanische Mannschaft und vielleicht ja auch die beste Mannschaft der Welt. Das wird sie ohne Ende antreiben.

Sie schätzen die deutsche Mannschaft sehr hoch ein. Glauben Sie denn, dass in der Vorrunde Stolpersteine lauern könnten? Deutschland spielt noch gegen Serbien und Ghana.
Kahn: Die Vorrunde ist immer das Schwierigste, das Unangenehmste, weil dort das höchste Blamage und Katastrophenpotential liegt. Wenn du da nicht weiterkommst, fährst du heim, und da geht’s dann richtig los. Da wird dann der ganze deutsche Fußball auseinander genommen, da ist nur Theater, und du hast auch keinen ruhigen Urlaub mehr. In der Vorrunde ist immer viel Anspannung drin. Später kannst du ja nur noch gewinnen. Ghana ist eine afrikanische Mannschaft, die wahnsinnig motiviert sein wird. Und gegen die Serben haben wir immer schon Probleme gehabt. Die spielen technisch hervorragenden Fußball. Das wird nicht leicht.

Wer könnte in Ihren Augen der Top-Star dieser WM werden?
Kahn: Interessant ist ja immer zu sehen, wer von den Top-Stars dem Druck gerecht wird und wer nicht. Ein Messi, ein Ronaldo, ein Ribéry – können die diese Leistung bringen, die man von ihnen aus Europa kennt, und die man natürlich auch bei einer WM von ihnen erwartet, schaffen die das? 1990 gab es Toto Schilacci – den hat kein Mensch gekannt. Aber auf einmal kam der an, hat ein Tor nach dem anderen geschossen, danach ward er nie mehr gesehen. Diese One-Hit-Wonder gibt es auch im Fußball. Aber Prognosen abzugeben ist unmöglich.

Wenn man sieht, mit welcher Leidenschaft Sie über den Fußball sprechen, fällt es schwer zu glauben, dass die angesprochene Distanz zum Geschehen auf dem Platz wirklich so groß ist. Möchten Sie nicht insgeheim doch wieder zurück ins Tor?
Kahn: Nein, wirklich nicht. Ich habe jetzt diese zwei Jahre Distanz, und das ist gut so. Allein schon dieses Gefühl, wenn das Spiel beginnt, da sage ich zu mir selbst: „Gott sei Dank musst du jetzt nicht spielen!“ Dieses Gefühl sagt mir schon sehr viel. Ich will nicht mehr aufs Feld. Ich habe dass 20 Jahre gemacht, davon 14 Jahre in der Nationalmannschaft. Das reicht einfach. Dann hat man alles gesehen, alles erlebt, und alles sehr emotional. Natürlich gibt es Momente im Stadion, die man dann gerne noch mal hätte, bei einem Sieg oder so, aber das ist so ein kleiner Ausschnitt von dieser ganzen Geschichte: Training, sechs Wochen Turnier, die Monotonie, das Leben im Hotel – man glaubt immer, das wäre so toll für die Spieler, aber das ist eine maximale Anstrengung.

Was meinen Sie mit Monotonie?
Kahn: Wenn du Ersatzspieler bist und nicht oft oder gar nicht zum Einsatz kommst, ist das schon eine sehr monotone Geschichte. Ich meine, was tust du denn da? Du stehst der Presse zur Verfügung, du gehst Mittagessen, du gehst ins Training, du gehst Abendessen, du setzt dich vor den Fernseher, liest ein Buch- und das sechs Wochen lang. Du kannst ja nichts machen. Du musst ja immer auf deinen Körper achten. Du musst ja immer fit sein. Du kannst nicht nachts durch die Bars ziehen. Wobei man das früher auch mal gemacht hat, was sicherlich auch nicht so schlecht war, aber gerade in Südafrika, wo dann noch das Problem mit der Sicherheit hinzukommt – das wird sicherlich für viele nicht einfach werden. Ob man da so einfach das Hotel verlassen kann, wie das in Deutschland der Fall war, wage ich schon sehr zu bezweifeln.

Haben Sie selbst denn mal so etwas wie einen Lagerkoller erlebt? Bei der WM 2006 waren Sie ja selbst zum Zuschauen verdammt.
Kahn: Nein, ich hatte immer so eine innere Disziplin, mit der ich mich aufraffen konnte.  Ich habe das wie so einen Feldzug betrachtet. Ich habe mir gesagt – so, jetzt ziehe ich das gnadenlos durch, habe meine Sachen dabei, meinen Computer, meine Bücher, mit denen ich mich weiter bilde, dann gehe ich zum Training, entspanne danach wieder, pflege meinen Körper. Es gibt immer etwas was man tun kann. Man muss nur ein bisschen selbstständig sein.

Spielen Sie Fußball auf der Xbox oder der PlayStation?
Kahn: Ich persönlich spiele es nicht. Ich habe dem nie so viel abgewinnen können. Da gibt es aber eine ganz interessante Aussage von Lionel Messi, der ein großer Fan dieser Spiele ist. Er spielt sich auf der Konsole immer selbst und sagt, er sei dadurch wirklich besser geworden. Das habe ich in einem Buch gelesen und konnte das gar nicht glauben. Er sagt, dass er auf der PlayStation Situationen mit sich selber durchspielt, die er dann auf dem Feld selbstständig nachspielt. Das Gehirn lernt ja auch auf diese Art und Weise, also auch virtuell, kann sich das merken und spielt es dann komischerweise auch in der Realität wieder ab. Ihm helfen diese Spiele auf jeden Fall. Das finde ich hochinteressant.

In einem Interview sagte Messi kürzlich auch, dass er sich selbst sehr wenige Fußballspiele ansieht. Können Sie das nachvollziehen?
Kahn: Ja, so eine Phase hatte ich auch. Ich habe nur noch Fußball gespielt, aber nicht mehr geschaut. Den Grund dafür kann ich gar nicht so genau erklären. Irgendwie zieht man sich ein bisschen in sich selbst zurück, will sich nicht ablenken lassen – aber vielleicht hat man’s einfach auch satt. Vielleicht kann man sich auch selbst überfrachten. So war es bei mir der Fall. Darum habe ich auch aufgehört. Der Druck, der damals von außen kam, und den ich mir natürlich auch selber gemacht habe, ist heute mit nichts mehr zu vergleichen. Den will ich auch nicht mehr haben. Das ist Geschichte.

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